Dieses Jahr wird Frau Gemsmann eine neue Hilfskraft für ihre Hofkäserei einstellen. Seit die Bäuerin 1993 begonnen hat, die Milch ihrer 30 Kühe selbst zu verarbeiten, ist die Nachfrage nach ihren Käsespezialitäten kontinuierlich gestiegen. Mittlerweile vermarktet Frau Gemsmann nur noch ein Drittel ihrer Milch über die regionale Molkerei, die ihr, mit Ausnahme der Boomjahre 2007 und 2008, immer niedrigere Preise zahlt. Die Einnahmen aus dem Käseverkauf im Hofladen und an eine regionale Supermarktkette, die sie zusammen mit anderen Landwirten beliefert, machen die Arbeit auf dem Hof auch für ihre Kinder wieder attraktiv. Und um die Arbeit in der Käserei bewältigen zu können, hat Frau Gemsmann schon zwei Teilzeitkräfte aus dem Dorf angestellt. Anders als viele ihrer Nachbarn wird sie ihren Betrieb in den nächsten Jahren nicht aufgeben müssen.
Leider ist die Bäuerin Gemsmann eher eine Ausnahme. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Zahl der Betriebe in einigen Ländern der EU fast halbiert. Allein in Deutschland haben im Jahr 2009 mehr als 11.000 landwirtschaftliche Betriebe aufgehört zu produzieren. Da half es wenig, dass mit 59,4 Mrd. Euro wieder mehr als ein Drittel des gesamten EU-Budgets in die Landwirtschaft geflossen ist. Viele Betriebe haben sogar deshalb aufgeben müssen, weil die Subventionen ineffektiv und unfair verteilt werden: Es wird zu wenig nach der Leistung oder dem Beitrag zum Gemeinwohl bezahlt, sondern vor allem nach Größe. Pro Hektar erhält ein Betrieb in der EU durchschnittlich 260 Euro Subventionen in Form von sogenannten „Direktzahlungen“. In Deutschland bekommen knapp fast die Hälfte der Betriebe weniger als 5.000 Euro. Im Gegensatz dazu erhalten knapp 2 Prozent der Betriebe mehr als 100.000 Euro pro Jahr. Im Ergebnis beziehen die 6.300 größten Betriebe einen größeren Anteil der Subventionen als die 287.000 Kleinbetriebe.
Zusätzlich zu den Direktzahlungen fördert die EU auch produktivitätssteigernde Investitionen, wie zum Beispiel den Neubau oder die Erweiterung von Rinder- und Schweineställen. Auch diese Förderung ist in den meisten EU-Ländern so gestaltet, dass vor allem größere Betriebe profitieren. Die Investitionen, die Bäuerin Gemsmann vorgenommen hat, um ihre Hofkäserei aufzubauen, waren beispielsweise nicht förderungswürdig, weil die Investitionssumme zu gering war. Riesige Schweinemastanlagen bekommen hingegen in vielen Regionen ohne große Probleme hohe Zuschüsse. Damit fördern die Subventionen der EU gerade diejenigen, die Aufgrund ihrer Größe, ihrer hohen Technisierung und ihrer Spezialisierung auch ohne Beihilfen überleben könnten. Bestehende Ungleichgewichte werden somit durch die Subventionen nicht ausgeglichen, sondern eher verstärkt.
So wie den Nachbarn von Bäuerin Gemsmann geht es vielen Bauern weltweit. Auch in Kamerun oder Kambodscha leiden die Bäuerinnen und Bauern unter der unfairen Ausgestaltung der EU-Agrarpolitik. Sie können mit billig produzierten Nahrungsmitteln, die dazu noch von den Steuergeldern der EU oder anderer Industriestaaten subventioniert werden, nicht konkurrieren; teils müssen sie gar ihren Betrieb aufgeben. Im Unterschied zu Landwirten in der EU aber wirtschaften viele der weltweiten Kleinbauern ohne Netz und doppelten Boden. Das heißt, wenn sie nicht mehr von ihrer Landwirtschaft leben können, haben sie kaum Alternativen. Weder auf dem Land noch in den Städten gibt es Arbeit für Menschen, die eine geringe Schulbildung haben. Soziale Sicherungssysteme, die Menschen ohne Arbeit auffangen, gibt es auch keine. Armut und Hunger sind die Folgen. Landwirtschaft ist nicht nur die Produktion von Nahrungsmitteln, sie bildet nach wie vor die Lebensgrundlage für mindestens ein Drittel der Weltbevölkerung.
Wie kommt es, dass die EU eine solche Entwicklung fördert? Die Begründung ist in der Geschichte der gemeinsamen Agrarpolitik zu finden. Etwas mehr als eine Dekade nach Ende des zweiten Weltkrieges wurden in den römischen Verträgen die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik festgelegt. In dieser Zeit war die europäische Landwirtschaft als Folge des Krieges nicht in der Lage, die Nahrungsmittelbedürfnisse der Menschen zu decken. Dementsprechend groß war der Wunsch, die kritische Abhängigkeit in diesem sensiblen Bereich zu verringern. Die Steigerung der Produktivität wurde eines der zentralen, teilweise schon in den 1950er-Jahren entwickelten und bis heute gültigen Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik. Durch die Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und dem bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, sollte die Produktivität der Landwirtschaft gesteigert werden, um der Landbevölkerung einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewährleisten, die Märkte zu stabilisieren und die Versorgung der Verbraucher zu günstigen Preisen sicherzustellen. Die EU-Agrarpolitik setzte dabei auf unterschiedliche Instrumente. Den Bauern wurde innerhalb der EU ein Mindestpreis für ihre Produkte gezahlt. So lag z.B. der Mindestpreis für eine Tonne Weizen in der EU im Jahr 1993 bei umgerechnet 176 US-Dollar, während der Weltmarktpreis nur 65 US-Dollar betrug. Entsprechend wurden die heimischen Märkte vor billigen Importen stark geschützt. Die Zölle waren variabel gestaltet und wurden immer so angepasst, dass Importe nicht unter dem in der EU geltenden Mindestpreis verkauft werden konnten. Schließlich wurden Investitionsbeihilfen aufgelegt, die man gezielt an große und leistungsfähige Betriebe zahlte. Eine weitgehende Intensivierung der Landwirtschaft war die Folge.
