Aus den Fugen

stilisierte Kriegsszene
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Wir befinden uns in einer Krise der Staatenwelt

Das weltpolitische Gefüge ist aus dem Gleichgewicht geraten. Jeden Tag ist von neuen Krisen und Kriegen zu lesen. Doch um die vielen Konflikte zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. Ein Zwischenruf von Joscha Schmierer.

Politisch besteht die globalisierte Welt aus Staaten, die in ihrer Unabhängigkeit durch die UN-Mitgliedschaft beglaubigt und durch die UN-Charta formell garantiert sind. Formell gibt es damit heute kein Fleckchen auf dem Erdball, das nicht innerhalb der Grenzen eines Staates liegt oder - wie diverse Inseln - zwischen Staaten umstritten ist.

Schübe der Staatsbildung

Diese Staatenwelt entstand in mehreren Schüben von Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Herrschaft europäischer Imperien. Oft hatten sie erst nach langen gewaltsamen Auseinandersetzungen Erfolg. Der erste Schub ging vom amerikanischen Befreiungskampf gegen das britische Empire aus. Es folgten die Unabhängigkeitserklärungen gegen die spanischen und portugiesischen Imperien in Lateinamerika sowie die Unabhängigkeitskriege gegen das Osmanische Reich in Südosteuropa. So war  vor dem Ersten Weltkrieg die Welt aufgeteilt zwischen einer Reihe von unabhängig gewordenen Staaten und den verbliebenen europäischen Kolonialreichen und Kontinentalimperien, wie dem russischen Zarenreich, dem Habsburger Reich und dem Osmanischen Reich. Mit Japan war nach dem Sieg im russisch-japanischen Krieg eine neue expansive Großmacht aufgekommen, während das chinesische „Reich der Mitte“ immer mehr zum umstrittenen Beutestück der rivalisierenden europäischen Mächte geworden war. Die USA mischten da ebenfalls mit.

Nach der kolonialen Durchdringung Afrikas und Asiens blieb kein Platz mehr für unbegrenzte Expansion in der Welt. Sie war territorial verteilt, während sich gleichzeitig der andere globalisierende Faktor, der expansive Kapitalismus, grenzüberschreitend entfaltete. In diesem Widerspruch zwischen der territorialen Aufteilung der Welt und der Dynamik eines expandierenden Kapitalismus, der auf politische Territorialherrschaft setzte und sie zugleich unterlief, kann man eine strukturelle Voraussetzung für den Ersten Weltkrieg sehen. In seinem Ergebnis kam es dann zu einem weiteren Schub der Gründung unabhängiger Staaten in Mitteleuropa, die aus der Auflösung der europäischen Kontinentalreiche hervorgingen. Die Auflösung des Osmanischen Reiches nutzten Großbritannien und Frankreich zur Ausdehnung ihrer Kolonialreiche im Nahen und Mittleren Osten.

Im Ausgang des ZweitenWeltkrieges wurden die vor dem Krieg existierenden, jedoch von den Achsenmächten besetzten und teilweise annektierten Staaten formell erneut bestätigt und zugleich dem sowjetischen Imperium und teilweise der Sowjetunion selbst direkt einverleibt. Die sowjetischen Republiken wurden, wie die ostmitteleuropäischen Staaten, UN-Mitglieder. Sie behielten in der UdSSR einen territorial klar umrissenen, freilich abhängigen politischen Status. Das erleichterte später deren Auflösung in die Staatenwelt. Das Gleiche galt für die Auflösung Jugoslawiens in seine Republiken – allerdings erst nach blutigen Auseinandersetzungen. Auf den Kosovo hält Serbien zwar bis heute seinen Anspruch aufrecht und Kosovo ist noch nicht einmal von allen EU-Mitgliedern als Staat anerkannt. Dass der Kosovo innerhalb Jugoslawiens nicht den Status einer Republik hatte erlangen können, erschwert seinen Kampf um Unabhängigkeit bis heute.

In der Umwandlung zentral beherrschter Verwaltungseinheiten ohne ernstzunehmende Souveränität in unabhängige Staaten, wie bei der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens, lauerten natürlich Gefahren, wenn aus den Verwaltungsgrenzen mehr oder weniger harte Staatsgrenzen wurden, die nicht nur traditionelle Ansprüche auf Hegemonie abblockten, sondern auch bestehende gesellschaftliche Verbindungen erschwerten.

