Von der Einzigartigkeit zur Staatsräson

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Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin

Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland glichen häufig zwei Monologen: Die einen sagten "Nie wieder Krieg", die anderen "Nie wieder wehrlos". Dass sich die Kontakte dennoch so gut entwickelt haben, grenzt an ein Wunder.

Konrad Adenauer wünschte sich, durch das Luxemburger Abkommen 1953 "zu einem ganz neuen Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk wie auch zu einer Normalisierung der Beziehungen" zu gelangen. Willy Brandt prägte während seines Israelbesuches im April 1973 die Formulierung, "normale Beziehungen mit einem besonderen Charakter". Helmut Kohls Regierungssprecher Peter Boenisch meinte, dass die Beziehungen sich nicht auf Auschwitz beschränken sollten.

Seitdem hat sich die deutsche "Temperaturprüfung" der Beziehungen auf eine sachlichere Ebene verlagert. Angela Merkel hat bei ihrem Israelbesuch 2008 das Eintreten für die sichere Existenz Israels als deutsche Staatsräson definiert und als Joachim Gauck das Land 2012 besuchte, betonte er, dass die Existenz Israels für die deutsche Politik "bestimmend" sei.

Ungeachtet der Motive für die ständige Temperaturprüfung auf deutscher Seite fällt eine Einschätzung der Beziehungen nach 50 Jahren eindeutig positiv aus. Die politischen Kontakte haben sich im Laufe der Jahre trotz Rückschlägen gut entwickelt, und zwar nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union. Ebenso positiv fällt die Bilanz der Sicherheitszusammenarbeit und militärischen Kontakte aus und die Entwicklung der wirtschaftlichen sowie wissenschaftlichen Beziehungen ist mehr als zufriedenstellend.

Schuld und Versöhnung

Der Schatten eines zivilisatorischen Bruchs wie der Shoah scheint indes immer noch lang. Die schier obsessive Intensität, mit der man sich auf deutscher Seite bemühte, Normalität zu beschwören, wirkte bisweilen eher wie ein Versuch, sich von der Schuld freizumachen. Doch schwingt angesichts der Schwierigkeit jüdischerseits, Vergebung zu erteilen, auch Unverständnis mit.

Die Rollenverteilung zwischen Opfer und Täter ist noch immer eindeutig. Oft werden zwei Monologe gehalten, die auf unterschiedlichen kollektiven Erfahrungen basieren, wobei auch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Bei Deutschen dominiert die Lehre "Nie wieder Krieg", während bei Israelis die Erkenntnis "Nie wieder wehrlos" lautet. Dies bedeutet nicht, dass auf der sachlichen Alltagsebene keine Verständigung möglich ist.

Adenauers Schuldbekenntnis und seine Bereitschaft, sich der moralischen Verantwortung und materiellen Wiedergutmachung zu stellen, fand in den 1950er Jahren wenig Zuspruch in der deutschen Öffentlichkeit. In der frühen Bundesrepublik waren nostalgische Einstellungen zur Nazizeit weit verbreitet, verbunden mit einem latenten, aber stabilen Antisemitismus, der leider Bestandteil der deutschen Seelenlandschaft blieb. Aus realpolitischen, aber auch moralischen Überlegungen war es Adenauer wichtig, diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufzunehmen.

In der Tat wollte die deutsche Seite die Aufnahme der Beziehungen mit dem Luxemburger Abkommen von 1953 verknüpfen. Dieser Vorschlag war für Israel jedoch moralisch inakzeptabel. Aus realpolitischen Überlegungen schlug Israel schließlich in der zweiten Hälfte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre vor, diplomatische Beziehungen aufzunehmen – und wurde nun zurückgewiesen. Im Mai 1965 "stolperte" die Bundesrepublik gewissermaßen in die Beziehungen mit Israel hinein. Im Mittelpunkt der bundesdeutschen Nahostpolitik standen damals die Hallstein-Doktrin und die Aufrechterhaltung der deutschen Interessen im arabischen Raum. Israel spielte eine untergeordnete Rolle. Seitdem haben sich allerdings alle deutschen Politiker und Regierungen kontinuierlich zum Existenzrecht Israels und zur Sicherheit des Staates bekannt.

