Ein "Grünes Europa" als Lösung der Eurokrise

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Investitionen in ein "Grünes Europa": Solaranlage in El Paso, Spanien. Bild: Rufus46  Lizenz: CC BY-SA 3.0 Original: Wikimedia Commons.

28. Juni 2012
Ferdi de Ville
Jenseits des akuten Problems der Eurokrise (sprich des Ansturms auf Banken und Staatsanleihen) braucht Europa dringend ein (neues) zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell. Tatsächlich sind beide Fragen aufs Engste miteinander verknüpft. Die Strategie des Sich-Durchlavierens ist offensichtlich an ihre Grenzen gestoßen. Voraussetzung für das kurzfristige Überleben der Eurozone ist eine langfristige wirtschaftliche Vision, die den Interessen der Gläubiger- und Schuldnerstaaten, Politiker, Bürger und Märkte gleichermaßen gerecht wird.

Seit dem Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich, und mehr noch seit dem Sieg Francois Hollandes, ist über den Streit zwischen jenen, für die Stabilität wichtiger als Wachstum ist, und jenen, die entgegengesetzter Ansicht sind, viel berichtet worden.

Unterschiedliche makroökonomische Denkschulen

Jeffrey Sachs zufolge führt die Dichotomie von Wachstum und Sparen in die Irre (da beide Lager mehr Wachstum anstreben und sich lediglich bei den Rezepten uneins sind, wie dieses Ziel zu erreichen sei). In Wirklichkeit haben wir es mit vier verschiedenen makroökonomischen Denkschulen zu tun, die in Politik, Wissenschaft und Medien alle ihre Anhänger haben. Da sind zum einen die Keynesianer, die eine mit vorübergehenden Haushaltsdefiziten verbundene Erhöhung der Staatsausgaben befürworten, um wieder Vollbeschäftigung zu erreichen und so den langfristigen Schuldenabbau zu erleichtern. Die Defizitfalken lehnen eine solche Politik rundheraus ab, da es unmöglich sei, eine Schuldenkrise durch die Aufnahme neuer Schulden zu lösen. Eine Erhöhung der Haushaltsdefizite würde in ihren Augen zu einem Vertrauensverlust führen und von den Finanzmärkten mit Zinsaufschlägen bestraft werden. Die Verfechter des freien Marktes argumentieren, eine Schrumpfung des öffentlichen Sektors werde in Kombination mit einer Deregulierung der Arbeits- und Warenmärkte unternehmerische Kräfte freisetzen, die das Wirtschaftswachstum mittelfristig wieder ankurbeln würden. Die Strukturalisten – die am wenigsten bekannte Schule, zu der neben Jeffrey Sachs auch Sony Kapoor von „Re-Define“ und der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger gehören – fordern schließlich die Stärkung der Produktivität durch staatliche Investitionen in Bildung, Arbeitsmarkt und die Rekapitalisierung der Banken. Finanziert werden sollen diese jedoch nicht durch Schuldenaufnahme, sondern durch höhere und anders verteilte Steuern.

Defizitfalken und Verfechter des freien Marktes dominieren die Krisenbewältigungsstrategie

Seit dem Ausbruch der „Euro-“ bzw. „Staatsschuldenkrise“ im Herbst 2009 haben sich innerhalb der EU die Defizitfalken mit den Verfechtern des freien Marktes zusammengetan und dominieren seither die europäische Krisenbewältigungsstrategie. Der Ausgangspunkt dieser Strategie ist die Einschätzung, die wichtigsten Auslöser der Eurokrise seien verschwenderische Regierungen und „chronisch nicht wettbewerbsfähige“ Volkswirtschaften an der Peripherie der Eurozone gewesen. Diese schonungslose Diagnose macht bei den sogenannten „PIIGS“ (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) allerdings nicht Halt. Wenn sie ihr Haus nicht in Ordnung bringen, sprich für einen strukturell ausgeglichenen Haushalt und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft sorgen, so die Argumentation der Befürworter von Sparprogrammen und Strukturreformen, könnten andere Mitglieder der Eurozone sehr schnell ihrerseits zu Pleitekandidaten werden. Die Kombination aus strenger Fiskalpolitik und Strukturreformen ist deshalb so verführerisch, weil sie in Aussicht stellt, dass mit dem Fleiß auch ein Preis verbunden ist. Dieser Denkschule zufolge muss man sich nicht zwischen Wachstum und Sparen entscheiden; vielmehr ziehe die Senkung der Staatsausgaben bei gleichzeitiger Deregulierung mehr Wachstum nach sich.

Das amerikanische Wirtschaftsmodell als Vorbild?

