Der Syrische Frauenrat – Aus Fehlern lernen

Wie die Vereinten Nationen Identitäts- und Repräsentationspolitik falsch interpretierten und umsetzten.

Syrische Frauenaktivistinnen sitzen in einem Sitzungssaal vor Mikrofonen
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Syrische Frauenaktivistinnen auf einer Konferenz in Genf zur Beteiligung von Frauen im syrischen Friedensprozess (2014)

Im Februar 2016, wenige Tage nach dem Abbruch der Syrien-Friedensgespräche in Genf, rief der damalige UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, den syrischen Frauenrat (Women's Advisory Board/WAB) ins Leben. Er soll de Mistura beraten und wichtige Themen, die auf der Agenda des UN-Sondergesandten fehlten, zur Sprache zu bringen, geschlechtsspezifische Perspektiven vorzuschlagen und einschlägiges Fachwissen der Zivilgesellschaft bündeln.

In ihrer ersten Presseerklärung beschrieb sich der Frauenrat als Zusammenschluss "von zwölf unabhängiger Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, die von syrischen Frauenorganisationen in einem eigenen Konsultationsprozess ausgewählt wurden... Frauen verschiedener Hintergründe, die sich verpflichtet haben, den Sondergesandten bei seinen Bemühungen zu unterstützen". Wie dieses Gremium gegründet wurde, verlief jedoch wenig transparent. Es ist daher nahliegend, dass das es auf den umstrittenen Strukturen der "Syrischen Fraueninitiative für Frieden und Demokratie" des ehemaligen UN-Sondergesandten Lakhdar Brahimi aufbaut.

Im März 2016 forderten vier Mitglieder des Frauenrats eine "sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen das syrische Volk, die den Import von Lebensmitteln, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung behindern."  Viele (syrische oppositionelle) Frauengruppen reagierten wütend auf diese Stellungnahme, weil sie sie als Aufruf interpretierten, die Sanktionen gegen das Regime von Bashar al-Assad zu lockern. Am Tag darauf ging es in den sozialen Medien unter dem Hashtag "#WABdoesNotRepresentMe" hoch her.

Wie lässt sich verhindern, dass Repräsentationspolitik ins Essentialistische kippt?

Viele Aktivist*innen hatten die erste Presseerklärung des Frauenrats so interpretiert, dass er [alle] syrischen Frauen repräsentieren wolle. Es wurde jedoch recht schnell klar, dass zwischen dem Frauenrat und den syrischen Frauen innerhalb Syriens eine Kluft klafft. Die Kritik bezog sich nicht nur darauf, inwiefern Frauen hier repräsentativ vertreten sind, sondern auch darauf, dass Handlungsräume von Frauen entpolitisiert wurden.  Entpolitisierung, das bedeutet: der politischen Aspekte aller Aktionen oder Interventionen beraubt (ich werde später näher darauf eingehen). Diese Kritik schien berechtigt, spiegelt sie doch die Komplexität des syrischen Kontextes wider; sie reagierte außerdem auf die Art und Weise, wie die Mitglieder des Frauenrats von den Vereinten Nationen, UN Women sowie von westlichen Organisationen ausgewählt worden waren, die die Gründung des Frauenrats unterstützt hatten. Dazu gehören u.a. die Regierungen der USA, Großbritanniens und der Niederlande.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie kann man den schmalen Grat zwischen einem reduktiven und vorhersehbaren Essentialismus und dem anhaltenden Bedürfnis nach Repräsentation wandern? Hier ist Gayatri Chakravorty Spivak von Bedeutung, die zwischen zwei Arten von Repräsentation unterscheidet. Die erste ist die Vertretung: man stelle sich also vor, “man versetze sich in jemand anderen hinein”. Diese Bedeutung kommt der "politischen Repräsentation" am nächsten und spricht stellvertretend für jemanden oder etwas. Die zweite ist die Darstellung, die als "dahin stellen" interpretiert werden kann.

Der Frauenrat setzt sich aus feministischen Aktivistinnen zusammen, sie sich seit Jahrzehnten für Menschen- und Frauenrechte einsetzen. Sie haben versucht, in die «Vertreter*innenrolle» zu schlüpfen, und den Frauenrat als stellvertretendes Gremium für alle syrischen Frauen darzustellen. Dabei haben sie jedoch Aspekte wie Diversität eher halbherzig behandelt und sich in das hoffnungslose Unterfangen verstrickt, für alle Frauen in Syrien sprechen zu wollen, indem sie sich eine "romantische Vision" von Vielfalt aneigneten.