Im Ergebnis erreichte die EU schon in den 1970er Jahren das Ziel der Selbstversorgung bei fast allen wichtigen landwirtschaftlichen Gütern. Dennoch änderte sich an den Produktionsanreizen durch die hohen garantierten Preise und die Subventionen für intensive Landwirtschaft kaum etwas. Die Produktion stieg entsprechend weiter. So wurden die bis heute berühmten Butterberge und Milchseen produziert, und die EU wandelte ihre Rolle vom Importeur praktisch aller landwirtschaftlichen Produkte zu einem der größten Exporteure von Grundnahrungsmitteln wie Getreide, Fleisch und Milchprodukten weltweit.
Subventionierte Exporte stören die Weltmärkte
Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielten die von der EU direkt an die exportierenden Unternehmen gezahlten Exportsubventionen, die die Differenz zwischen den Preisen auf dem EU-Binnenmarkt und den niedrigeren Weltmarktpreisen ausgleichen sollten. In den 1980er- und 1990er-Jahren zahlte die EU Exportsubventionen in Höhe von bis zu 10 Milliarden Euro jährlich. Im Zuge der seit 1992 begonnenen mehrfachen Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik wurden die garantierten Preise auf dem EU-Binnenmarkt schrittweise gesenkt, und damit auch die Differenz zum Weltmarktpreis. Entsprechend zahlte man 2009 nur noch einige hundert Millionen Euro an Exportsubventionen. Im Gegenzug erhöhten sich aber im gleichen Zeitraum die Direktzahlungen. Sie erlauben es den Landwirten weiter, ihre Produkte sowohl auf dem Binnenmarkt als auch beim Export zu Preisen zu vermarkten, die nicht die vollen Produktionskosten decken.
Exportsubventionen auch auf niedrigerem Niveau schädlich
Auch wenn Exportsubventionen heute nur noch einige hundert Millionen Euro ausmachen und nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden sollen, bleiben sie aus entwicklungspolitischer Sicht höchst problematisch. Denn die Stabilisierung des EU-Marktes geschieht auf Kosten der Märkte anderer Länder, die durch subventionierte Exporte geschwächt werden. Die Exportsubventionen sind jetzt noch problematischer durch die inzwischen zunehmend synchrone Entwicklung von Weltmarkt- und EU-Preisen. Setzt die EU in einer Niedrigpreisphase Exportsubventionen ein, sinken die auch auf dem Weltmarkt herrschenden niedrigen Preise weiter ab. Zuletzt ist das im Jahr 2009 geschehen, als die Preise für Milch aufgrund der gestiegenen Produktion und rückläufiger Weltmarktnachfrage stark gefallen waren. Die EU setzte ihre Exportsubventionen für Milchprodukte wieder ein, auch für ihre Vollmilchpulverexporte nach Westafrika. Gegenüber dem Vorjahr nahmen die Exporte um mehr als 16 Prozent, also fast 13.000 Tonnen, zu. Nimmt man das Jahr 2007 als Vergleich, in dem in der EU und weltweit auskömmliche Milchpreise herrschten, steigerte sich die Exportmenge um fast 38 Prozent.
Insgesamt exportierte die EU im Jahr 2009 88.600 Tonnen Vollmilchpulver nach Westafrika – das entspricht einer Frischmilchproduktion von über 700.000 Tonnen, das ist fast ein Viertel der regionalen Produktion. Sowohl lokale Molkereien als auch Konsumenten können das Vollmilchpulver, mit Wasser verrührt, wieder zu zwar weniger schmackhafter, aber eben auch deutlich billigerer Milch machen und dann zu Joghurt oder anderen Milchprodukten weiterverarbeiten oder direkt konsumieren. Besonders gravierend ist, dass Milch sowohl ökonomisch als auch sozial ein besonders wichtiges Produkt der Region ist.
Als Folge der EU-Agrarpolitik sanken die weltweiten Preise für Agrarprodukte kontinuierlich. Die nationale landwirtschaftliche Produktion in vielen Entwicklungsländern konnte mit den subventionierten Produkten nicht konkurrieren – weder auf dem Weltmarkt noch auf den heimischen Märkten. Hinzu kam, dass die agrarpolitische Ausrichtung vor allem in Afrika quasi konträr zu der der Europäischen Union stand. Die Landwirtschaft wurde nicht subventioniert, sondern oft sogar besteuert. Die jeweiligen Regierungen investierten kaum Geld in Forschung, Infrastruktur, Beratung oder Vermarktungssysteme – schon gar nicht für Grundnahrungsmittel. Die heimischen Produkte wurden von den billigeren importierten Produkten vom Markt verdrängt, und vielen Bauern wurde die Existenzgrundlage genommen.