Die Umwandlung fremder Verwaltungseinheiten in die eigene Staatsform

Die Auflösung des Sowjetimperiums und der Sowjetunion selbst folgte formal dem Muster der  Dekolonisierung, dem vorhergehenden, größten Schub bei der Ausbildung der Staatenwelt im 20. Jahrhundert. Die Dekolonisierung, das heißt die Gründung neuer unabhängiger Staaten, erfolgte vor allem in Afrika und im Mittleren Osten, teilweise aber auch in Asien in den Grenzen der  Herrschaftsansprüche der Kolonialreiche, die sich aus ihrer  Rivalität untereinander ergeben hatten und nicht aus den Reibungen mehr oder weniger autonomer Staatsbildungsprozesse wie in Westeuropa. Die Form der Unabhängigkeit ergab sich nicht aus der Behauptung gegenüber anderen Staatsbildungsprozessen der Region, sondern aus der Umwandlung einer Verwaltungseinheit der Kolonialmacht in einen unabhängigen Staat. Staat und Gesellschaft standen damit von vornherein in einem gespannten Verhältnis, sowohl was die inneren oft tribalistisch geprägten Herrschaftsverhältnisse als auch was die Grenzen betraf, die gesellschaftlich-regionale Verbindungen willkürlich zerschnitten.

Die Befreiung durch Übernahme der Kolonialform als Staatsform ermöglichte zwar einerseits  einen ziemlich reibungslosen Übergang in die Staatenwelt der UN, verschärfte jedoch andererseits potentielle Konflikte, indem diese nun als Fragen von Herrschaft und Vorherrschaft auftraten. Im Kongo bilden diese Konflikte bis heute Grundlage militärischer Auseinandersetzungen, in Nigeria brachen sie bald nach der Unabhängigkeit als Krieg zwischen dem Zentralstaat und dem nach Unabhängigkeit strebenden Biafra aus. In der Zeit des Vietnamkrieges und der antikolonialen Befreiungskriege in Afrika warf der Biafrakrieg (1967 – 1970) ein neues, in der antikolonialen Befreiungslogik eigentlich nicht vorgesehenes Problem auf: Wie sollte man mit ethnisch und religiös geprägten Separationsbewegungen in den neuen Staaten umgehen? Musste nicht das ganze postkoloniale Staatsbildungskonzept in Gefahr geraten, wenn solchen Bewegungen nachgegeben wurde? Die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und Vereinten Nationen stellten sich lange gegen alle Separationsbestrebungen in den neuen Staaten. Es dauerte Jahrzehnte, bis es zu einer vertraglichen Lostrennung Eritreas von Äthiopien und des Südsudans vom Sudan kam.

Hatte sich die britische Kolonie Indien mit der Unabhängigkeitserklärung nach religiösen Gesichtspunkten unter schmerzhaften Bevölkerungsverschiebungen in Indien und Pakistan aufgelöst, kam es in der Auseinandersetzung um die Lostrennung Bangladeshs von Pakistan (1971/2) ebenfalls zu einem blutigen Krieg, in dessen Verlauf wieder der  gesamte postkoloniale Staatsbildungsprozess auf dem Spiel zu stehen schien. Öffnete die UN, wenn sie Bangladesh  die Unabhängigkeit zuerkannte, angesichts der Minoritätenkonflikte in Birma, den Philippinen und anderswo nicht die Tür für immer neue Aufsplitterung der unabhängig gewordenen Staaten?

Aber von diesen regional begrenzten Konflikten, selbst wenn sie sich zu Großkonflikten auswuchsen, wie in den Kriegen zwischen Indien und Pakistan, drohte noch keine Gefahr für die Weltordnung. Die Welt wurde in den Zeiten der Blockkonfrontation ohnehin nicht von einer kohärenten Weltpolitik der internationalen Gemeinschaft, sondern durch einen Blockmechanismus des Gleichgewichts des Schreckens zusammengehalten.

Welche Fugen? Welcher Welt?

Die Welt sei aus den Fugen, ist in den letzten Monaten oft zu hören. Besonders aus dem Mund des Außenministers Frank-Walter Steinmaier. So wurde ihm gegenüber in einem Interview der ZEIT  vom 23. Oktober diesen Jahres rein additiv eine Reihe von sich überschlagenden Krisen, „Ukraine, Gaza, Irak, Syrien, Ebola“ aufgezählt und wurde anschließend gefragt, ob er mit seiner Metapher den Menschen „nicht noch mehr Angst“ mache. Steinmaier antwortete, er glaube, die Formulierung treffe „ein Gefühl, das die Menschen tatsächlich haben. Solange ich in der Politik bin, kann ich mich an keine Situation erinnern, in der wir eine solche Vielzahl tiefgreifender Krisen und Konflikte mit so unberechenbaren Akteuren zur gleichen Zeit hatten. Trotzdem wäre es falsch in Katastrophensprache zu verfallen.“

Also sollte man sich nicht mit einer Aufzählung von Krisen begnügen und eher fragen, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen diesen Krisen gibt, um daraus Erkenntnisgewinne zu ziehen und, wie die Amerikaner sagen würden, vielleicht gar eine „Grand Strategy“ zu entwickeln.