Gerade die Intransparenz des Auswahlverfahrens führte zu Unmut innerhalb der syrischen Frauenbewegungen und -gruppen, denn syrische Frauen wurden bei der Bildung des Frauenrats von den internationalen westlichen Organisationen immer wieder stereotypisiert, so wie man es von anderen Beispiele bezüglich der Frauen des Globalen Südens gewohnt ist. Es wirkte, als ob Frauen lediglich basierend auf Geschlecht, Religionszugehörigkeit, politischer Gesinnung und geografischer Herkunft ausgewählt wurden.

Vor allem fühlten sich syrische Frauen mit Kopftuch diskriminiert, weil sie im Frauenrat die Minderheit, in der syrischen Gesellschaft jedoch die Mehrheit bildeten. So entstand der Eindruck, als seien diejenigen ohne Kopftuch überlegen und als ob den syrischen Frauen ein bestimmtes Idealbild aufgezwungen werden sollte. Außerdem waren viel mehr Frauen aus den Städten als aus dem ländlichen Raum vertreten. , obwohl die syrische Revolution in kleinen Städten begonnen hatte und sich erst in ländlichen Gebieten verbreitete. Das Gefühl der  Ungleichheit verstärkte sich dadurch. Außerdem wurde bei den Mitgliedern des Frauenrats nicht zwischen regimetreuen und oppositionellen Positionen unterschieden, wie es bei den männlichen Vertretern am Verhandlungstisch im Friedensprozess der Fall ist.Die Stereotypisierung von Frauen äußerte sich insoweit, dass junge Frauen und Transfrauen komplett außen vor gelassen wurden.

Die Liste der Kritikpunkte ließe sich noch ewig weiterführen – nicht, weil wir weitere Listen brauchen, sondern um zu verdeutlichen, dass hier eine Gruppe nach dem Geschmack westlicher Organisationen gebildet wurde, die auf Stereotypen syrischer Frauen und der syrischen Gesellschaft ansich basiert und der es an Diversität und Inklusion mangelt. Syrische Frauen werden vom Syrischen Frauenrat in ihrer Komplexität und Vielfältigkeit schlichtweg nicht repräsentiert.

Aufgrund des Drucks über soziale Medien gestanden die Frauenrats-Mitglieder ein, nicht alle syrischen Frauen, sondern spezifisch "Frauen in der Zivilgesellschaft" zu repräsentierten. Auch das ist im syrischen Kontext jedoch nicht eindeutig definiert, sondern bedeutet allenfalls: Frauen, die in gemeinnützigen Organisationen arbeiten oder sich dort engagieren. Diese Aussage steht im Einklang mit Spivaks zweiter Bedeutung von Repräsentation, dem Darstellen: Dabei wird lediglich ein "Abbild" einer Auswahl syrischer Frauen erstellt, das einen binären Diskurs zwischen dem Frauenrat einerseits und einer heterogenen Gruppe syrischer Frauen andererseits fördert.

Meiner Meinung nach war das Wirken des Frauenrats von Anfang an begrenzt; er stellteeigentlich nur ein Aushängeschild für den UN Sondergesandten dar, damit dieser den Eindruck erwecken konnte,  dank der Inklusion von Frauen in den Verhandlungen Fortschritte zu erzieleln. Der Frauenrat zog indes seine Stellungnahmen zurück und stellte sich in allen Fragen an die Seite des UN Sondergesandten.

Die Entpolitisierung des Frauenrats

Seit der Gründung des Frauenrats forderten die Mitglieder von UN Women und anderen internationalen Akteuren von den syrischen Frauen, dass sie ihre Differenzen überwinden, insbesondere die politischen, und sich gemeinsam um Frieden bemühen sollten. Infolgedessen wurde Kritik an der "Neutralität" der Aussagen des Frauenrats laut, und durch diese Entpolitisierung wurde die wichtige politische Rolle, die Frauen in der syrischen Revolution gespielt hatten, komplett außer Acht gelassen. Stattdessen entwertete man den Beitrag von Frauen, "indem sie nur als Friedensstifterinnen dargestellt wurden."

