Afghanistan: Wir brauchen euch, bitte zieht nicht ab

Jedes Jahr, wenn in westlichen Parlamenten darüber diskutiert wird, ob die jeweiligen Länder das Mandat ihrer Truppen in Afghanistan verlängern, werden die Menschen in Afghanistan besorgt und unruhig. Mehr als 60 Prozent der Afghanen möchten, dass die internationalen Truppen im Lande bleiben. -> Aktuelle Beiträge über und aus Afghanistan.

Jedes Jahr, wenn in westlichen Parlamenten darüber diskutiert wird, ob die jeweiligen Länder das Mandat ihrer Truppen in Afghanistan verlängern, werden die Menschen in Afghanistan besorgt und unruhig. Sie machen sich Gedanken, was passieren wird, wenn sich diese Länder, ähnlich wie die Niederlande und Kanada, entscheiden, ihre Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen. Derweil trachten Terroristen der Taliban danach, mehr Selbstmordanschläge zu verüben, mehr Sprengsätze am Straßenrand zu deponieren oder sogar massive Anschläge auf die ausländischen Soldaten zu verüben – mit dem Ziel, die öffentliche Meinung in ihren Heimatländern dahingehend zu beeinflussen, dass die Abgeordneten gezwungen sind, den Abzug zu beschließen.

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Am Vorabend der Debatte des deutschen Bundestags zur Verlängerung des Einsatzes in Nordafghanistan ist es wichtig, die Anzahl terroristischer Aktivitäten im Norden zu betrachten. Dass die Zahl der Anschläge gestiegen ist - und das in einer Jahreszeit, in der die Taliban üblicherweise weniger aktiv sind - untermauert die Annahme, dass die Aufständischen im Norden es auf die Meinung der deutschen Öffentlichkeit abgesehen haben.

Die deutschen Streitkräfte haben ihre friedenssichernde Mission in Afghanistan in Folge des Bonner Abkommen begonnen, das unter der Federführung der Vereinten Nationen in Deutschland geschlossen wurde. Friedenssichernde Kräfte engagieren sich normalerweise nicht in Kriegen. Aber die Situation in Afghanistan, die durch das Wiedererstarken der Taliban geprägt ist, hat die friedenssichernde Mission der internationalen Schutztruppe ISAF in die direkte Konfrontation und in Kampfhandlungen gezwungen. Die Ausweitung von Taliban-Aktivitäten in Nordafghanistan ist einer der Hauptgründe für solche Offensiven.

Die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001, die das Leben von mehr als dreitausend unschuldigen Zivilisten gefordert haben, sind der Hauptgrund für die Präsenz der ISAF in Afghanistan, der auch die Deutschen angehören. Die USA sind in Afghanistan interveniert, weil die Taliban al-Qaida unterstützt haben, das Netzwerk, dass die Anschläge vom 11. September ausgeführt hat, und weil die Taliban sich geweigert haben, die Verantwortlichen an die USA auszuliefern. Die Vereinten Nationen haben in einer durch viele Staaten unterstützten Resolution beschlossen, Afghanistan in einen demokratischen, stabilen und sicheren Staat zu verwandeln, denn wenn man Afghanistan sich selbst überlassen würde, könnte das dazu führen, dass sogar noch größere Anschläge weltweit und insbesondere im Westen verübt werden.

Die Existenzberechtigung für ISAF, unter deren Kommando Tausende von Soldaten aus verschiedensten Ländern und Kulturen in Afghanistan Dienst tun, ist die Anerkennung von Terrorismus als einer weltweiten Bedrohung. Nichtsdestoweniger sind Stabilität, Demokratie und Sicherheit selbst neun Jahre danach leider immer noch nur eine schemenhafte Zielvorstellung in Afghanistan, in erster Linie durch eine inkohärente Politik und ein ebensolches Vorgehen gegen die Quellen terroristischer Finanzierung und Versorgung, einen Mangel an Koordinierung zwischen den internationalen Kräften in Afghanistan und das Fehlen einer entschlossenen und funktionierenden afghanischen politischen Führung.

