Eine grüne Ideengeschichte des Sozialen

Analyse

Wie die Grünen zu einem sozialpolitischen Profil kamen – was bisher geschah und warum vom Grundeinkommen bis zur Bürger/innenversicherung viel zu diskutieren bleibt.

Ökologisch und sozial

„Sozial“ war einer der vier zentralen Wertbegriffe, über die sich die Grünen in ihrer Gründungsphase definierten. Der Versuch, Bezüge zwischen ökologischer Politik im Umwelt- und Energiesektor und einer Sozialpolitik herzustellen bzw. argumentative Brücken zwischen beiden Bereichen zu bauen, begleitet die gesamte Entwicklungsgeschichte der Grünen. Eine tragfähige Verbindung, warum eine ökologische Orientierung eine bestimmte Sozialpolitik oder ein bestimmtes Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat nach sich ziehen sollte, hat sich aber bis heute nicht etablieren können. In den frühen 1980er Jahren ist aus der Bundestagsfraktion heraus der Versuch unternommen worden, eine „ökologische Sozialpolitik“ als Antwort auf die „ökosoziale Frage“ zu entwickeln. Ökologisch heißt dort aber eher ‚holistisch‘, die Gesellschaft als Gesamtzusammenhang verstehend, denn eine Verknüpfung mit naturbezogenen Politiken. Andere Versuche einer Kombinatorik von ökologisch und sozial wie z.B. „ökosoziale Marktwirtschaft“ oder „Ökosozialismus“ waren in ihrer Logik rein additiv angelegt.



Die Programmatik in diesem Feld konnte sich daher gemäß den engeren Fragestellungen und fachlichen Standards der Sozialpolitik entwickeln, Konflikte folgten den generellen strömungspolitischen Machtkonstellationen. Wer grüne Sozialpolitik begründen wollte, musste nicht ökologisch argumentieren. Gerechtigkeit und Solidarität waren daher zentrale Orientierungsbegriffe. Nach dem Versuch Anfang der 2000er, den Gerechtigkeitsbegriff in eine Vielzahl von Komposita aufzugliedern, von denen heute nur noch Generationengerechtigkeit bekannt ist, ist kein programmatischer Integrationsversuch mehr erfolgreich gewesen.

Konfliktlinien

In den frühen 1980er Jahren trafen Finanzkrise des Sozialstaates, Anstieg von Arbeitslosigkeit und Armut sowie Neuorientierungen bei konservativen Parteien mit dem Aufbruch in der Alternativ- und Ökologiebewegung zusammen. Alternativen zum Sozialstaat wurden auf allen Seiten entwickelt, ein großes Interesse an Grundfragen der Sozialstaatlichkeit entstand. In dieser Zeit erfolgte bei den Grünen eine umfassende Diskussion sozialpolitischer Grundsatz- und auch Detailfragen zu beinahe allen Problemfeldern des Sozialstaates und unter Einbeziehung sowohl staatszentrierter als auch zivilgesellschaftlicher oder alternativ-bewegter Lösungsformen – erst später treten auch marktliche Lösungsvarianten hinzu. Organisierender Grundgedanke dieser Debatten waren aber Varianten eines Grundeinkommensmodells. In der Rentenpolitik wurde ein duales Modell zum Programm in der BT-Fraktion erhoben, das eine (evtl. über Wertschöpfungssteuern) staatlich finanzierte Grundrente in erheblicher Höhe mit der tradierten Sozialversicherung, aber nun zur beitragsfinanzierten Zusatzrente reduziert, kombiniert. Die Kraft des Grundeinkommensmodells verringerte sich jedoch in den 1990er Jahren zugunsten vermittelnder Konzepte wie der bedarfsorientierten Mindestsicherung und ließ auch stärker sozialversicherungsnahe Reformoptionen in den Vordergrund treten.



Zu Beginn der 2000er Jahre traten die Grünen mit der von ihnen erfundenen Bürgerversicherung als Inklusion aller Einkommensarten und aller Erwerbspersonen in die Sozialversicherung an die Öffentlichkeit, eine Idee, die aber schnell von der SPD adaptiert und als sozialdemokratisches Konzept öffentlich perzipiert wurde. Dies traf zusammen mit der Marginalisierung der Grünen in der Sozialpolitik nach dem Verlust des Bundesgesundheits-ministeriums 2001 und während der gesamten zweiten rot-grünen Regierungsperiode von 2002 bis 2005. Da in diese Zeit die mit Hartz IV und Agenda 2010 bezeichneten Reformen fallen, hat die geringe Beteiligung der Grünen an dieser Seite der Regierungstätigkeit trotz der Zustimmung von Fraktion und Partei keine öffentliche Identifikation der Grünen mit diesen bis heute umstrittenen Gesetzen erzeugt, aber auch keinen Zugewinn an sozialpolitischer Kompetenzzuschreibung gebracht.