Die Praxis hat diese Sichtweise in den letzten Jahren jedoch nicht bestätigt. Kurzfristig befördern Sparprogramme und Strukturreformen, vor allem mitten in einer Rezession, keinerlei Wachstum, ja sie verfehlen sogar das unmittelbare Ziel, das Defizit zu verringern. Eindeutig gezeigt hat sich das nicht nur in den Staaten an der Peripherie, denen die Troika ein solches Programm auferlegt hat, sondern auch in Staaten innerhalb und außerhalb der Eurozone, die sich selbst eine derartige Rosskur verordnet haben, wie Großbritannien und die Niederlande. Auch ob es langfristig der richtige Weg ist, bleibt äußerst fraglich. Ein schlankerer Staat und ein flexiblerer Arbeitsmarkt, das läuft auf das amerikanische Wirtschaftmodell hinaus, das vor allem die Verfechter des freien Marktes gerne in die Europäische Union importieren möchten. Aber ist es nicht ein wenig seltsam, als Reaktion auf eine Krise, die ihren Ausgang in den USA nahm, das dortige Modell zu kopieren?

Deregulierung ist mit der Wählerschaft in Europa nicht machbar

Auch politisch ist das offensichtlich kein gangbarer Weg. Bei den Wahlen in Frankreich und Griechenland haben die Wähler ihre Stimmen Parteien gegeben, die ihnen Schutz vor den Kräften des Marktes versprochen haben (in Frankreich zum Beispiel hat der einzige Kandidat mit einem wirklich liberalen, europäisch und global ausgerichteten Programm, Francois Bayrou, nicht einmal zehn Prozent der Stimmen erhalten). So lautstark die Verfechter freier Märkte die Arbeits-, Dienstleistungs- und Warenmärkte im Süden Europas und in der EU insgesamt auch als zu unflexibel anprangern – mit den Wählern in Europa ist eine Deregulierung schlicht und einfach nicht zu machen.

Mögen die Defizitfalken zur Verteidigung ihrer Position noch so oft kritisieren, wie absurd es sei, auf eine Schuldenkrise mit Keynesianischen Wachstumsimpulsen zu reagieren – in Wirklichkeit handelt es sich dabei um Schattengefechte. Zwar befürworten mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonomen wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman einen solchen Ansatz, doch kaum ein europäischer Politiker wagt es, öffentlich für dauerhafte Haushaltsdefizite zu werben. Selbst der „ziemlich gefährliche“ Francois Hollande hat versprochen, 2017 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Tatsächlich lässt sich das, was man als die linke Mitte der europäischen Politik beschreiben könnte, eher der strukturalistischen Schule von Geoffrey Sachs zuordnen als dem Keynesianismus.

Wachstumsstrategie Europa 2020 und grünes Europa 2050

Wenn die rechte Mitte Europas und die um die Stabilität besorgten Deutschen besser verstehen, dass die Strukturalisten nicht Haushaltsdefizite befürworten, sondern eine durch höhere und anders verteilte Steuern finanzierte Anhebung produktivitätsfördernder Staatsausgaben, rückt ein Kompromiss in greifbare Nähe. Genau genommen gibt es ihn schon. Europa hat bereits eine Wachstumsstrategie, nämlich Europa 2020 mit den Zielen Vollbeschäftigung, verstärkte Investitionen in Forschung und Entwicklung, ökologische Modernisierung und Steigerung der Energieeffizienz, mehr Bildung und Bekämpfung der Armut. Klar ist, dass jedes einzelne dieser Ziele eine Erhöhung staatlicher Investitionen voraussetzt. Die im Europa 2020-Programm festgelegten Ziele, ganz zu schweigen von der Vision eines CO2-neutralen Europa bis 2050, lassen sich nicht mit Sparsamkeit und Strukturreformen erreichen.

Gelänge es, an Stelle der akuten Euro-Krise die langfristige Vision für Europa in den Mittelpunkt zu rücken, so brächte das einige entscheidende Vorteile mit sich. Wirtschaftlich wäre damit die Vorziehung von Investitionen verbunden, die kurzfristig das Wachstum ankurbeln. So wäre es sinnvoll, (im Rahmen von Solaria) umgehend in Solarenergie im Süden Europas zu investieren. Ein solches Vorgehen brächte auch politische Vorteile, führte es doch den Bürgern im Norden vor Augen, dass sich die Solidarität mit dem Süden zu einem späteren Zeitpunkt auszahlen wird, in Form von billigerer erneuerbarer Energie. Und den Bürgern im Süden würde so vermittelt, dass die ihnen abverlangten Reformen einem höheren Ziel für kommende Jahrzehnte dienen: einem enger verflochtenen, grüneren und gerechteren Europa.

Die Lektion der vergangenen Jahre lautet, dass die EU-Bürger einzig um einer gemeinsamen Währung willen nicht bereit sind, uneingeschränkte Solidarität über Grenzen hinweg zu üben oder einseitig Opfer zu bringen. Die Vision „Europa 2020“ beziehungsweise die eines grünen Europas bis 2050 dagegen hat das Potential, die Differenzen zwischen unterschiedlichen Staaten und wirtschaftlichen Denkschulen zu überbrücken und die Akzeptanz von Maßnahmen zur Rettung des Euro, wie Eurobonds oder einen gemeinsamen europäischen Einlagensicherungsfonds, zu erhöhen.

 

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Ferdi de Ville, Ghent Universität, Fachbereich Politikwissenschaften

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