Zweifelsohne hat es in den vergangenen neun Jahren beachtliche Entwicklungsfortschritte in verschiedenen Bereichen gegeben, maßgeblich durch die Präsenz internationaler Truppen und ihrer Unterstützung. Mehr als 3.000 Kilometer Straßen sind asphaltiert worden, Dutzende von Medien einschließlich Fernsehen, Hörfunk und Printmedien sind gegründet worden und haben zu einer Medienrevolution in Afghanistan geführt. Und das, obwohl es vor neun Jahren lediglich einen Fernseh- und einen Radiosender gab, beide „Shariat“, also „Islamisches Recht“, benannt. Nun bieten viele private Universitäten hochwertige Studiengänge an, Millionen von Afghanen sind durch Mobilfunk verbunden, und mehr als vier Millionen afghanischer Kinder gehen zur Schule. Obwohl die Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan schwach ausgeprägt ist, hat Afghanistan immerhin eine Verfassung, die absichert, dass öffentliche Institutionen demokratisch sein sollen und die die direkte Wahl von Vertretern per Wahl durch die Bürger festschreibt.

Wie dem auch sei, all diese Fortschritte stehen auf tönernen Füßen, weil den Ursachen von Krieg und Terrorismus in Afghanistan in den vergangenen neun Jahren keine ausreichende Beachtung geschenkt wurde. Pakistan hat beständig und öffentlich Taliban unterstützt und Rückzugsräume und Ausbildungslager für ihre Führung und die der al-Qaida zur Verfügung gestellt.

Einige internationale Berichte besagten, dass der pakistanische Geheimdienst (ISI) die Taliban, al-Qaida und die Haqqani-Gruppe mit Waffen und Geld unterstützt hat. Gleichzeitig macht die pakistanische Armee keine Anstalten, in Nord-Waziristan militärisch aktiv zu werden. Die Führungskreise der Taliban – die Quetta-, Peschawar- und Karadschi-Schuren – agieren vor den Augen der Öffentlichkeit.

Die Rückkehr der Taliban ist jederzeit vorstellbar, da die notwendigen Strukturen zur Verteidigung der territorialen Integrität von Afghanistan noch nicht handlungs- und durchsetzungsfähig sind. Der afghanischen Armee fehlt es weiterhin an schwerem Geschütz, einer Luftwaffe und logistischer Unterstützung. Zudem ist die afghanische Polizei - trotz beachtlichen Engagements im Polizeibereich – weiterhin nicht vertrauenswürdig. Die afghanische Regierung ist nicht zu einer transparenten, verantwortlichen und handlungsfähigen Verwaltung geworden, und die beständig steigende Korruption und Ineffizienz hat dem zunehmenden Einfluss der Taliban Vorschub geleistet. Die Nachbarn Afghanistans, insbesondere Pakistan und Iran, sind bislang nicht überzeugt, dass Frieden und Sicherheit in Afghanistan auch für sie von Vorteil sein kann, und daher fahren sie fort, verschiedene Dimensionen von Taliban-Aktivitäten zu unterstützen, inklusive Training und Bereitstellung finanzieller Ressourcen.

Unterdessen haben sich Haltung und Verhalten der Taliban nicht geändert. Sie sind weiterhin die gleiche extremistische Organisation, die keinen Respekt vor internationalen Werten – einschließlich Menschenrechten – hat, während sie unnachgiebig bestrebt ist, ihre fundamentalistische Interpretation des Islams zu oktroyieren. Sie haben nach wie vor enge Verbindungen mit den Taliban, bringen Kinder, Frauen, andere Zivilisten und Angestellte des öffentlichen Dienstes um, sie brennen Schulen und Gesundheitseinrichtungen nieder. Sie wollen das Land zurück in eine vormoderne Stammesgesellschaft verwandeln, in der Traditionen und strikte islamische Regeln herrschen.

Die Rückkehr der Taliban macht Afghanistan nicht nur zum Epizentrum der Unsicherheit, sondern auch zur Quelle für Terrorismus und dessen Propaganda, für Extremismus und Gewalt. Wenn Afghanistan verloren geht, werden religiöser und ethnischer Hass im Nahen Osten bestärkt, was auch europäische Länder betreffen wird.

Die Menschen in Afghanistan sind dankbar für die Anwesenheit internationaler Schutztruppen und wissen ihre Opfer, ihren Mut und ihr Heldentum zu schätzen. Die Afghanen sind sich darüber bewusst, dass die Präsenz internationaler Truppen verhindern wird, dass die Taliban wieder die Macht übernehmen. Es empfiehlt sich, einen Blick auf die jüngsten Umfragen der Asia Foundation und der BBC zu werfen: Mehr als 60 % der Afghanen möchten, dass die internationalen Truppen im Lande bleiben. 88 % halten die Taliban und al-Qaida für die treibenden Kräfte der Gewalt. Diese Umfragewerte zeigen, dass Afghanen nach einem befriedeten, ruhigen, demokratischen und würdigen Leben Seite an Seite mit der internationalen Gemeinschaft streben und die Taliban und Terroristen nicht unterstützen. 