Welche Fugen? Welcher Welt? Darauf müsste man die durchaus treffende Metapher abklopfen. Die Fugen an den Nahtstellen der Staatenwelt halten diese zusammen, indem sie zugleich die Staaten auseinander halten. Souveränität ist in dieser Welt kein egomanes Herrschaftskonzept, sondern Ausdruck des Anerkennungsverhältnisses der Staaten untereinander als Staaten.

Es handelt sich heute um eine Krise der Staatenwelt, wie sie nach Auflösung des Sowjetblocks und der Sowjetunion ihrem Begriff vollends zu entsprechen schien. Keine Imperien und Kolonialreiche mehr, keine Supermächte, nur noch formell unabhängige Staaten, in einer Welt von Staaten, deren Grenzen untereinander anerkannt sind in einer Organisation der Vereinten Nationen, die im Unterschied zum Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg wirklich global ausgelegt ist, in ihrer Präambel sich auf universelle Prinzipien beruft und im Sicherheitsrat ein Organ besitzt, das als globale Ordnungsmacht wirken kann, wenn der Frieden gefährdet wird. Für einen Moment hat die Staatenwelt auch genau so gewirkt.

Die paradigmatische Bedeutung der Irakkriege

Als Saddam Hussein sich 1990 mit Kuwait einen seiner Hauptgläubiger aus dem Irak-Irankrieg vom Leib schaffte, indem er das Land militärisch besetzte, zur irakischen Provinz erklärte und es dem Irak einverleibte, um so mit den Mitteln aus den kuwaitischen Ölquellen zugleich zur beherrschenden Regionalmacht zu werden, autorisierte der Sicherheitsrat eine militärische Aktion, um die Besetzung Kuwaits zu beenden. Unter militärischer Führung der USA wurde Kuwait, ein UN-Mitglied, befreit, die Invasionsarmee zurückgeschlagen, ohne den Krieg über das UN-Mandat hinaus gegen den Irak, ein anderes UN-Mitglied, selbst fortzusetzen.

Die Fugen der Staatenwelt, das geregelte Grenzregime zwischen UN-Mitgliedern, wurden in einem paradigmatischen Fall neu gefestigt. Der UN-Rahmen wurde gesichert, indem der Sicherheitsrat seine Rolle als Ordnungsmacht wahrnahm und die Allianz, die das UN-Mandat umsetzte, sich an die Grenzen dieses Mandats hielt.

Die Staatenwelt war aus der Welt europäischer Imperien hervorgegangen. Viele Staaten bleiben von den Narben dieser Herkunft gezeichnet. Viele Staaten sind seit ihrer Entstehung durch Bürgerkrieg und Staatszerfall gefährdet. Sie bleiben auf die Garantie der UN angewiesen. Die gegenwärtige Krise der Staatenwelt ist deshalb so gefährlich, weil ihre Fugen von zwei Seiten her angefressen werden. Von innen durch ethnisch-religiöse Bürgerkriege wie im Irak und in Syrien, aber auch in Staaten wie Libyen, Mali oder Nigeria. Man kann die Reihe fortsetzen in Afrika, aber auch in Asien.

Bürgerkriege schaffen immer auch Einfallstore für äußere Interventionen, Interventionen von rivalisierenden Regionalmächten und Weltmächten. Und hieraus nährt sich die andere Tendenz der Zerstörung der Staatenwelt: die Tendenz zur Re-Imperialisierung, zur Erneuerung von Imperien. Sie kann sich als zeitnaher Anschlussversuch an eine erst gerade beendete imperiale Vergangenheit zeigen, wie im Fall von Russland und in seinen Versuchen, Teile von Georgien und der Ukraine oder eben auch die ganzen ehemaligen Sowjetrepubliken erneut zu beherrschen und ihre Unabhängigkeit wieder einzukassieren. Sie kann sich auch darin zeigen, dass in einer Bürgerkriegslandschaft auf einmal die Erinnerung an eine lang untergegangene imperiale Vergangenheit aktuell wird und die Möglichkeit, diese Vergangenheit wieder zu beleben und ein Großreich wiederherzustellen, attraktiv und real erscheint. Die Beschwörung der Wiedereinrichtung eines Kalifats ist die arabisch-islamistische Variante der Wiederherstellung imperialer Territorialherrschaft.

