Georgien: Geschlechtergleichheit aus der Tradition begründen

Lesedauer: 4 Minuten
Kartlis Deda Statue in Tiblissi.
Teaser Bild Untertitel
Kartlis Deda Statue in Tiblissi

Geschlechterdemokratie: Mit Beginn der Transformation Georgiens war auch eine selektive Rückbesinnung auf Tradition, Religion und Geschichte verbunden, die zu Lasten der Gleichberechtigung der Geschlechter ging.

«Bei uns werden doch die Männer auf Händen getragen» – das war das Fazit einer georgischen Frau bei einer Veranstaltung des Südkaukasus-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi. Kurz und bündig hatte sie den Stand der Geschlechterbeziehungen in Georgien zusammengefasst. Dabei hatte die Sowjetunion stolz für sich in Anspruch genommen, «die Frauenfrage» so gut wie gelöst zu haben, weil die allermeisten Frauen berufstätig waren und ein gehöriger Anteil öffentliche Ämter hatte. Doch mit Beginn der Transformation Georgiens war auch eine selektive Rückbesinnung auf Tradition, Religion und Geschichte verbunden, die zu Lasten der Gleichberechtigung der Geschlechter ging.

Politische Partizipation von Frauen ist auch in relativ liberalen Kreisen ein marginalisiertes Thema. Geschlechterdemokratie wird zwar seit Jahren als politisches Ziel in von Parlament und Regierung verabschiedeten Dokumenten bekräftigt, aber sie wird weder ernst genommen noch in praktische Politik umgesetzt. In der Bevölkerung sind traditionelle Vorstellungen von Wesen und Rolle der Geschlechter so weit verbreitet, dass von dort kein Druck entsteht.

Die mit den internationalen Organisationen seit den neunziger Jahren ins Land gekommenen „Gender“-Debatten und -Förderprogramme haben viele Georgierinnen und Georgier derart überrumpelt, dass sie als vom „Westen“ aufoktroyiertes, „fremdes“ Gedankengut wahrgenommen und abgelehnt werden.

Dabei hatten Frauen Georgiens schon vor Eingliederung in die Sowjetunion Kontakt zu europäischen Frauen und ihrem gesellschaftspolitischen Engagement. So motiviert, betrieben sie selbst Schulen für Frauen und Mädchen und schlossen sich in Organisationen zusammen. Ganz Wagemutige haben damals schon in der Schweiz oder Paris studiert und nach der Rückkehr in die Heimat sich feministisch engagiert.

An Pionierinnen wie sie knüpft die Heinrich-Böll-Stiftung mit ihrem Projekt „50 Frauen aus Georgien“ an. Postkarten erzählen in Wort und Bild vom Leben bekannter, weniger bekannter und ganz unbekannter Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts. Unter den Portraitierten ist auch die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die viele Jahre in Georgien gelebt hat.

Acht Frauen und zwei Männer, darunter vier ehemalige Stipendiatinnen der Stiftung, haben die Frauen ausfindig gemacht, ihr Leben recherchiert, ihre Verdienste analysiert und kurze Biographien vorbereitet. Dazu haben sie Archive, Museen und Forschungseinrichtungen besucht und mit den Familien Kontakt aufgenommen.

Dass diese Art der Herangehensweise – das eigene Erbe zu entdecken statt mit Vorgaben der Geberorganisationen behelligt zu werden – gewürdigt wird, zeigte die Präsentation der Postkarten im Parlament des Landes in Kutaissi, zu der 50 Personen kamen. Das Parlament selbst hat nur 18 weibliche Abgeordnete, und die kämpfen keineswegs alle für die Gleichberechtigung. Zum Abend im schönen Haus des Schriftstellerverbandes kamen sogar 100 Gäste: Neben den Vorträgen lasen dort sechs Poeten Gedichte von drei Lyrikerinnen aus der Gruppe der 50 Frauen. Die Präsentation stand unter dem Motto: Manifest von 50 Feministinnen. Wer kultursensibel vorgeht, muss deswegen nicht kleinlaut sein.
 
Von jeder Postkarte wurden 500 Exemplare gedruckt, weitere ausführliche biografische Informationen sind online auf der Website des Südkaukasus-Büros zugänglich. Um die Kenntnisse über diese Frauen zu verbreiten und an die von ihnen begründete Arbeit anzuknüpfen, wurden Expertinnen und Aktivistinnen unter Vertrag genommen, die sieben Vorträge über bestimmte Aspekte des Feminismus in Georgien ausarbeiten und in west- und ostgeorgischen Städten wie Osurgeti, Kutaisi, Batumi, Telawi, Gori und in der Hauptstadt Tbilisi präsentieren sollten. Wieder sind zwei Stipendiatinnen der Stiftung dabei. Die Lektionen, wahre Pionierarbeiten, finden jeweils ein kleines, aber interessiertes Publikum, über die lokalen Medien erfahren auch die örtlichen Leserinnen und Hörer etwas von dieser weitgehend vergessenen Geschichte ihres Landes. Alle sieben Lektionen sind inzwischen unter dem Titel „Wer hat Angst vor dem Feminismus in Georgien?“ auch als Buch bereits in der 2. Auflage auf feinem Papier zu haben. Zu fünf Lektionen reiste ein Filmteam mit, daraus entstand ein 44-minütiger Film. Nach einer selbstkritischen Auswertung dieses sorgfältig geplanten und umsichtig organisierten Projekts wurden inzwischen auch in Armenien Lektionen durchgeführt.

Um die Rolle der georgischen Frauen in der Kultur und Geschichte Georgiens zu würdigen, zeigte das georgische Außenministerium mit den Materialien Fotoausstellungen in den europäischen Städten Berlin, Brüssel, Paris, Stockholm und Genf. Die erste, von der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg initiierte Ausstellung, fand bereits zum internationalen Frauentag 2014 im Stuttgarter Rathaus statt. Mit der Ausstellung im Präsidentenpalast in Tbilisi wurde am 10. November 2015 die hochrangige Konferenz “Achieving Gender Equality – Challenges and opportunities in the European Neighbourhood Policy Region” in Anwesenheit von Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik eröffnet.

..........
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Für Demokratie - Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt" und wurde im Rahmen der gleichnamigen Publikation erstellt.

Mehr zum Thema:
» Katalog zur Ausstellung im Stuttgarter Rathaus

» Film “Who is Afraid of Feminism in Georgia?”

» Biographie – 50 Frauen aus Georgien