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Studie über Pakistans Interessen in Afghanistan: Angst und Vorurteil

Die weitere Entwicklung von Afghanistan hängt nicht unwesentlich von der Rolle seines Nachbarlands Pakistan ab. Eine neue Studie untersucht nun erstmals die Perspektive der politischen Elite Pakistans auf die Lage Afghanistans sowie deren Interessen und Strategien. Das Ergebnis ist desillusionierend. 

Vorgeschobener Militärstützpunkt von Pakistan an der Grenze zu Afghanistan

Die Bedeutung Pakistans für den weiteren Verlauf des unglücklichen westlichen Engagements in Afghanistan wird inzwischen allgemein verstanden. Weitaus weniger klar dürfte den meisten Akteuren sein, was Pakistan überhaupt in Afghanistan will. Diese Lücke versucht jetzt eine Studie zu füllen, die das regierungsnahe Jinnah Institute in Zusammenarbeit mit dem United States Institute of Peace Ende August in Islamabad vorgestellt hat. Das Papier mit dem Titel Pakistan, die Vereinigten Staaten und das Endspiel in Afghanistan: Wahrnehmungen der außenpolitischen Elite Pakistans ist Pflichtlektüre für jeden, der sich mit der Region beschäftigt, besonders in Hinblick auf die bevorstehende Afghanistan-Konferenz im Dezember in Bonn.

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Das Ergebnis ist desillusionierend: Pakistans Ziele und Pläne für Afghanistan sind ebenso unklar und widersprüchlich wie die Washingtons und Berlins. Vor allem hält Pakistan weiterhin an dem problematischen Ziel fest, mitentscheiden zu wollen, wer in Kabul die Regierung stellt. Das ist das Resultat von mehreren Gesprächsrunden und Einzelinterviews mit insgesamt 53 ehemaligen Diplomaten, Militärs, Sicherheitsanalysten, Akademikern und Journalisten, deren Positionen als repräsentativ gelten können für das Denken des pakistanischen Establishments. Zwar sind sich die Befragten keineswegs in jedem Punkt einig. Viele sind sogar überaus kritisch gegenüber der herrschenden Sicherheitsdoktrin, doch sie scheinen nicht daran zu glauben, dass sich an den grundlegenden Linien der pakistanischen Außen- und Sicherheitspolitik, die nach wie vor nicht von der Regierung sondern von der Armee bestimmt wird, etwas ändern lässt.

Die USA, aber auch Deutschland, müssen sich die Frage stellen, welche der pakistanischen Interessen als legitim betrachtet werden können und welche einer friedlichen und stabilen Entwicklung am Hindukusch zuwider laufen.

Die Studie nennt zwei Hauptziele Pakistans in Afghanistan:

  • Eine Lösung für Afghanistan sollte nicht zur Destabilisierung Pakistans beitragen und bei den „pakistanischen Paschtunen“ auf Widerstand stoßen.
  • Die Regierung in Kabul sollte nicht gegen Pakistan arbeiten und es auch nicht zulassen, dass afghanisches Staatsgebiet gegen pakistanische Interessen genutzt wird.

In Pakistans Interesse liegt nach Meinung der Experten daher:

  • eine „relativ stabile“ Regierung in Kabul
  • eine „inklusive“ Regierung mit „adäquater paschtunischer Beteiligung“, die von allen ethnischen und politisch Beteiligten akzeptiert wird
  • sowie eine Beschränkung der indischen Aktivitäten in Afghanistan auf reine Entwicklungshilfe

Diese kurze Liste enthält bereits alle Probleme, die Pakistans Politik gegenüber Afghanistan in den vergangenen Jahrzehnten gekennzeichnet hat. Obwohl kaum noch jemand in Islamabad eine Rückkehr der 90er Jahre mit einer alleinigen Taliban-Regierung in Kabul herbeisehnt, meint Pakistan noch immer, eine freundlich gesinnte Regierung in dem Nachbarland nur dadurch sicher stellen zu können, dass „Paschtunen“ „adäquat“ an der Regierung in beteiligt sind.