Und die Neigung zu imperialer Herrschaft kann sich auch darin zeigen, dass ein Staat wie die USA, der aus der Lostrennung von einem europäischen Kolonialreich entstanden ist und der trotz einer langen kontinentalen Expansionsgeschichte in der internationalen Sphäre eher eine antiimperiale Tradition vertritt, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in einen außenpolitischen Taumel gerät.
Leider muss man sagen, dass dieser imperiale Taumel der USA, der den „Krieg gegen den Terror“ mit der Ausdehnung seiner territorialen Vorherrschaft gewinnen wollte, den entscheidenden Anstoß zu der Serie von Krisen gegeben hat, die einen zu Recht von einer „Welt aus den Fugen“ reden lässt.

In meinen Regalen finden sich dutzende von Büchern, die sich in den letzten zehn Jahren mit den USA als Imperium euphorisch oder kritisch beschäftigen. Der Übergang in der Selbstwahrnehmung von der einen übrig gebliebenen Supermacht von zweien zur einzig verbliebenen Supermacht, die sich dann zunehmend als Imperium versteht, das zum Wohle der Welt schalten und walten kann und muss, wie es seinem Auftrag entspricht, ist frappierend. Die amerikanische Journalistin Joan Didion zeigt in ihrem Aufsatz „Starre Positionen oder der Angelpunkt der Geschichte“ wie dieser Rausch eher die politische Klasse in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit versetzte, als die Nation, auf deren Interesse sich doch all die Euphoriker des unipolaren Moments beriefen.

Der unipolare Moment war illusionär. Zum Glück  beherrschte diese Illusion, alles nach eigenem Gusto einrichten zu können, die amerikanische Führung nicht allzu lang. Mit den Folgen dieser politischen Illusion muss sich jetzt Barack Obama herumschlagen, der den imperialen Irrweg als einer der wenigen wichtigen amerikanischen Politiker ja zu keinem Zeitpunkt teilte. Er muss sich heute von Gorbatschow sagen lassen, dass die USA, indem sie sich als Sieger des Kalten Krieges verstanden, die Chance von 1989 verspielten. Man preist Gorbatschow als Helden des Rückzugs, aber seine Kritik westlicher Machtpolitik möchte man am liebsten überhören.

Wahr ist, dass der selbstherrlich und trotz ablehnender Haltung des Sicherheitsrats der UN wieder aufgenommene Krieg gegen den Irak ein entscheidender Schlag gegen die Fugen der Staatenwelt war und dies in doppelter Hinsicht: Er initiierte und beschleunigte den Zusammenbruch des Staatensystems in „Greater Middle East“, wo die USA als der große „Demokrator“ auftreten wollten, und er legte der verbliebenen Großmacht Russland nahe, dass sie die alten Wege erneut einschlagen müsse, um vom Westen und den USA wieder als Großmacht ernst genommen zu werden. Das ist wohl das entscheidende Motiv für den russischen Expansionskrieg gegen die Ukraine, der sich leider auf innerukrainische Widersprüche stützen kann.

Putin ernst nehmen, aber nicht überschätzen

Joschka Fischer meint, Putin versuche „nicht weniger als die Widerherstellung des Weltmachtstatus Russlands. Um mit dieser Revision erfolgreich zu sein, bedarf es neben des erneuten Anschlusses der nach 1991 verlorenen gegangenen Gebiete noch eines weiteren Schritts, nämlich des direkten Zugangs zu Europa und der Wiederherstellung seines Einflusses dort als Großmacht, zumindest in Osteuropa.“ (Vorabdruck aus seinem Buch „Scheitert Europa?“ in der Zeit vom 9.10.14) Damit macht sich Fischer den Begriff der Weltmacht und Großmacht alarmistisch zu eigen, den er Putin wahrscheinlich zu Recht als Konzept unterstellt. Formell und auch tatsächlich hat aber Russland die Stellung als Welt- und Großmacht mit der Auflösung der Sowjetunion nicht verloren, auch wenn es zeitweise so aussah, als könne es dieser Rolle nicht mehr gerecht werden. Verloren hat Russland die Stellung einer von zwei Supermächten. Diesen Verlust teilt es mit den USA, denn Supermächte waren die beiden Staaten nur durch den Ordnungsmechanismus des Blockgegensatzes und nicht durch eine immanente Übermacht, die die Welt hätte veranlassen müssen, sich ihren Ansprüchen im Interesse der Weltordnung unterzuordnen.