Billige Weltmarktpreise und fehlende Visionen für eine nachhaltige Agrarentwicklung bildeten die Basis für die Ernährungspolitik vieler Entwicklungsländer: Nahrungsmittel wurden möglichst günstig importiert und den Konsumenten im eigenen Land zur Verfügung gestellt, anstatt, dem Beispiel der EU folgend, in die nationale Unabhängigkeit bei der Nahrungsmittelversorgung zu investieren und die heimischen Märkte vor Dumping-Importen zu schützen. Dass dieses Konzept weder heute noch in der Vergangenheit aufgegangen ist, zeigt die Entwicklung bei der Zahl der Hungernden in den letzten Jahrzehnten: Während im Zeitraum von 1970 bis 1995 die Zahl der Hungernden immerhin leicht abgenommen hat, von etwa 880 auf 820 Millionen Menschen weltweit, stieg ihre Zahl in vielen Entwicklungsländern seitdem dramatisch an. Heute hungern über 900 Millionen Menschen. Auch die niedrigen Agrarpreise der 1990er-Jahre konnten an dieser verhängnisvollen Entwicklung nichts ändern. Im Gegenteil: Unzählige Betriebe wurden aufgegeben, damit verschwanden die Einkommensmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung. Nach dem die Weltmarktpreise ab dem Jahr 2003 dann aus verschiedensten Gründen wieder stiegen, um 2007 und 2008 einen historischen Höchststand zu erreichen, konnten viele Menschen sich nicht mehr genügend importierte Lebensmittel leisten. Gleichzeitig hatten die meisten Länder nach jahrzehntelanger Vernachlässigung ihrer Grundnahrungsmittelproduktion keine Kapazität, schnell und ausreichend auf die Preisentwicklungen zu reagieren und ihre eigene Produktion zu steigern. Im Ergebnis hungert heute fast jeder sechste Mensch auf der Welt.
Die verfehlte Subventions- und Preispolitik der EU trug aber nicht nur zu niedrigen Weltmarktpreisen und zur Destabilisierung der weltweiten Ernährungssituation bei – auch die ökologischen Auswirkungen waren immens. Die starke Konzentration der EU- Agrarpolitik auf die Steigerung der Produktivität und die einseitig ökonomische Ausrichtung der eigentlich multifunktionalen Landwirtschaft führte zu zahlreichen Umweltproblemen. Der Agrarsektor erzeugt weltweit etwa 14 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgase. Zählt man zu den direkten Emissionen der Landwirtschaft auch die indirekten Auswirkungen durch Landnutzungsänderungen wie z.B. Entwaldung hinzu und den hohen Energieverbrauch für die Herstellung von Düngemitteln, dann sind es sogar über 30 Prozent. Hinzu kommt, dass die landwirtschaftliche Produktion einen großen Teil der immer knapper werdenden Süßwasserreserven verbraucht und der Hauptgrund für den Verlust der Artenvielfalt weltweit ist.
Gleichzeitig ist die Landwirtschaft besonders negativ von den Auswirkungen dieser ökologischen Fehlentwicklungen betroffen. Steigende Temperaturen beeinflussen die Wachstumsbedingungen von Pflanzen und die Leistungsfähigkeit von Nutztieren. Aber nicht nur das, aufgrund der veränderten Bedingungen wird es auch neue Krankheiten und Schädlinge für Pflanzen und Tiere geben. Hinzu kommt, dass sich durch den Klimawandel in vielen Teilen der Welt der Niederschlag verändert. Während die Regenmenge insgesamt abnimmt, nehmen extreme Trockenperioden vor allem in Afrika südlich der Sahara, in Asien und Australien zu. Weltweit wird vorausgesagt, dass schon bei einem durchschnittlichen Anstieg der Temperatur um 2 Grad die landwirtschaftliche Produktion um mehr als 16 Prozent sinken könnte; betrachtet man ausschließlich die landwirtschaftliche Produktion in Entwicklungsländern sind es sogar 21 Prozent. Betroffen sein werden also wieder die Menschen, die heute schon in sehr prekären Situationen leben und wirtschaften und zwar auf zweifache Weise: Ihre Produktion wird durch die negativen klimatischen Bedingungen sinken, und gleichzeitig werden die Preise für Grundnahrungsmittel langfristig steigen. Während eine durchschnittliche Familie in Deutschland lediglich 14 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt, liegt dieser Anteil bei armen Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern bei bis zu 80 Prozent. Wenn die Preise für Nahrungsmittel steigen, während gleichzeitig das Einkommen sinkt, dann geht die Zahl der Hungernden in den nächsten Jahrzehnten weltweit nach oben.
Importe schaffen neue Probleme
Die europäische Agrarpolitik hat seit 1992 vier Reformschritte hinter sich. Diese Schritte waren nur eingeschränkt erfolgreich. Zwar wurden die Anreize zur Überproduktion verringert, indem die garantierten Preise gesenkt wurden. Da aber zum Ausgleich die Direktzahlungen eingeführt wurden, die sich am historischen Produktions- und Unterstützungsniveau orientieren, wurden die alten Strukturen weitgehend beibehalten. Das Subventionssystem ist damit noch immer unfair, unökologisch und aus der Perspektive des Tierschutzes ethisch inakzeptabel. Zu der problematischen Subventionspolitik der EU kommen weitere Entwicklungen hinzu, die die Welternährungssituation dramatisch verschlechtern.
