Linksliberale Identitätspolitik in Bosnien und Herzegowina

Gegen Gewalt, für den Schutz von Minderheiten, für allgemeine Menschenrechte

Völkisch-nationalistische Exzesse führten in den 1990er Jahren zu den verheerenden Balkankriegen. Allein im Bosnienkrieg 1992-95 wurden etwa 100.000 Menschen getötet und mehr als 20.0000 Frauen vergewaltigt. Heute versuchen linksliberale Akteur*innen sich von diesen zerstörerischen Kräften zu befreien. Sie kämpfen für fundamentale Individual- und Bürgerrechte und eine europäische Integration ihres Landes.

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

Azra Zornic will nur eines: Sie will als Bürgerin zu Wahlen antreten, um in der Politik ihres Heimatlandes Bosnien und Herzegowina zu einem politischen Wandel beizutragen. Zornic ist eine von vielen Bosnier*innen, die sich dagegen wehren, dass Menschen in erster Linie in Bezug auf vermeintliche Ethnien eingeordnet werden. Doch um an Posten und Gefälligkeiten zu gelangen, müssen sich die Bewohner*innen Bosniens zu einer der drei dominierenden Gesellschaftsgruppen bekennen, den Bosniaken, den Kroaten, den Serben. Zornic hält davon nichts, sie will als Mensch agieren, als aufrechte Bürgerin in einem Gemeinwohl tätig sein, das zu den ärmsten in ganz Europa zählt. Eine politische Teilhabe in bestimmten Positionen ist ihr daher nicht möglich.

Was sich grotesk anhört,ist Tagespolitik in Bosnien und Herzegowina. Mit seinem komplexen Staatsaufbau und den zementierten ethnischen Konfliktlinien ist das Balkanland sicherlich eines der eklatantesten Beispiele für eine rechtsgerichtete Identitätspolitik, die das Kollektiv zum alles bestimmenden Faktor erklärt und in diesem Sinne völkische Anklänge hat. Seit drei Jahrzehnten dominieren die drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben, Kroaten) das politische Geschehen. Im Krieg waren sie teils Gegner – und heute noch befinden sie über das Leben der bosnischen Bevölkerung, Jobs in Institutionen, der Verwaltung, den Medien, ja gar Funktionen in Schulen und Kindergärten werden mehrheitlich an Parteigänger*innen vergeben, die die Ressourcen des Landes gnadenlos ausplündern.

Laut dem Daytoner Friedensabkommen, mit dem der Krieg 1995 beendet wurde, stehen den drei konstitutiven Gruppierungen mehr Rechte als „anderen“ gesellschaftlichen Gruppen zu – ein Unikum weltweit: So dürfen Minderheiten, wie etwa Jüd*innen und Rom*nja, nicht zu den Präsident*innenschaftswahlen antreten, eine Bürger*in wie Azra Zornic ist ebenfalls ausgeschlossen – es existiert eine systematische Diskriminierung.

Der Mensch, das Individuum ist abgeschafft

Oberste Maxime dieser rechten Identitätspolitik ist also die Konstruktion einer ethnischen Zugehörigkeit. Alle anderen Identitäten werden marginalisiert, entwertet. Der Mensch, das Individuum – diese Kategorien zählen auf Grundlage der Dayton-Verfassung de facto nichts.  Alles, was das normative Fundament der Europäischen Union ausmacht – gleiche Teilhabe, die gleichen Rechte aller Bürger*innen – ist in Bosnien nicht existent.

Im Alltag führt dies zu einem offenen Angriff auf die Individualrechte: Die Ethnonationalist*innen, allen voran die kroatische HDZ, serbische SNSD sowie die bosniakische SDA, haben das staatliche System unter sich aufgeteilt, die Institutionen gekapert – rigoros kontrollieren sie jeden Winkel des politisch-gesellschaftlichen Lebens und hintertreiben wichtige Reformprozesse. Insbesondere das Bildungssystem dient den Nationalist*innen dazu, die extremistischen Ideologien an die junge Generation weiter zu geben und so den toxischen Nationalismus, der in den 1990er Jahren in die Balkankriege mündete, am Leben zu erhalten. So wird beispielsweise in der Herzegowina an Schulen eine Art Apartheidssystem praktiziert: Für Kinder katholischer Kroat*innen und muslimischer Bosniak*innen gibt es unterschiedliche Schuleingänge, die Nationalisten führten gar andere Unterrichtszeiten ein, damit sich die Kinder auch in den Pausen nicht begegnen können.

Rechts-nationalistische Identitätspolitik mündete in schwerste Kriegsverbrechen

Auf diese Weise wird 26 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges jene Separationspolitik fortgeführt, die zwischen 1992-1995 zu schweren Kriegsverbrechen führte und im Juli 1995 im Genozid von Srebrenica kulminierte. 1991 hatten sich der damalige Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, und der serbische Machthaber Slobodan Milosevic darauf verständigt, Bosnien aufzuteilen und sogenannte ethnisch reine Gebiete zu schaffen – ein Groß-Kroatien und ein Groß-Serbien sollten entstehen. Teil dieses Planes war die Auslöschung anderer Gruppen. Kriegsverbrecher*innen gelten den nationalistischen Lagern als Held*innen, die die Sache des eigenen ethnisierten Kollektivs nach vorne gebracht haben – die Perspektive der Opfer wird hingegen ausgeblendet.