Angesichts der Tatsache, dass der gewählte Präsident des Landes, Hamid Karzai, Paschtune ist und es auch nicht an Paschtunen in seinem Kabinett mangelt, stellt sich hier die Frage, welche Paschtunen denn Islamabad gern an der Regierung sähe. Die Antwort gibt die Studie: Eine „Beteiligung der wichtigsten Taliban-Fraktionen“, namentlich Mullah Omars „Quetta Shura“ und dem „Haqqani Netzwerk“ (beide in Pakistan ansässig) sei unerlässlich.

Damit hält Pakistan hartnäckig an der außenpolitischen Schimäre fest, dass die Taliban „die Paschtunen“ repräsentieren. Das trifft aber noch nicht einmal im eigenen Land zu, geschweige denn in Afghanistan. Die (paschtunische) Politikwissenschaftlerin Farhat Taj, Research Fellow an der Universität von Oslo, wirft der Studie des Jinnah-Instituts vor, den Begriff „adäquate paschtunische Beteiligung“ als Maske dafür zu verwenden, dass Pakistan nach wie vor an der militärischen Doktrin der „strategische Tiefe“ in Afghanistan festhält, obwohl dies nach dem „11.September 2001“ nicht mehr politisch korrekt sei. Die Quetta-Schura und das Haqqani-Netzwerk bezeichnet sie als „Randelemente der paschtunischen Gesellschaft“.

In der Tat ist Pakistans Politik seit seiner Gründung von der Sorge bestimmt, dass sich Afghanistans und Pakistans Paschtunen zu einem „Paschtunistan“ zusammen schließen könnten und damit Pakistans staatlichen Zerfall besiegeln würden. Pakistan hat daher stets darauf hingearbeitet, die Paschtunen politisch zu spalten und das Problem durch die Unterstützung radikaler Gruppen wie der Taliban erfolgreich nach Afghanistan exportiert.

Während Islamabad ein legitimes Interesse an der Integrität seines Staatesgebietes und der Stabilität des Nachbarlandes hat, ist der Anspruch, an der Besetzung der Regierung eines souveränen Staates mitzuwirken, abzulehnen. Auch „strategische Tiefe“, ein Konzept, das Afghanistan als sicheres Hinterland für den Fall eines Krieges mit Indien betrachtet, mag aus Sicht der Armee wünschenswert sein – ist allerdings wenn es auf eine Subordination Afghanistans hinauslaufen soll, völkerrechtlich nicht vertretbar und nach Ansicht vieler Experten inzwischen sogar militärisch obsolet.

Da „der Westen“ jedoch inzwischen auch die Vorstellung aufgegeben hat, dass die zukünftige Regierung in Kabul eine Demokratische sein könnte, ist zu befürchten, dass diese Positionen Pakistans unwidersprochen bleiben.

Wer sich von Islamabad erhofft, dass es behilflich sein wird, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen, sollte die Studie ebenfalls gründlich lesen. Dort heißt es, es bestehe „Unklarheit, ob die Taliban bereit seien, an einem politischen Versöhnungsprozess teilzunehmen oder „über einen gewissen Punkt hinaus mit den USA zu kommunizieren“. Der Journalist und Sicherheitsexperte Ejaz Haider, der an der Studie mitgewirkt hat, warnt deshalb: „Es ist klar, dass die afghanischen Taliban misstrauisch gegenüber Pakistan sind. Es stellt sich daher die Frage, ob und in wieweit Pakistan diesen Prozess überhaupt beeinflussen kann.“

Was weder Islamabad noch Washington oder Berlin bisher daran hindert, eine „Ausssöhnung“ mit den Taliban als Lösung des Problems zu verkaufen. Doch mit vagen Hoffnungen macht sich schlecht Politik.