Die EU ist inzwischen auf 27 Mitgliedsländer angewachsen und beheimatet mehr als 500 Millionen Konsumenten, die im Durchschnitt 85 kg Fleisch pro Kopf und Jahr essen. In Deutschland liegt der Fleischkonsum mit 88 kg etwas höher. In der EU wird nicht nur viel Fleisch verspeist, sondern im weltweiten Vergleich auch überdurchschnittlich viel produziert. Die EU-Länder können ihren hohen Bedarf an Schweine- und Hühnerfleisch nicht nur selbst decken, sondern sind gerade für Schweinefleisch mit derzeit über eineinhalb Millionen Tonnen jährlich hinter den USA der zweitgrößte Exporteur auf dem Weltmarkt. Seit Anfang der 1990er-Jahre haben sich die Schweinefleischexporte aus Europa fast verdreifacht. Die Entwicklung neuer Märkte für Fleischprodukte und -spezialitäten wie Wurst und Schinken ist eines der Ziele der Agrarexportstrategie auch der deutschen Bundesregierung. Die Produktion von Geflügelfleisch steigt zwar deutlich an, aber derzeit langsamer als der Verbrauch, weshalb die EU zwar weiter mehr Geflügel exportiert als importiert, aber mit sinkender Tendenz. Da in der EU allerdings vor allem Brustfleisch nachgefragt wird, hat sich der Export der „überflüssigen“ Teile wie Flügel oder Schlegel als kostengünstige Möglichkeit erwiesen, diese zu „entsorgen“. Die tiefgefrorenen Reste landen meist zu konkurrenzlos niedrigen Preisen auf den Märkten armer Länder und lassen lokalen Geflügelzüchtern kaum eine Chance, ihre eigene Ware zu verkaufen. Auch diese Exporte zerstören daher die Lebensgrundlage vieler Bauern im Süden.
Aber die Steigerung der Fleischproduktion hat noch einen weiteren Haken: Die benötigten Futtermittel werden nicht in der EU produziert, sondern zu einem großen Teil importiert. Mit einem Import von 41 Mio. Tonnen ist die Europäische Union weltweit der größte Importeur von Soja. Der Anstieg der Fleischexporte um 32,4 Prozent im Zeitraum 2000-2007 ging einher mit einer Erhöhung der Futtermittelimporte um 17 Prozent.
Eine aktuelle Studie von Harald von Witzke und Steffen Noleppa rechnet die Importe der EU in virtuelle Landfläche um und gelangt zu beeindruckenden Ergebnissen: Derzeit importiert die EU eine virtuelle Fläche von fast 49 Millionen Hektar. Die virtuellen Flächenexporte der EU belaufen sich dagegen auf lediglich 14 Millionen Hektar. Insofern importieren die EU-Staaten netto rund 35 Millionen Hektar Fläche, was etwa der Größe Deutschlands entspricht. In den letzten zehn Jahren ist die virtuell importierte Fläche um fast 40 Prozent gestiegen – was zum größten Teil auf die Sojaimporte zurückzuführen ist, die in der EU als Futtermittel verwendet werden.
Aber nicht nur im Futtermittelbereich ist es für die EU wichtig, billige agrarische Rohstoffe zu bekommen – auch die weiterverarbeitende Industrie hat ein Interesse, die traditionellen Importgüter Kakao, Kaffee und Tee zu günstigen Preisen geliefert zu bekommen. Palmöl und andere Ölsaaten sind nicht nur für die Nahrungsmittelindustrie, sondern auch für die Herstellung von Kosmetik und Haushaltswaren von immer größerer Bedeutung. Die größte Dynamik besteht derzeit allerdings in der Verwendung von landwirtschaftlichen Produkten zur Herstellung von Energie, vor allem auch Agrarkraftstoffe. Um die in der EU vorgeschriebene Beimischungsquote zu erfüllen, werden nicht nur immer mehr Raps und Mais angebaut, sondern auch zunehmend Palmöl und andere Pflanzenöle importiert. Die Beimischungsziele sind mit der in der EU vorhandenen Landfläche jedenfalls nicht zu erfüllen. Damit basiert nicht nur die landwirtschaftliche Produktion der EU mehr und mehr auf den Landressourcen anderer Länder, sondern auch ein guter Teil der weiterverarbeitenden Industrie.
Durch die steigende Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten ist Land ein zunehmend knapper Faktor in der Produktion geworden, und damit steigt sein Wert. Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Es werden vermehrt neue Flächen erschlossen. Das geht einher mit der Rodung von Regenwald oder anderen ökologisch wertvollen Flächen. Kommunales Land wird privatisiert, und kleinbäuerliche Produzenten, die häufig in fragilen rechtlichen Situationen wirtschaften, werden von ihrem Land vertrieben. Es wird geschätzt, dass seit 2006 weltweit zwischen 15 und 20 Millionen Hektar landwirtschaftliche Flächen von ausländischen Regierungen oder Investoren gepachtet oder gekauft wurden. Das ist mehr als die gesamte landwirtschaftliche Anbaufläche Frankreichs.
Außenhandelspolitik – die andere Seite der EU-Agrarpolitik
Die Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik haben auch die Strategie der EU im internationalen Handel beeinflusst. Bis in die 1980er-Jahre stand eindeutig der Schutz des EU-Agrarmarkts vor billigeren Importen im Vordergrund. Der Aufstieg der EU zu einem wichtigen Exporteur erfolgte zunächst nur als „Nebeneffekt“ der durch die Agrarpolitik ausgelösten Überproduktion. Erst später entwickelte die exportorientierte Agrarindustrie ein klares Eigeninteresse daran, ihre Anteile am Weltmarkt zu verteidigen und auszuweiten.