Mit dem Friedensabkommen wurde dieser toxische Nationalismus fortgeschrieben – schließlich war das Dokument in erster Linie darauf ausgerichtet, die Kriegshandlungen zu beenden. Niemand der Internationalen Gemeinschaft, urteilt der Verfassungsrechtler Nedim Ademovic, habe darüber nachgedacht, dass der bosnische Staat auf Grundlage der Dayton-Verfassung kaum funktionieren könne.

Straßburger Urteile: Bosnien muss Diskriminierung beenden

Immer wieder rufen Bürger*innen verzweifelt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, um sich gegen die Dominanz des Ethnonationalismus aufzulehnen. So klagten vor mehr als zehn Jahren der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Jakob Finci und der Rom Dervo Sejdic gegen den bosnischen Staat -  beide Bevölkerungsgruppen dürfen laut Verfassung bei den Präsidentschaftswahlen nicht antreten. Aus Sicht des Europäischen Gerichtshofes verstößt Bosnien damit gegen die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention; auch in vier weiteren Fällen urteilten die Richter*innen, dass Bosnien systematisch europäisches Recht bricht.

Umgesetzt sind die Straßburger Urteile bis heute nicht, die nationalistischen Blöcke blockieren jegliche Reformen, die anderen Gesellschaftsgruppen eine gleichberechtigte politische Teilhabe erlauben würden. Dass damit ein großer Teil der Bevölkerung (rund 15 Prozent) nicht dieselben Rechte besitzt, belegt, wie undemokratisch die völkische Identitätspolitik der Ethno-Machtkartelle ist. Bedauerlicherweise erwies sich auch die Internationale Gemeinschaft, allen voran die EU, bislang als zu schwach, um diskriminierten Bürger*innen Bosniens zu ihrem Recht zu verhelfen. Nicht zuletzt deswegen verlassen Zehntausende Jahr für Jahr das Land in Richtung EU, um dem Unrechtssystem daheim zu entfliehen.

LGBTI-Mitglieder – verachtet und bedroht

Dabei betrifft der linksliberale Kampf gegen die Vormachtstellung der Nationalist*innen auch andere gesellschaftliche Gruppen, denen ebenfalls fundamentale Rechte vorenthalten werden. Verbalen und körperlichen Angriffen sind vor allem LGBTI ausgesetzt. Auf den gemeinsamen Hass gegen Mitglieder dieser Minderheit können sich Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen ohne Probleme verständigen; unterstützt werden sie von radikalen Vertreter*innen der Kirchen, die als verlängerte Arme der Nationalist*innen fungieren und ihren negativen Beitrag zu der rigorosen Ausgrenzungspolitik leisten.

Im Kontext der 1. Pride-Parade, die 2019 in der Hauptstadt Sarajevo trotz massiver Sicherheitsbedenken stattfand, zeigte sich, wie bedeutend der liberale Widerstand gegen die Unrechtsdogmen der Nationalist*innen ist: Der Protestmarsch, der mit einem starken Sicherheitsaufgebot und der Präsenz, insbesondere von Grünen-Politiker*innen [1], unterstützt wurde, geriet zu einem eindrucksvollen Manifest – gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Individuen, für die Wahrung ihrer Bürger*innenrechte. Der Protestzug musste mit Scharfschützen und einem zweifachen Sicherheitskordon abgesichert werden, um Extremist*innen daran zu hindern, den friedlichen Aufmarsch der LGBTI-Community zu stürmen. Im Nachbarland Serbien waren 2010 bei einer Pride-Parade mehr als 120 Menschen, zumeist Polizist*innen, von einem gewalttätigen Mob verletzt worden, die vermeintlich Familie und Vaterland verteidigen wollten.

In Sarajevo stimmten am Ende des historischen LGBTI-Protestmarsches die Teilnehmer*innen ein altes Partisanenlied an. Für viele ein emotionaler Moment, schließlich wird das Eintreten für die Freiheiten und Rechte eines jeden Individuums von linksliberalen Kräften in der Tradition des Widerstands der Partisan*innen gegen den Faschismus im 2. Weltkrieg gedeutet. Tatsächlich sind jene Demokrat*innen, die mit linker Identitätspolitik die Rechte von Minderheiten zu erstreiten versuchen, ein wichtiger Motor auf dem Weg zu einer dringend erforderlichen Demokratisierung Bosniens und Herzegowinas. Statt brutaler Auslöschungspolitik und völkisch motiviertem Hass durch das rechts-nationale Lager – bestes Beispiel sind derzeit die brandgefährlichen Sezessionsbestrebungen des serbischen Extremisten und Vertreters im bosnischen Staatspräsidiums, Milorad Dodik - setzen sich die Protagonist*innen linker Identitätspolitik für allgemeine Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Unantastbarkeit eines jeden Individuums ein. Eben diese Ideale sind bedeutsam, um die Spaltung der bosnischen Gesellschaft zu überwinden und den Frieden samt der für das Land typischen religiösen und kulturellen Vielfalt abzusichern. Eben deshalb brauchen diese Akteur*innen progressive europäische Unterstützung.

 

[1] An dem Protestmarsch nahmen neben Ex-Grünen-Chefin Krista Sager, der grüne Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin sowie die Europa-Abgeordnete Terry Reintke teil.