Laut Christina Shaheen, einerMitarbeiterin des UN-Gesandten, sollen viele Frauen nicht darauf vorbereitet gewesen sein, Vertreterinnen der gegnerischen politischen Lager nebeneinander stehen zu sehen (Gambale 2016). Daraus leite ich ab, dass den Frauen des Frauenrats abverlangt wurde, ihre politische Gesinnung außen vor zu lassen. Im Auswahlverfahren wurden lediglich formale Kriterien für eine Repräsentation nach außen erfüllt, so dass es bloß bei einem Lippenbekenntnis zu Resolutionen wie z.B. der Resolution 1325 wurde. Die Tatsache, dass dem Frauenrat vorgeschrieben wurde, zu entscheidenden Fragen, wie dem Einsatz von Fassbomben durch das syrische Regime, zu schweigen, bestätigt diesen Eindruck.   

Syrische Frauen in den Verhandlungsprozess einzubeziehen, gelang nicht, denn erstens brachte sie die Frauenrats-Mitglieder in eine paradoxe Situation, in der sie den ganzen Ärger über das Scheitern der Friedensverhandlungen über sich ergehen lassen mussten. Zweitens gewährleisteten die Vereinten Nationen mit dieser «unpolitischen» Frauenorganisation, Frauen lediglich symbolisch am Friedensprozess teilnehmen zu lassen, anstatt ihnen einen ordentlichen Platz am Verhandlungstisch einzuräumen. Drittens bestanden die Vereinten Nationen, insbesondere UN-Women, darauf, den Frauenrat als inklusiv darzustellen, , obwohl nur nach politischen, geographischen und religiösen Merkmalen ausgewählt wurden Sechs Jahre nach der Gründung des Women’s Advisory Boards steht dieser geradezu für ein Beispiel dessen, wie eine internationale Intervention um Frauen einzubeziehen, nicht angegangen werden sollte. . Außerdem habe ich den Eindruck, dass die scheinbare Teilnahme von Frauen am Friedensprozess eher die Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken sollte, nicht aber auf die Friedensgespräche selbst oder die Tatsache, dass viele Frauen in diesem politischen Prozess nicht repräsentiert sind.

Spivaks Doppelkonzept der Repräsentation hat mir geholfen, die beiden Hauptprobleme bei der Gründung des Frauenrats zu identifizieren: Erstens, das Versäumnis, das gesamte Spektrum der syrischen Frauen zu repräsentieren (bezüglich politischer Gesinnung, religiöser Zugehörigkeit usw.), indem die syrische Frauenbewegung entpolitisiert und durch die Gründung des Frauenrats ins Abseits gedrängt wurde. Zweitens wurde der Beitrag von Frauen durch die Darstellung als privilegierte und zentrale Akteurinnen im Friedensprozess de facto entwertet.

Durch die Gründung des Women’s Advisory Boards wurden die Kämpfe der syrischen Frauengruppen auf ein traditionelles, quasi apolitisches Gremium reduziert, und der Frauenrat wurde zur wichtigsten und endgültigen Referenz für alle Fragen über die syrischen Frauenbewegung. Die syrischen Frauenbewegungen vor Ort waren jedoch nicht damit einverstanden, wie der Frauenrat gegründet wurde, welche Rolle ihm zugewiesen wurde und wie er von seinen Initiatoren  als "Errungenschaft" dargestellt wurde. Den Vereinten Nationen ist es nicht gelungen, die Verhandlungsparteien zur Versöhnung zu bewegen, schlimmer noch: sie waren nicht einmal in  der Lage, dafür zu sorgen, dass Frauen am Verhandlungstisch tatsächlich repräsentiert werden.  Stattdessen wurde ein peripheres Gremium gebildet, dessen Aufgaben sich darauf beschränken, das Büro des UN-Sondergesandten zu beraten und die Stimmen der Frauen über diesen Nebenkanal zu kontrollieren und zum Schweigen zu bringen.

Es bleibt eine Herausforderung: Das Bedürfnis nach Repräsentation und dass diese gleichzeitig nicht vollständig gelingen kann. Doch wenn, wie oben beschrieben, Symbolpolitik und eine fragwürdige Zusammensetzung dazu führen, dass Stimmen zum Schweigen gebracht werden, hinterlässt das gemichte Gefühle.