Im Zuge der Reformen der Agrarpolitik begannen die EU und ihre Mitgliedsländer damit, eine ausdrückliche Exportstrategie für landwirtschaftliche Produkte zu entwickeln. Dabei ist das Hauptinteresse nicht, standardisierte Massenware wie Getreide, Milchpulver oder Schweinehälften zu exportieren, sondern weiterverarbeitete Produkte mit höherer Wertschöpfung wie Wurst- und Fleischspezialitäten, Süßwaren oder Gebäck bis hin zu Fertiggerichten. Diese Produkte sollen die neuen, schnell wachsenden Märkte der Schwellen- und Entwicklungsländer erobern. Anders als in der EU wächst dort die Nachfrage nach Lebensmitteln insgesamt – durch eine wachsende städtische Mittelschicht entwickelt sich vor allem eine steigende Nachfrage nach verarbeiteten Lebensmitteln. Bei der Strategie, diese Märkte durch EU-Exporte zu besetzen, spielen die durch die Direktzahlungen ermöglichten, niedrigeren Preise in der EU für die Agrarindustrie eine wichtige Rolle.
Die andere Seite der Medaille ist, dass sich die Exportausrichtung des Agrarsektors auch in der handelspolitischen Strategie der EU widerspiegelt. Da der Schutz der eigenen Landwirtschaft nicht länger im Vordergrund steht, sondern zunehmend der verbesserte Zugang verarbeiteter Exportprodukte zu den Märkten der Schwellenländer, wird die Forderung nach einer weitgehenden Liberalisierung des Agrarhandels immer wichtiger.
In den seit einigen Jahren ohnehin festgefahrenen Verhandlungen in der Doha-Runde der Welthandelsorganisation wird dies noch nicht so deutlich, da dort die Forderungen der USA, Australiens und Neuseelands, den Agrarsektor zu liberalisieren, über die moderateren Forderungen der EU hinausgehen. In den bilateralen Verhandlungen treten die Eigeninteressen der EU dagegen umso deutlicher zu Tage. So bestand die EU zum Beispiel in den 2009 abgeschlossenen Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru darauf, dass diese ihre Zölle auf Milchprodukte vollständig abbauen, obwohl davon auszugehen ist, dass dies Betriebsschließungen und Arbeitsplatzverluste in beiden Ländern zur Folge haben wird. Auch in den Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) mit den ehemaligen Kolonien Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP-Staaten), die besonders flexibel und entwicklungsfreundlich ausgestaltet werden sollen, bestand die EU lange Zeit darauf, dass auch für die wenigen Produkte, die die AKP-Staaten von einer Liberalisierung ausnehmen können, Zölle zwar nicht abgeschafft, aber auf dem aktuellen Niveau eingefroren werden müssen. Für sensible Produkte wie Vollmilchpulver hätte dies bedeutet, dass die Zölle in einigen Ländern nicht über fünf Prozent hätten steigen dürfen. Das jedoch ist ein zu niedriger Zollsatz, um der Milchproduktion, die heute vielen Kleinbauern die Existenz sichert, effektiven Schutz vor billigen EU-Importen zu bieten. Erst nach Protesten der AKP-Regierungen, zivilgesellschaftlicher Gruppen und sogar einiger EU-Mitgliedsstaaten kündigte die EU-Kommission an einzulenken.
Erste Anzeichen eine neuen Ausrichtung der EU-Agrarpolitik
Angesichts der bisherigen negativen Auswirkungen und Erfahrungen mag manchen die Abschaffung der „Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik“ als Ausweg erscheinen. Aber die Herausforderungen sind zu groß und zu drängend, als dass ein Verzicht auf gemeinschaftliches politisches Handeln eine Lösung bieten könnte. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt: Der „Markt“ allein löst weder die ökologischen und noch die sozialen Fragen. Ein Rückzug der EU aus der Agrarpolitik würde nicht nur zwischen den Mitgliedsstaaten zum Recht des stärkeren (finanzkräftigen) Mitgliedsstaates führen. Auch im Marktgeschehen setzen sich bei schlichtem Abbau von Regeln die Akteure durch, die das größte wirtschaftliche Gewicht haben. Oft sind es aber gerade die kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe, die eine höhere Artenvielfalt aufweisen und mehr Arbeitsplätze anbieten.
Die Zeit ist also reif für eine weitere Reform der EU-Agrarpolitik. Die derzeitigen Regeln laufen 2013 aus, und zudem beginnt auch die Debatte um die Ausgestaltung des gesamten EU-Budgets nach 2013. Bei der Frage, wie die einzelnen Etatposten des EU- Budgets in den Jahren 2014 bis 2020 ausgestaltet sein sollen, wird der Agrarhaushalt, der fast 40 Prozent des EU-Budgets ausmacht, nicht mehr einfach „durchgewunken“ werden. Die Fragen, welche gesellschaftlichen Leistungen der Agrarsektor erbringt und ob diese es rechtfertigen, so viele Steuergelder zur Subventionierung in die Hand zu nehmen, müssen offen diskutiert werden. Dabei ist das Kernproblem nicht unbedingt, dass Agrarpolitik Geld kostet, sondern dass sie trotz des großen Etats zur Lösung der heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen kaum einen Beitrag leistet, ja, sie verschlimmert sie teilweise sogar noch. Betrachtet man die oben genannten Auswirkungen der EU-Agrarpolitik auf Hunger und Armut, Klimawandel, Wasserverfügbarkeit oder den Verlust der biologischen Vielfalt so ist klar: Ein „Weiter so“ ist keine Option.