Jedes Jahrzehnt eine Vertrauenskrise: Die Regierungsebene

Kurz nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Israel setzte sich die damalige Bundesregierung im Jahr 1966 das Ziel, eine ausgewogene Nahostpolitik zu betreiben, um den eigenen Einfluss in der Region auszubauen. Das bedeutete, sich trotz der historisch-moralischen Verpflichtung nicht einseitig für Israel einzusetzen, sondern die deutschen Interessen auch im arabischen Raum zu wahren. So wurde in der politischen Praxis 1973 etwa die Verladung von US-Waffen, die von Bremen nach Israel verschifft werden sollten, unterbunden. Seit dem Ölschock im selben Jahr begann die deutsche Politik, sich im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft auch für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser auszusprechen. Damit wurde eine deklaratorische Ausgewogenheit aufrechterhalten.

Jene Nahostpolitik scheint in gewisser Weise einem Nullsummenspiel zum "Opfer" gefallen zu sein: Denn solange der arabisch-israelische Konflikt nicht beigelegt ist, können Schritte für die eine Seite als Schritte gegen die andere interpretiert werden. Dennoch ist die Bilanz auf der praktischen Ebene der bilateralen Beziehungen eindrucksvoll. Der deutsche Beitrag fiel zunächst aus verständlichen Gründen wesentlich größer aus. Die Zusammenarbeit intensivierte sich und war auch für Deutschland von großem Nutzen – sei es im verteidigungspolitischen Bereich oder im Hochtechnologie-Sektor. Doch führte hier der deutsche Versuch, die eigenen Nahostinteressen durchzusetzen, zu Unmut bei den Israelis, weil in ihrer historisch bedingten Erwartungshaltung inbegriffen ist, dass Deutschland Israel durch seine Politik nicht gefährdet.

Im Rückblick auf die Beziehungen werden die Konturen eines Musters erkennbar, demzufolge jedes Jahrzehnt von einer Vertrauenskrise heimgesucht wurde. Auslöser in den 1950er Jahren waren die Reparationszahlungen, die nur eine schmale Unterstützung in Deutschland fanden – was die israelische Seite wiederum enttäuschte. In den 1960er Jahren waren es die deutschen Ingenieure, die Ägypten zur Raketenentwicklung verhalfen. In den 1970er Jahren war es die Unterbindung der US-Waffenlieferungen aus Deutschland während des Jom-Kippur-Krieges. In den frühen 1980er Jahren war es der deutsche Plan, Panzer an Saudi-Arabien zu verkaufen. In den 1990er Jahren waren es die deutschen Firmen im Irak des Saddam Hussein, die in die Entwicklung chemischer Waffen verstrickt waren.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts waren es die unerfüllten deutschen Erwartungen an Israels Regierung, den Friedensprozess weiter zu betreiben. Und im aktuellen Jahrzehnt ist es die Gewaltanwendung Israels gegen die Palästinenser, die zu Unmutswellen in Deutschland führte. Bis 2000 waren die meisten Vertrauenskrisen auf die Enttäuschung israelischer Erwartungen zurückzuführen, da realpolitischer Nutzen die moralischen Verpflichtungen ins Hintertreffen geraten ließ. Bei den Krisen im 21. Jahrhundert ist es bislang andersherum: Das israelische Verhalten hielt den deutschen Erwartungen nicht stand.

Zivilgesellschaftliche Ebene

Langfristige bilaterale Beziehungen, die noch dazu ausbaufähig sind, stehen auf zwei Pfeilern – dem politischen und dem zivilgesellschaftlichen. In der Zivilgesellschaft waren es auf beiden Seiten die "Eingeschworenen", die aus unterschiedlichen Gründen einen Beitrag leisteten, um Brücken über den historischen Abgrund zu errichten. Der Jugendaustausch und die Städtepartnerschaften sind zukunftsweisend konzipiert worden und waren wichtige Säulen beim Aufbau der intensiven Beziehungen. Nur waren es auf beiden Seiten nicht allzu viele Eingeschworene und die Themen Israel und Juden blieben für eine Mehrheit der Deutschen keine Herzensangelegenheiten.

Jedoch gab es auch Jahre der großen Begeisterung für Israel, wie zum Beispiel unmittelbar nach dem Sechstagekrieg 1967. Heute hingegen kann die öffentliche Meinung in Deutschland zu Israel als indifferent und eher negativ beschrieben werden. Laut Meinungsumfragen scheint die Einstellung der deutschen Bevölkerung seit der ersten Intifada 1987 von der jeweiligen israelischen Regierungspolitik gegenüber den Palästinensern geprägt zu sein.