Wie die USA hat Russland die herbe Aufgabe zu lernen, dass auch die Rolle einer Welt- und Großmacht nur als Staat unter Staaten wahrgenommen werden kann. Das ist offensichtlich ein schwieriger Lernprozess, in dem die USA schon einiges Unheil angerichtet haben. Daraus leitet Putin offensichtlich ab, er hätte noch einige Lernschritte gut und könne seinerseits noch viel Porzellan zerschlagen. Da Russland immanent trotz Atombombe und Rohstoffen en masse weniger Macht aufweisen kann, als die USA, wird Putin vielleicht schneller lernen als George W. Bush, den er sich als Vorbild zu nehmen scheint.

Mit dem Angriff auf die Ukraine wird Putin nicht der erste Schritt zur Beherrschung Europas gelingen. Es zeigt sich nur, dass Russlands Militär wieder ernst zu nehmen ist, und dass Putin meint, es auch als politischen Trumpf in seiner Nachbarschaft geltend machen zu können. Tatsächlich untergräbt er damit Russlands verbliebene Attraktionskraft für sein eurasisches Integrationsprojekt, gegen das, wenn es zivil bleibt, keine europäischen Interessen sprechen. Putins eventuelle Hoffnung, durch sein Vorgehen den Einfluss im Westen Europas ausweiten und stärken zu können, ist illusorisch. Dagegen ist das Vorhaben, sich durch die putschistische Reaktion auf den Verlust an Einfluss in der Ukraine und seine beharrliche Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien gewaltsam und voller Trotz auf der internationalen Bühne zurückzumelden und Russlands durch die UN-Charta eingeräumte privilegierte Rolle im Sicherheitsrat und damit seine globale Geltungsmacht in Anspruch zu nehmen, Erfolg versprechender. Es war nicht sonderlich klug, praktisch davon auszugehen, dass Russland mit der Auflösung der Sowjetunion auch die Großmachrolle verloren hätte.

Die UN zu stärken, muss das strategische Ziel sein

Die Bundesregierung will die Bundesrepublik als „Gestaltungsmacht“ verstanden wissen. Wenn sie das ernst meinte, müsste sie alles daran setzen, über die UN einen Waffenstillstand im syrischen Bürgerkrieg zu initiieren, der den imperialen Kalifatsbestrebungen des IS den Boden entzieht, und Russland in seiner Verantwortung als Großmacht und ständiges Mitglied des Sicherheitsrates anerkennt, ernstlich herausfordert und in die Pflicht nimmt. Das schließt natürlich ein, dass man Assad als Führer einer Bürgerkriegspartei akzeptiert und von Russland nicht als erstes verlangen kann, Assad fallen zu lassen.

In der Ukraine zeigt Russland, wie sehr es dem Westen immer noch wehtun kann. In Syrien könnte der Westen Russland signalisieren, dass er immer noch weiß, wie sehr er die Zusammenarbeit mit Russland weltpolitisch braucht. In der Ukraine auf der Geltung des Völkerrechts gegenüber den imperialen Ansprüchen Russlands zu bestehen, sollte in Bezug auf Syrien nicht verhindern, die Rolle und Bedeutung Russlands als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates ernst zu nehmen. Über diesen Umweg könnte auch die Ukraine gewinnen.

Aus der doppelten Gefährdung der Staatenwelt durch innere Zerfallstendenzen und globale Versuche, imperiale Vormacht wiederherzustellen, folgt für die deutsche und europäische Politik als strategisches Ziel, die UN als Organisation der Staatenwelt zu verteidigen und zu stärken. Das verlangt auch, mit der Spannung zwischen der Verpflichtung auf universelle Rechte in der Präambel der UN-Charta und dem immer schon heterogenen, weil rein unter Machtgesichtspunkten verfassten Sicherheitsrat als globaler Ordnungsmacht sorgsam umzugehen, und nicht unter Berufung auf Universalien die notwendig pragmatische Auseinandersetzung um die Handlungsfähigkeit der UN zu unterlassen.

Garant der UN zu sein, kommt der EU als Selbstverpflichtung zu, denn letzten Endes ist die Staatenwelt ein spezifisch europäisches Produkt: Europa hat die imperiale Globalisierung vorangetrieben und es hat dann aus der Zurückstutzung der europäischen Imperien  auf die Mutterländer der Kolonialreiche und den nationalen Kern der mitteleuropäischen Kontinentalreiche den Weg frei gemacht für die globalisierte Staatenwelt und die regional begrenzte EU. Die UN sind nichts anderes als der institutionalisierte Versuch, die Staatenwelt global zu stabilisieren und damit einen entscheidenden Beitrag zur Integration der globalisierten Welt zu leisten. Das wird noch viel Anstrengung, Geduld und langen Atem verlangen. Dicke Bretter zu bohren, ist dagegen ein Kinderspiel.