Der neue EU-Landwirtschaftskommissar Daclan Ciolos und seine Mitarbeiter scheinen dies zumindest teilweise ähnlich zu sehen. Jedenfalls haben sie in der Vorbereitung des nächsten Reformschritts für die EU-Agrarpolitik etwas Neues ausprobiert: Anstatt sich nur mit Regierungen, den großen Bauernverbänden und der Ernährungsindustrie hinter verschlossenen Türen zu beraten, wie es viele Jahr praktiziert wurde, haben sie eine mehrmonatige öffentliche Online-Konsultation veranstaltet. Dabei konnten alle interessierten Bürger und Organisationen ihre Wünsche und Forderungen an die neue Agrarpolitik der EU-Kommission mitteilen. Dieser Online-Konsultation folgte eine öffentliche Konferenz in Brüssel, in der Wissenschaftler und Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen ihre Standpunkte vortragen konnten. Die Kommission hat damit deutlich gemacht, dass sie Agrarpolitik nicht als „Spezialthema“ für die jeweiligen Berufsverbände, sondern als einen Politikbereich betrachtet, der die gesamte Gesellschaft angeht.
In der am 17. November 2010 veröffentlichten Mitteilung zur Gestaltung der EU- Agrarpolitik bis 2020 spiegelt sich diese Haltung der Kommission weitgehend wieder. Auch wenn der Vorschlag am Instrument der Direktzahlungen festhält, so verdeutlicht der gesamte Duktus der Mitteilung dennoch die Notwendigkeit eines Wandels in der Agrarpolitik. Das zeigt sich auch daran, dass erstmals seit 1963 die Ziele der Agrarpolitik umfassend neu definiert werden sollen. Dabei geht es nicht mehr vorrangig um Produktivitätssteigerung und Rationalisierung, sondern um einen breiten Zielkatalog, mit dem eine rentable Nahrungsmittelerzeugung ebenso angestrebt werden soll wie eine größere ökologische Nachhaltigkeit, Klimaschutz und eine ausgewogene ländliche Entwicklung.
Die Kommission hat damit zentrale Anliegen von Umwelt-, Landschaftsschutz und alternativen Bauernverbänden aufgegriffen und berücksichtigt diese auch in den Vorschlägen zur Reform der Instrumente der europäischen Agrarpolitik. So soll die sogenannte „erste Säule“ der Agrarpolitik, die Direktzahlungen, „grüner“ und gerechter gestaltet werden. Die ehemaligen Flächenprämien sollen sich zukünftig aus mehreren Elementen zusammensetzen: Einer Basisprämie zur Einkommenssicherung und einer verpflichtenden Ökologisierungskomponente, die an umweltpolitische Ziele gekoppelt ist, die über das gesetzliche Mindestmaß hinausgehen (Dauergrünland, Fruchtfolge etc.).
Für eine verbesserte Verteilungsgerechtigkeit wird die Einführung einer Obergrenze für Direktzahlungen an Großlandwirte erwogen. Dabei soll die Obergrenze für Großbetriebe mit vielen Beschäftigten höher liegen. Weiterhin schlägt die Kommission eine einfache und spezifische Unterstützungsregelung für Kleinbauern vor und für Gebiete, die aufgrund ihrer geographischen Situation schwieriger zu bewirtschaften sind.
Wie genau die Gestaltung der länder- und regionenspezifischen Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums aussehen soll, bleibt weitgehend unkonkret. Die Leitthemen dieser „zweiten Säule“ der Agrarpolitik sollen „Umwelt, Klimawandel und Innovation“ sein. Ein bemerkenswerter Aspekt ist, dass Investitionen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, die weiter gefördert werden sollen, zugleich die Umweltleistung steigern sollen. Würde dies konsequent umgesetzt, könnten keine Massentierhaltungsanlagen mehr gefördert werden.
Aus ökologischer Sicht enthält der Vorschlag der Kommission also eine Reihe von sinnvollen Ansätzen, die allerdings noch weiter konkretisiert und ausgebaut werden müssen. Die Auswirkungen, die die EU-Agrarpolitik auf Hunger und Armut in den Entwicklungsländern hat, finden in der Mitteilung dagegen keine Erwähnung. Auch auf die im EU-Vertrag ausdrücklich vorgeschriebene Kohärenz mit der nachhaltigen Entwicklung der Entwicklungsländer geht der Vorschlag nur am Rande ein.
An den bislang bestehenden Instrumenten zur Marktintervention will die EU festhalten, um auf dramatische Preisschwankungen reagieren zu können. Neben der öffentlichen Lagerhaltung handelt es sich dabei um die Subventionierung von Exporten. Auch wenn diese nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden soll, ist sie aus entwicklungspolitischer Sicht höchst problematisch, denn dabei geschieht die Stabilisierung des EU-Marktes auf Kosten anderer Länder. Dies zeigt, dass es der Kommission offenbar noch nicht gelungen ist, die richtige Balance zwischen der angestrebten klaren Marktorientierung der EU-Agrarpolitik einerseits und den sozialen und entwicklungspolitischen Zielen andererseits zu finden.
Inkohärent ist auch, dass einerseits nach wie vor auf Exporte gesetzt wird, die EU aber andererseits vorgibt, mit ihrer Agrarpolitik einen Beitrag zur Welternährung leisten zu wollen. Wie oben dargestellt, nutzt die EU vor allem wegen des Futtermittelbedarfs in großem Umfang Landflächen in anderen Ländern. Wenn in Zukunft unter anderem wegen des Klimawandels mit einer größeren Knappheit an Lebensmitteln gerechnet werden muss, kann der Beitrag der EU zur globalen Ernährungssicherheit nicht im weiteren Import von Soja für den Export von Fleisch- und Milchprodukten liegen – sondern darin, den globalen Zugriff der EU auf knapper werdende landwirtschaftliche Produktionsressourcen wie z.B. Land zu verringern.