Deutlich wird an der Studie auch, dass Pakistans Afghanistan-Politik nach wie vor von der Angst getrieben ist, von Erzfeind Indien eingekreist zu werden. Angesichts der Popularität Indiens in Afghanistan und der Vielzahl seiner Aktivitäten dort (Indien ist inzwischen der sechstgrößte Geber in Afghanistan) ist dies ein legitimes Anliegen. Zu erwarten, dass Neu-Delhi sich auf Entwicklungshilfe beschränkt, während Pakistan über die afghanische Regierung mitentscheidet ist jedoch, vorsichtig gesagt, etwas unrealistisch.

Optimistisch stimmt, dass viele pakistanische Experten der Meinung sind, dass der „sicherheitszentrierte Politikansatz“ gegenüber Afghanistan dazu geführt hat, dass Pakistan dort an Ansehen verloren hat. Auch die Fixierung auf eine reale oder eingebildete indische Bedrohung wird skeptisch gesehen. Stattdessen fordern sie, sich stärker auf gemeinsame Interessen wie etwa bilateralen Handel, Energie- und Infrastruktur sowie den Wiederaufbau zu konzentrieren. Auch sollte Islamabad stärker versuchen, mit anderen afghanischen Akteuren als den Taliban ins Gespräch zu kommen. Die Studie hält jedoch fest, dass dies eine 180-Grad-Wende in der traditionellen pakistanischen Afghanistan-Politik wäre.

Ein übereilter Abzug der ISAF-Truppen 2014 wird weder in Pakistan noch in Afghanistan (und auch nicht in Indien) gewünscht, denn die skizzierte Friedensperspektive oder auch nur ein Minimum an Stabilität lässt sich nur dann realisieren, wenn Afghanistan nicht im Bürgerkrieg versinkt. In diesem Zusammenhang warnen die pakistanischen Experten vor einer Gefahr, der bisher international wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: einer Spaltung der Afghanischen Nationalarmee entlang ethnischen Linien.

Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt daher die Frage, ob die Taliban bereit sind, sich auf eine politische Einigung einzulassen, so lange noch ausländische Truppen im Land sind. Denn so lange keine Lösung gefunden wird, die die Interessen breiter Teile der afghanischen Bevölkerung und der wichtigsten Nachbarländer berücksichtigt, würde ein Abzug der Nato verbrannte Erde hinterlassen.

Für die deutsche und internationale Politik gegenüber Pakistan und Afghanistan ergibt sich daraus Folgendes:

  • Der versuchten, falschen Ethnisierung des Afghanistan-Konfliktes muss widersprochen und stattdessen nach einer politischen Lösung gesucht werden, die die Zustimmung einer Mehrheit des afghanischen Volkes findet.
  • Pakistans legitime Sicherheitsinteressen müssen berücksichtigt werden. Kabul sollte daher davon überzeugt werden, die Durand Linie (die afghanische und pakistanische Paschtunen trennt) als internationale Grenze anzuerkennen, damit das Thema Paschtunistan nicht weiter einer Friedenslösung im Wege steht.
  • Neu-Delhi sollte dazu gedrängt werden, seine Aktivitäten in Afghanistan transparent zu machen.
  • Alle drei Länder sollten dabei unterstützt werden, die wirtschaftlichen Potenziale der Region (auch mit anderen wie China, Iran, die zentralasiatischen Republiken) verstärkt zu nutzen.
  • Verstärkt sollte auch Berlin diejenigen in Islamabad unterstützen, die gegenüber dem „sicherheitszentrierten Ansatz“ des Militärestablishments skeptisch sind. Ein stärkerer Einfluss der demokratisch gewählten Regierung auf die Außen- und Sicherheitspolitik Pakistans ist notwendig, um die Region zu befrieden.

Dies erfordert mehr Zeit als das Abzugsdatum 2014 für die Nato-Truppen zulässt.


Dieser Artikel erschien zunächst in leicht geänderter Version bei taz.de.