Ist Identitätspolitik unumgänglich, um für die (eigenen) Rechte einzutreten?

Kommentar

Linke Identitätspolitik muss stärker ähnliche Erfahrungen und gemeinsame Anliegen in den Vordergrund rücken - und nicht gemeinsame Merkmale von Menschen, sagt Dr. Julia Ehrt, Geschäftsführerin bei ILGA World.

Schriftzug über einer Treppe: "Welcome to the common room"

Ich bin seit über 20 Jahren in der LSBTIQ* Bewegung aktiv – in Deutschland, Europa und der Welt. Für unsere Bewegung – oder Bewegungen – die lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen zusammenbringt/-en und für unsere Rechte eintritt/-en scheinen identitätspolitische Ansätze zunächst unumgänglich.

Ein Blick in die Geschichte bestätigt diese Sicht – sie ist voller lesbischen und schwulen sowie, trans, intergeschlechtlicher und nicht binärer Menschen, die gegen Ausgrenzung, Diskriminierung, Kriminalisierung und Gewalt gekämpft haben. Identität – sei sie nun homo-bi-trans-nicht binär-inter (Anmerkung: der Großteil intergeschlechtlicher Menschen begreift sich als männlich oder weiblich) oder anders definiert – wirkt als starke oft bewegungsbildende Erfahrung, die über viele andere politische, weltanschauliche, kulturelle und geographische und andere Unterschiede hinweg verbindet. Uns vereint „abweichend von einer Norm“ zu sein.

Das gilt für viele Gruppen; je klarer die Gruppe definiert ist und je größer die gesellschaftliche Marginalisierung und Diskriminierung sind, desto stärker sind die Bindungen innerhalb der Gruppe. Dies hat zu starken Ab- und Ausgrenzungen innerhalb der LSBTIQ* Bewegung geführt – so wurden zwar viele insbesondere der frühen Kämpfe von trans Menschen mitgetragen oder sogar angeführt – dann aber im Zuge von Assimilationsbewegungen in den 1980er und 1990er Jahren, insbesondere im globalen Norden, ausgegrenzt. Als Folge blieb und bleibt die LSBTI Bewegung von schwulen – meist weißen – Männern dominiert. Trotz allem – LSBTI oder queer zu sein erzeugt ein enorm verbindendes Moment über viele gesellschaftlichen Grenzen hinweg. Wie bei anderen ausgegrenzten Minderheiten bildet die gemeinsame Erfahrung der strukturellen Diskriminierung und Entrechtung Grundlage für den Gruppenzusammenhalt. Identitätspolitische Ansätze sind in diesem Kontext ein Mittel Rechte gegen Diskriminierung zu erstreiten. Das gilt nicht für alle identitätspolitischen Ansätze.

Der große Unterschied

Denn identitätspolitische Ansätze von rechts und von links unterscheiden sich grundlegend: Bei beiden geht es zwar um den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Macht. Doch identitäre Ansätze von rechts stärken den jeweiligen Hegemon - also die hinsichtlich Macht und Ressourcen dominierende Gruppe – auf Kosten aller als «anders» markierten Gruppen (Frauen, nicht-Weißen, nicht-Heterosexuellen etc.). Bei linken, progressiven identitätspolitischen Ansätzen hingegen geht es um die Stärkung gesellschaftlicher und sozioökonomischer Teilhabe von ausgegrenzten und benachteiligten Gruppen. Ziel dabei ist eine Egalisierung von Ressourcen und Macht im Sinne einer Gleichberechtigung. Daher ist eine allgemeine Kritik an Identitätspolitik ohne zu spezifizieren welcher, nicht zielführend.

Wie zu Anfang ausgeführt, haben sich identitätspolitische Ansätze im Erstreiten von gleichberechtigter Teilhabe von LSBTI Menschen in Deutschland und anderswo nicht nur bewährt, sondern erscheinen als ein opportunes, legitimes gar unumgängliches Mittel im politischen Betrieb. Letztlich fußt unsere repräsentative Demokratie auf Identitätskonzepten oder zumindest auf Vorstellungen von Gruppenzugehörigkeiten, indem sie davon ausgeht, dass Politiker_innen, ihre Wähler_innen, ihren Wahlkreis, ihre Partei, ihr Bundesland vertreten und für selbige Gruppen ‚das Beste rauszuholen‘ - sowie um wieder gewählt zu werden. Auch der Ansatz, dass unser Parlament ein Querschnitt unserer Gesellschaft abbilden soll und die damit zusammenhängende Forderung, dass mehr unterrepräsentierte Gruppen (Frauen, BPoCs, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderung(en), Menschen aus finanziell ärmeren Familien usw.) in die Parlamente einziehen müssen, wurzelt letztlich einer Vorstellung von Identität/en.

