Das 12. Schwurgericht in Istanbul hat seinen früheren Freispruch für die im deutschen Exil lebende und in der Türkei von einer lebenslangen Haftstrafe bedrohte Soziologin Pinar Selek bekräftigt. Das Istanbuler Gericht widersprach damit dem Urteil der 9. Kammer des Obersten Berufungsgerichtes in Ankara, das 2010 den schon einmal gefassten Freispruch aufgehoben und eine Verurteilung der Angeklagten wegen siebenfachen Mordes verlangt hatte.
Das endgültige Urteil, welches in Anwesenheit der Angeklagten verlesen werden muss, wird am 22. Juni 2011 verkündet. Türkische Rechtsexperten gehen allerdings davon aus, dass es sich hierbei um eine reine Formalität handelt.
Zum Freispruch für Pinar Selek erklärt Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung:
„Dieser Freispruch hat Pinar Selek endlich zu dem Recht verholfen, auf das sie seit über dreizehn Jahren gewartet hat. Es ist beeindruckend, dass das Schwurgericht in Istanbul zu seinem Urteil steht und dem Druck des Obersten Berufungsgerichtes in Ankara standgehalten hat. Zu dem Freispruch beigetragen hat wohl auch die große internationale Aufmerksamkeit nicht nur am heutigen Tage - internationale Solidarität zeigt also Wirkung. Die türkische Justiz ist heute einen weiteren Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit gegangen und hat die politische Willkür mancher Richter in die Schranken verwiesen. Wir hoffen, dass sich diese Entwicklung durchsetzt.“
Die Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek zählt zu den führenden Friedensaktivistinnen der Türkei. Sie war gerade dabei, ihre Forschungen über die Auswirkungen des Bürgerkrieges in der Türkei abzuschließen, als sie mit dem Verdacht konfrontiert wurde, 1998 eine Bombe in einem Bazar in Istanbul gelegt zu haben. 1999 wurde sie in der Türkei angeklagt, gefoltert, zweieinhalb Jahre inhaftiert und schließlich freigesprochen. 2010 forderte das Oberste Gericht in Ankara erneut Seleks Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Die Türkei hatte Pinar Selek bereits im April 2009 verlassen und war nach Deutschland ausgereist. Sie erhielt zunächst ein Stipendium im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich, das politisch verfolgte Autorinnen und Autoren unterstützt. Später förderte das P.E.N.-Zentrum Deutschland die Schriftstellerin, die mittlerweile als Writers-in-Exile-Stipendiatin in Berlin lebt und vier Bücher veröffentlicht hat.
Pinar Selek ist seit 2005 Projektpartnerin der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Stiftung unterstützte unter anderem ihre Forschungsarbeit über Männlichkeitsbilder im türkischen Militär. Die Ergebnisse dieser Studie sind in Deutschland unter dem Titel „Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt“ im Orlanda Verlag erschienen.
Zum Auftakt des erneuten Verfahrens gegen Pinar Selek hatten das P.E.N.-Zentrum Deutschland und die Heinrich-Böll-Stiftung im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz Anfang Februar die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen die Schriftstellerin gefordert. Der Kampagne für Pinar Selek hatten sich über 5.000 Menschen weltweit angeschlossen, darunter zahlreiche prominente Schriftsteller und Intellektuelle.
Fachkontakt:
Dr. Ulrike Dufner
Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul
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