Interview mit Sanjar Sohail am 6.12.2011

 
 
Portrait: Sanjar Sohail

Sanjar Sohail

Sanjar Sohail ist der Besitzer und Herausgeber von 8 Sobh Daily (Täglich 8 Uhr morgens). Er wurde in Takhar, einer nordöstlichen Provinz in Afghanistan, geboren, wo er auch die High School abschloss. Er besitzt einen Bachelor Abschluss von der Fakultät für Sprachen und Literatur der Universität von Kabul und hat am Menschrechtsinstitut in Kopenhagen Menschenrechte studiert, außerdem nahm er an Menschenrechts-Trainingsprogrammen der Afghanistan Independet Human Rights Comission (AIHRC) teil.

Des Weiteren hat Mr. Sanjar an Radiojournalismus-Kursen teilgenommen, die von dem Afghanischen Zweig der BBC und Inter News veranstaltet wurden.

Mr. Sanjar war früher als Nachrichten und Current Affairs Manager beim Sender Saba TV in Kabul tätig und Seniorberater sowie Nachrichten Chefredakteur beim National Radio& Television of Afghanistan (RTA). Außerdem arbeitete er als stellvertretender Chefredakteur bei zahlreichen Publikationen (Watander Weekly und Kunduz Magazine) und als Chefredakteur der Cinematic Monthly.

Er war Vorsteher der Afghanischen Studentenbewegung und ein aktives Mitglied des Young Leader Forums der Friedrich Ebert Stiftung (FES).

Die Gründung der 8 Sobh Daily, einer einzigartigen medialen Institution, ist einer seiner Hauptverdienste. Er ist davon überzeugt, dass 8 Sobh Daily, mittels der Veröffentlichung einer großen Bandbreite an demokratischen Ideen, eine wichtige Rolle bei der Förderung der Demokratie und der Aufklärung des Volkes über demokratische Prinzipien spielen kann. Genauso kann die Zeitung dazu beitragen, dass die öffentliche Moral des Volks gestärkt wird, damit es das Recht auf freie Meinungsäußerung umsetzt und seine Stimme gegen die Missstände bei den zentralen und den lokalen Regierungen und Räten erhebt. 


8 Sobh Daily

8 Sobh Daily (Täglich 8 Uhr morgens) wurde am 22. Mai 2007 von einer Gruppe wohl bekannter und geschätzter Journalisten und Medienaktivisten gegründet. Die Tageszeitung gehört und wird herausgegeben von Sanjar Sohail. Sie wurde als ein Instrument gegründet, um sich mit den jüngsten politischen Entwicklungen in Afghanistan auseinander zu setzen. Ihr Ziel ist es sich auf Nachrichten, politisch-analytische und gesellschaftliche Berichterstattung und Dialoge zu konzentrieren. Sie strebt an, ihrer Leserschaft faire und ausgewogene Informationen zu aktuellen Sachverhalten in den Bereichen Menschenrechte, Demokratie, nationale Einheit und nationale Interessen zu liefern und somit die demokratischen Institution, Menschrechte - insbesondere die Entwicklung der Übergangsjustiz („transitional justice“) -, sowie den Aufbau des Rechtsstaates im Land zu unterstützen. Die Tageszeitung 8 Sobh erhebt ihre Stimme nicht nur um interne Themen anzusprechen, sondern auch um die regionalen Themen mittels einer analytischen Herangehensweise zu behandeln, da die Demokratieentwicklung in Afghanistan nicht nur von nationalem Wirtschafts-, Politik-, Sozial- und Kulturfaktoren abhängt, sondern auch drastisch von den regionalen politischen und sozialen Faktoren beeinflusst wird. Die Zeitung beabsichtigt ihre Bemühungen auf die weitere Demokratisierung des Landes zu richten.

Gegenwärtiger Tätigkeitsbereich:

Die Tageszeitung 8 Sobh ist gegenwärtig in 10 Provinzen des Landes tätig, darunter:

  • Kabul (Hauptstadtregion)
  • Balkh (Nördliche Region)
  • Nangarhar (Östliche Region)
  • Herat (Westliche Region)
  • Bamyan (Zentrale Berglandregion) und
  • Ghazni (Südliche Region)
  • Takhar (Nordöstliche Region)
  • Badakhshan (Nordöstliche Region)
  • Baghlan (Nördliche Region)
  • Kunduz (Nordöstliche Region)