Sind Identitätspolitische Ansätze unumgänglich?

Die Schwäche oder Gefahr identitätspolitischer Ansätze liegt darin, dass sie leicht Ausschlüsse erzwingen. Fakt ist auch, dass gruppenbezogene Repräsentation und Organisation das Schmieden von Allianzen oft erschweren und zu intersektionalen Diskriminierungen und Ausgrenzungen führen können: Wenn es beispielsweise in der LSBTI Bewegung immer erst mal um LSBTI geht, kann das auf Kosten der Inklusion anderer gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen gehen. So werden und wurden beispielsweise Frauen, BPoC, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderung innerhalb der LSBTI Bewegung ausgegrenzt und benachteiligt, indem sie häufig bei politischen Forderungen nicht mitgedacht wurden. Das wiederum steht im Widerspruch zu den eignen (linken) Werten von gleichberechtigter Teilhabe. Es ist genau dieser scheinbar intrinsische Widerspruch den linke Identitätspolitik aufzulösen versucht, indem weniger auf identitätsstiftende Merkmale als sich vielmehr auf gleiche oder ähnliche Erfahrungen konzentriert wird. Hierzu möchte ich ein Beispiel geben:

Vor fast 15 Jahren habe ich zusammen mit anderen Aktivist_innen den Berliner Verein TransInterQueer gegründet. Wir wollten damals nicht nur ein Verein von und für trans, intergeschlechtliche und queer lebende Menschen gründen und uns für deren/unsere Anliegen einsetzen, sondern darüber hinaus ein politisches Zeichen setzen. Wir haben uns im gleichen Maße gegen traditionelle identitätspolitische Ansätze gewendet und schufen eine Organisation deren verbindendes Element ein gemeinsames Anliegen war: die Auseinandersetzung mit und die Kritik an der Zwei-Geschlechter-Ordnung. Dies ermöglichte es uns, ein Verein zu sein, der offen war und über die engen Grenzen von trans, inter und nicht binären Identitäten hinweg Menschen miteinander verband – TrIQ hält es bis heute so. Wenn wir als Menschen zusammenkommen, die sich organisieren, weil sie die Praxis der Zwei-Geschlechter-Ordnung ablehnen – können auch hetero cis Frauen und Männer Teil der Organisation sein.

Inzwischen arbeite ich für ILGA World – dem globalen Dachverband von LSBTI Organisationen mit über 1600 Mitgliedsorganisationen weltweit. Und auch bei ILGA hat ein Umdenken stattgefunden: Unsere Mitgliederversammlung hat 2019 eine neue Organisationsstrategie verabschiedet mit dem Schwerpunkt der Diversität unserer Bewegung Rechnung zu tragen und bisher marginalisierte Gruppen innerhalb der Bewegung zu empowern. Auch in unserer Sprache verabschieden wir uns zunehmend von identitätspolitisch gedachten Kategorien wie „LSBTI Menschen“ und gehen dazu über von „Menschen mit diversen sexuellen Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Geschlechtsmerkmalen“ (SOGIESC) zu sprechen.

Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen

Auf den ersten Blick scheint das fast keinen Unterschied zu machen – die Umformulierung macht jedoch klar: Jeder Mensch hat eine (oder mehrere) sexuelle Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Geschlechtsmerkmale. Genau dieser Aspekt erlaubt es, unsere Arbeit von starren Identitätskategorien zu lösen, Allianzen und Kooperationen mit anderen Gruppierungen wie beispielsweise feministischen Organisationen einzugehen und unser Handeln intersektional auszurichten.

Identität basiert aus dieser Perspektive auf wechselseitiger Bestätigung und Anerkennung innerhalb einer Gruppe von Menschen mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen und Erfahrungen. Durch diese Gemeinsamkeiten kann eine starke Gruppenbindung erzeugt werden, die letztlich auf dem Ausschluss von anderen fußt. Genau diese Ausschlüsse sind die Schwäche jedes identitätspolitischen Ansatzes, da dies letztlich linken Werten von gleichberechtigter Teilhabe und Solidarität widerspricht. Es muss bei linker Identitätspolitik demnach stärker darum gehen, ähnliche Erfahrungen und gemeinsame Anliegen in den Vordergrund zu rücken und nicht gemeinsame Merkmale von Menschen. Wenn wir es also schaffen, über die gemeinsam erlebten Ausgrenzungsmechanismen Brücken zu bauen und die Erfahrung von Ausgrenzung zur Grundlage politischen Handelns zu machen, heben wir nicht nur eine konservative Identitätspolitik aus den Angeln, wir schaffen auch die Grundlage für ein sich über gesellschaftliche Grenzen hinwegsetzendes politisches Handeln zum Wohle aller.