Wie könnte ein Richtungswechsel der EU-Agrarpolitik aussehen?
Um endlich einen nachhaltigen Beitrag zu den ökologischen und sozialen Herausforderungen zu liefern und damit auch zu rechtfertigen, einen erheblichen Anteil des EU-Budgets für sich zu beanspruchen, müssen die richtigen ökologischen Ansätze des Vorschlags der EU-Kommission für eine neue Agrarpolitik konkretisiert und weiterentwickelt werden. Darüber hinaus muss man auch die internationale Verantwortung und die entwicklungspolitische Kohärenz der Agrarpolitik von vornherein als grundlegendes Ziel definieren und in der Gestaltung der Instrumente ausdrücklich berücksichtigen. Zahlreiche Bauern-, Umwelt- und entwicklungspolitische Verbände, die in der Arbeitsgruppe Landwirtschaft und Ernährung des deutschen Forum Umwelt und Entwicklung zusammenarbeiten, haben dazu Vorschläge gemacht, auf denen die folgenden Ausführungen beruhen.
So soll die EU sich ausdrücklich zum Vorrang des Rechts auf Nahrung bekennen und die Sicherung der Welternährung und die ausgeglichene Entwicklung der Weltagrarmärkte als Ziele benennen. Die Europäische Agrarpolitik muss so gestaltet sein, dass sie die Umsetzung sozialer Menschenrechte, wie des Rechts auf Nahrung, auch außerhalb der EU nicht behindert, sondern befördert.
Um eine weitere Verzerrung der Weltmarktpreise zu vermeiden, muss sichergestellt werden, dass die Erzeugerpreise in der EU die vollen Produktionskosten widerspiegeln. Öffentliche Zahlungen – auch Flächenprämien – sollen nur noch für öffentliche Leistungen erfolgen. Dazu zählen Erhalt und Pflege von ökologisch besonders wertvollen Produktionsmethoden und -systemen, hohe Tierschutzstandards und Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen in benachteiligten Gebieten.
Gleichzeitig müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass die Erzeugerpreise den Landwirten eine nachhaltige und umweltfreundliche Produktionsweise und ein ausreichendes Einkommen ermöglichen. Die Ausgestaltung sollte jeweils produktspezifisch erfolgen. Für den besonders sensiblen Milchmarkt ist eine flexible bedarfsorientierte Mengensteuerung zu prüfen, die die Produktionsmenge an der Binnennachfrage ausrichtet. Die EU müsste dazu einen gesetzlichen Rahmen schaffen, in dem Bauern und Verbraucher an der regelmäßigen Ermittlung und Festlegung der Produktionsmenge angemessen und wirksam beteiligt werden.
Alle Exportsubventionen müssen abgeschafft und als Rechtsinstrument gestrichen werden. Dieser Schritt darf nicht von einer Einigung im Rahmen der Welthandelsorganisation und entsprechenden Vorleistungen anderer Akteure abhängig gemacht werden. Die Exportsubventionen dürfen nicht durch andere Förderungen wie etwa Exportkredite, Absatzförderinstrumente oder Public Private Partnerships mit Markterschließungswirkung ersetzt werden.
Maßnahmen zur Modernisierung und Effizienzsteigerung von Betrieben dürfen nur gefördert werden, wenn sie vorrangig ökologischen Zielen dienen. Insbesondere Investitionsbeihilfen zur Kapazitätssteigerung in exportorientierten Bereichen wie z.B. der Schweinehaltung, Milch-, Geflügel- und Getreideproduktion sind abzuschaffen.
Die Stützung oder der Schutz der Landwirtschaft durch Subventionen, Zölle oder Mengenregulierungen darf nicht zur Quersubventionierung von Exporten beitragen. Für stark gestützte Produktlinien, die von hohen, auch ökologisch oder sozial begründeten Direktzahlungen oder einem Schutzzoll profitieren, ist der Export von Teilprodukten zu verbieten oder mit einer Exportsteuer zu belegen, die das Unterstützungsniveau abschöpft, oder die Mengensteuerung ist entsprechend restriktiv anzupassen. Das gilt auch anteilsmäßig an der Wertschöpfung von weiterverarbeiteten Produkten dieser Warenkategorie.
Die Reform muss einen klimapolitischen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft in Europa einleiten. Sie muss Regeln und Anreize schaffen zur Abkehr von der Massentierhaltung und einer klimaschädlichen Überdüngung hin zum Schutz von Böden (Erhöhung des Humusgehaltes) und des Grünlands. Sie muss die Abhängigkeit von importierten Futtermitteln reduzieren, indem der Anbau heimischer Eiweißfuttermittel (Leguminosen) in der Fruchtfolge honoriert wird. Zudem muss die Landwirtschaft für den Klimaschutz in die Pflicht genommen werden. Ihre Treibhausgasemissionen sollten bis 2020 um 40 Prozent reduziert werden. In diesem Zusammenhang muss auch die Agrarenergiepolitik der EU, die bislang praktisch unabhängig von der gemeinsamen Agrarpolitik gestaltet wird, überdacht und stärker in die Agrarpolitik integriert werden. Ähnlich wie bei den Futtermitteln ist die Verwendung von Agrarenergie auf das Niveau zu begrenzen, das in der EU klima- und umweltfreundlich produziert werden kann, ohne in Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion zu treten.