Auch aufgrund relativ großer Kontinuitäten bei den sozialpolitischen Expert/innen von Partei und Fraktion durchzieht seit den 1980er Jahren die Auseinandersetzung zwischen vier Positionen die Entwicklung grüner Sozialpolitik. Zwischen einer tradierten, den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie näherstehenden Sozialversicherungspolitik, einer haushalts- und finanzpolitisch bestimmten Sozialpolitik der Nachhaltigkeit und der Kontinuität, und den beiden radikaleren Politikansätzen einer universalistischen Sozialpolitik: Bürger/innenversicherung einerseits, bedingungslosem Grundeinkommen andererseits, ist es in diesen über 35 Jahren zu einer Folge von Kompromissen und meist nur kurzzeitigen Dominanzen einer der Positionen gekommen – bei starkem Start für die BGE-Position, ihrer Zurückdrängung für lange Zeit und dem langsamen Vorrücken in den letzten Jahren. Die teils sehr heftig geführten Auseinandersetzungen erfolgten aber meist auf der Basis des Bemühens um finanzpolitische Seriosität mittels Modellrechnungen und einer sehr hohen sozialpolitischen Fachlichkeit, manchmal auch auf Kosten einer öffentlichen Zuspitzung und Sichtbarkeit.



Da es bis heute keine gesetzgeberischen Fortschritte in Richtung einer Bürgerversicherung gegeben hat, wird diese als zentrale Forderung beibehalten, die Aufmerksamkeit verschiebt sich aber von dieser kaum zu realisierenden Forderung fort zu anderen Themen, insbesondere zu der bereits in den 1980er Jahren virulenten Spannung zwischen Sozialversicherungsreformen und Grundeinkommensmodellen. Die Grundeinkommensmodelle könnten nun, anknüpfend an das Modell der Garantierente und das Kindergeld, zunächst für einzelne Gruppen realisiert werden: Eine Grundrente und eine Kindergrundsicherung sind daher die Kandidaten für eine schrittweise Einbeziehung von BGE-Elementen.

Gender, Kinder, Familie

In den 1980er Jahren dominierte eine in den sozialpolitischen Forderungen sehr aktive feministische und radikal auf Gleichheit in der Arbeitsteilung zielende Politik, die jedoch bald unter den Druck strömungspolitischer Fraktionierungen geriet. Die geschlechter- und familienpolitische Engführung der deutschen Sozialversicherungen bildete einen zentralen Ausgangspunkt sozialpolitischen Engagements, abzulesen bereits im Bundesprogramm von 1980. In der Zeit der Beteiligung der Grünen an der Bundesregierung 1998 bis 2005 erfolgten aber keine Durchbrüche in der Gleichstellungs- und Frauenpolitik. Formell wurde das „adult worker model“ zur Regierungsgrundlage, real stützte der Ausbau der Mini- und Midi-Jobs ein Zuverdienerinnenmodell. Die von den Grünen mitgetragene Vereinbarkeitspolitik insbesondere durch den Ausbau der Kinderbetreuungsplätze stützte die grünen Entwicklungsperspektiven. Aber die Erfahrung, dass jede Form der Abschaffung frauenspezifischer Sozialstaatsregelungen wie z.B. der Hinterbliebenenrente eher die Position der Frauen verschlechterte, ließ Reformansätze stagnieren. In den Kernfeldern der geschlechterspezifischen Gestaltung der deutschen Sozialpolitik: der Mitfinanzierung in der GKV, der Hinterbliebenenrente und dem Ehegattensplitting waren und sind keine Durchbrüche zu erreichen, daher stützt sich die sozialpolitische Programmatik heute eher auf kinder- und familienzentrierte Konzepte.

Sozialtransfers und öffentliche Infrastruktur

Die seit Beginn der 2000er Jahre vorgelegten Konzepte einer Kindergrundsicherung, einer Kinderkasse bzw. eines Familienbudgets zielten auf eine Zusammenführung der finanziellen Transfers für Kinder und deren Abkopplung vom Ehestatus der Eltern. Angesichts des erheblichen Finanzvolumens einer bedarfsorientierten Kindergrundsicherung stellte sich aber zunehmend die Frage, in welchem Maße öffentliche Mittel für Transferzahlungen und in welchem Maße für Kinderbetreuungsplätze ausgegeben werden sollten. Die kostenfreie Bereitstellung von Betreuungsinfrastrukturen konnte dabei durchaus als zielgenauerer Weg verstanden werden: zur Sicherung der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie und der Unterstützung von Frauenerwerbstätigkeit, zur unmittelbaren Förderung der Kinder selbst, zur Schaffung von Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Kinder. Die Thematik wurde auch auf einer grundsätzlicheren Ebene aufgegriffen: Ist der kostenfreie Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen nicht der geeignetere Weg als der weitere Ausbau eines Transfersozialstaates? Seit dem Grundsatzprogramm 2002 wird die Forderung nach besseren öffentlichen Gütern und Infrastrukturen für alle neben dem Ausbau der Transferpolitik vertreten. Das Bildungs- und Teilhabepaket sowie insbesondere das 2013 eingeführte Betreuungsgeld verschärften zwar die Kritik an einer bloßen Transferpolitik, die Balance zwischen Transferpolitik und Infrastrukturstärkung ist – trotz der fiskalischen Konkurrenz – bis heute zentrales Element grüner Programmatik.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers zur "grünen Erzählung 2018"