Die israelische Politik spielt auch bei der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit eine zentrale Rolle. Bei dem Versuch, sich von eigenen Schuldgefühlen zu entlasten, ist es für manche nämlich hilfreich, auf Israels Verhalten hinzuweisen und vereinfachend zu konstatieren, dass auch Opfer bisweilen zu Tätern werden können. Was die öffentliche Meinung in Israel über Deutschland angeht, zeichnet sich in den letzten Jahren eine klare Tendenz für eine normalisierte Haltung ab und insbesondere Berlin übt auf junge Israelis seit kurzem große Anziehungskraft aus. Jedoch ist in beiden Ländern ein Gefälle zwischen der öffentlichen Meinung und den politischen Verantwortungsträgern zu verzeichnen. Es scheint, als ob die deutsch-israelischen Beziehungen ein Projekt der Eliten seien, die vor allem aus einer historisch-moralischen Verpflichtung heraus agieren.

Staatsräson und Erinnerung

Was die Beziehungen einzigartig macht, ist die Shoah beziehungsweise die Erinnerung daran als Staatsräson. Der Herausgeber der "Zeit", Josef Joffe, sagte 2008 in einer Rede zum 60-jährigen Bestehen Israels:

"Diese Staatsräson ist zwar eng mit Israel verknüpft, aber Israel ist nur ein Teil davon. Diese Räson geht weit über Israel hinaus, sie ruht, wie die Republik selber, auf einem ‚Narrativ‘, das die Erinnerung verinnerlicht hat, das heilighält, was Nazi-Deutschland geschändet hat. Man darf es auf einen Imperativ reduzieren: ‚Nie wieder‘. Nie wieder wollen wir sein, was wir einmal waren. Zu diesem Narrativ gehört auch Israel, aber nicht wegen Israel, sondern wegen Deutschland."

So bleiben Israel und die Juden ebenso ein Bestandteil der deutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität wie es umgekehrt Deutschland und die Shoah für die israelisch-jüdische sind.

Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang Erinnerung – und die hat im Gegensatz zur Realpolitik mit Gefühlen zu tun, mit Trauer, Freude, Schuld oder Dank. Solche Kategorien bestimmen normalerweise nicht die Beziehungen zwischen Staaten, doch lassen sie sich aus dem Verhältnis zwischen Deutschland und Israel nicht wegdenken. Interessen – und erst recht Erinnerung – sind Dinge, die sich ändern. Insofern bleibt es spannend, wie künftige Generationen mit Fragen der Erinnerung und Identität umgehen werden.

Angesichts des wachsenden zeitlichen Abstandes zum Zweiten Weltkrieg, des Abschieds von Zeitzeugen und der sich verändernden Erinnerungskultur ist aber zu befürchten, dass die Einzigartigkeit der deutschen Geschichte durch den sich wandelnden Charakter der Debatte heruntergespielt wird. Man kann nur erahnen, welche grundlegenden Folgen dieser Prozess haben und wie er die deutsch-israelischen Beziehungen beeinflussen könnte.

Die Aufarbeitung als tragender Pfeiler

Mit Blick auf den sich verändernden Diskurs sollte gefragt werden, wie die deutsch-israelischen Beziehungen noch ausgebaut werden könnten. Deutschland wird als führendes Mitglied der Europäischen Union ein entscheidender Partner für Israels Zukunft bleiben. Doch wird Israel für Deutschland von Bedeutung sein? Es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass sich das, was in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten herangewachsen ist, auch weiterhin so gut entwickeln wird. Die Aufarbeitung der Shoah als tragender, wenn nicht gar einziger Pfeiler der Beziehungen wird in Zukunft nicht ausreichen. Der Wandel der Erinnerungskultur könnte sich womöglich als Beitrag zur Normalisierung erweisen. Ob diese Entwicklung in Israel konsensfähig sein wird, bleibt abzuwarten.

Trotz aller Schwierigkeiten sollte betont werden, dass es schon einem Wunder gleichkommt, was sich seit der Shoah zwischen Deutschen und Juden ereignet hat. Bereits kurze Zeit nach dem Krieg fanden die ersten Gespräche zwischen Deutschen und Juden statt und Überlebende trafen die Entscheidung, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Sicherlich waren es auch realpolitische Überlegungen, die eine entscheidende Rolle spielten. Und dennoch: Angesichts des Abgrunds, der sich zwischen Deutschen und Juden aufgetan hatte, hätte es zu diesem eindrucksvollen Aufbau nicht unbedingt kommen müssen. Allerdings soll man sich nach einem präzedenzlosen Ereignis wie der Shoah nicht wundern, dass die dunkle Wolke, die uns permanent verfolgt, sich kaum vertreiben lässt. Sie wird uns vorerst noch begleiten, was auch immer geschieht.

Dieser Text erschien zuerst in einer längeren Version in der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" 6/15 der Bundeszentrale für politische Bildung.