Gerade für Futtermittel, aber auch für alle anderen Agrarprodukte, ist eine entwicklungspolitisch sensible Weiterentwicklung internationaler Produkt- und Prozessstandards im Rahmen eines qualifizierten Marktzugangs notwendig. Der Import von Produkten, deren Anbau eine stark negative Treibhausgasbilanz aufweist oder der Gebiete mit großer biologischer Vielfalt schädigt, muss begrenzt werden. Dagegen sollte Produkten, bei denen die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und international anerkannte ökologische Standards, wie beispielsweise der internationalen Dachorganisation des ökologischen Landbaus (IFOAM), eingehalten werden, verbesserter Marktzugang gewährt werden. Darüber hinaus ist die Zolleskalation abzuschaffen, welche den Import weiterverarbeiteter Produkte aus Entwicklungsländern gegenüber unverarbeiteten Rohstoffen benachteiligt.
Die EU muss vor allem im Agrarbereich von ihrer handelspolitischen Strategie „Global Europe“ Abstand nehmen, die einseitig auf die Stärkung der europäischen Unternehmen im internationalen Wettbewerb abzielt. Insbesondere die Spielräume von Entwicklungsländern zur Umsetzung sozialer Menschenrechte und zum Umweltschutz dürfen nicht beschränkt werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass sie ihre Agrarmärkte vor Billigimporten schützen und die Niederlassung europäischer Supermarktketten regulieren können.
Die EU und die Mitgliedsstaaten müssen das Wettbewerbsrecht nutzen und verschärfen, um den raschen Konzentrationsprozessen in der Ernährungsindustrie und im Einzelhandel entgegenzuwirken, denn sie sind für die wachsende Kluft zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen wesentlich mitverantwortlich. Europäische Regierungen müssen unfaire Einkaufspraktiken durch europäische Supermärkte und Zwischenhändler verbieten, welche zur Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten entlang der Lieferkette oder zu Umweltschäden innerhalb oder außerhalb der EU führen können. Damit dies überprüfbar wird, müssen europäische Unternehmen zur Offenlegung ihrer Lieferketten und zur Rechenschaftslegung über die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards verpflichtet werden.
Zur Wahrnehmung ihrer internationalen Verantwortung muss die EU die internationale Agrarpolitik als eigenständigen Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik etablieren. In internationalen Verhandlungen im Agrarbereich muss sich die EU für günstige Rahmenbedingungen und Regeln zum Schutz natürlicher Ressourcen, für eine klimaverträgliche Landwirtschaft, für die Sicherung der biologischen Vielfalt an Nutzpflanzen, für Menschen- und Gewerkschaftsrechte, eine gute Regierungsführung, eine entwicklungspolitisch sensible Standardsetzung und eine ausgeglichene Entwicklung der Weltagrarmärkte einsetzen. Die EU muss den am wenigsten entwickelten Ländern Gelder zur Verfügung stellen, damit diese ihre Verhandlungskapazitäten im Agrarbereich verbessern und ihre Interessen bei internationalen Verhandlungen besser einbringen können. Sie müssen darin aus Mitteln des Agraretats unterstützt werden, um den technisch und juristisch gewachsenen Anforderungen an Produktqualität und Prozessstandards entsprechen und neue EU-Regeln (z.B. zu Seuchenpolitik, Biosicherheit, Umweltgesetzgebung und Handelspolitik) als Importeure in die EU umsetzen zu können.
Der Ansatz der EU-Kommission, die Reform der EU-Agrarpolitik im Dialog mit breiten gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln, ist neu und bietet gute Chancen für grundlegende Veränderungen. Doch werden die Agrarminister der EU-Mitgliedsstaaten diese Anstrengungen mittragen? Um dies sicherzustellen, muss es nun die Aufgabe der Agrarminister aller EU-Länder werden, auf nationaler Ebene ebenfalls den Anliegen von Umwelt-, Verbraucher- und Entwicklungsverbänden Gehör zu schenken. Gerade in den mächtigen Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland wird Agrarpolitik vor allem noch als Sache der großen Bauernverbände und der Agrar- und Ernährungsindustrie gesehen. Entsprechend halten die Regierungen am Status quo fest und verhindern wie schon bei früheren Reformanstrengungen der Kommission sozial-ökologische Reformen. Dies darf bei dieser Reform nicht gelingen, damit eine nachhaltige Landwirtschaft in Europa und dem Rest der Welt vorangebracht werden kann.
Bäuerin Gemsmann hat ökologische und soziale Umgestaltung der EU-Agrarpolitik schon vorweggenommen. Mit ihrem Betrieb und der kleinen Käserei leistet sie einen wichtigen Beitrag als Arbeitgeberin im Dorf; zudem trägt sie durch die große Grünlandfläche ihres Hofs zu einer vielfältigen, relativ klimafreundlichen Kulturlandschaft bei. Die Landwirtschaft hat das Potenzial, statt mehr Probleme zu bereiten, ein Teil der Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu werden. Dafür aber bedarf es eines grundlegenden Richtungswechsels. Auch die europäischen Konsumenten und Steuerzahler sollten diese Neuausrichtung einfordern. Denn es ist auch in ihrem Sinn, dass ihre Steuergelder eine Landwirtschaft fördern, die ökologische, soziale und ethische Anforderungen erfüllt.
Christine Chemnitz ist in der Heinrich-Böll-Stiftung Referentin für internationalen Agrarhandel.
Tobias Reichert ist bei Germanwatch Referent für Welthandel und Ernährung.