Viel Prozess und wenig Frieden
Von Christian Sterzing
Die Einladungen sind noch nicht verschickt, doch seit Wochen schon wird über das Ergebnis der von der US-Regierung geplanten Nahostkonferenz in Annapolis (Maryland) spekuliert. Die hektische Reisediplomatie der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice in der nahöstlichen Region während der letzten Wochen deutet darauf hin, dass die Amerikaner ein Scheitern nicht hinnehmen werden. In der Region ist aufgrund der politischen Konstellationen allerdings auch bei notorischen Optimisten die Hoffnung auf einen substanziellen Erfolg des geplanten Gipfeltreffens wenig ausgeprägt.
Auch der größte Koalitionspartner, die sozialdemokratische Arbeitspartei des neuen Verteidigungsministers Ehud Barak, zeigt keine Begeisterung für die friedenspolitischen Perspektiven eines Gipfeltreffens. Barak präsentiert sich mit militärischen Kommandoaktionen und gezielten Tötungen Terrorverdächtiger lieber als Hardliner denn als Friedenspolitiker. Der unpopuläre Ministerpräsident Olmert versucht dagegen den politischen Spagat zwischen der Besänftigung seiner rechten Koalitionspartner einerseits und der Bekräftigung seiner Gesprächsbereitschaft andererseits. Um einen Koalitionsbruch zu vermeiden, versichert er seinen Partnern, dass in Annapolis nichts Wesentliches beschlossen werden wird, geriert sich aber gleichzeitig als pragmatischer, dialogorientierter Staatsmann. Ob nun die Folgen des Libanon-Krieges, Korruptionsaffären, persönliche Rivalitäten oder politische Differenzen im Vorwahlkampf – es mangelt der israelischen Regierung derzeit an Handlungsfähigkeit.
Palästina: Komplexe Gemengelage
Aber auch die palästinensische Regierung glänzt nicht gerade mit Handlungsfähigkeit. Die palästinensischen Gebiete sind geografisch wie politisch gespalten. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas ringt im Machtkampf mit der Hamas auch um sein politisches Überleben. Durch die gewaltsame Machtübernahme der Hamas-Bewegung im Gazastreifen hat er seit Juni 2007 nicht nur die Hälfte „seines“ Territoriums, sondern auch an politischem Gewicht verloren. Ist er überhaupt noch ein ernstzunehmender und handlungsfähiger Verhandlungspartner? Zunächst machte er sein Erscheinen in Annapolis von der Behandlung der so genannten Endstatus-Fragen wie Jerusalem, Grenzverlauf, der Siedlungspolitik und des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge abhängig. Doch dieser Zahn wurde ihm von der amerikanischen Außenministerin Rice schnell gezogen: In Annapolis werde nichts besprochen, was den Interessen Israels widerspricht. Die anfangs besonders unter Palästinensern verbreitete Hoffnung, in Annapolis werde eine „Friedenskonferenz“ stattfinden, die sie einem eigenen palästinensischen Staat näher bringt, war damit zerstoben.
Seit Juni propagieren die amerikanische und israelische Regierung nun unisono die Unterstützung des palästinensischen Präsidenten. Doch es gibt nur zwei Möglichkeiten, Mahmud Abbas politisch den Rücken zu stärken: die Aufnahme echter Verhandlungen über eine Konfliktregelung und/oder eine spürbare Erleichterung der Lebenssituation der Palästinenser. Von beiden Optionen hat die israelische Regierung bislang keinen Gebrauch gemacht. Die Weigerung, auch in Annapolis die zentralen Fragen anzupacken, beraubt die Palästinenser weiterhin einer ernstzunehmenden politischen Perspektive. Abbas ist damit bisher in den Augen der Palästinenser den Beweis schuldig geblieben, dass seine Absage am gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzung und seine erklärte Verhandlungsbereitschaft irgendwelche Früchte tragen. Solange der Ausbau der völkerrechtswidrigen Siedlungen voranschreitet, die israelische Politik ethnischer Trennung fortgesetzt und am „Sicherheitszaun“ aus Mauer und Stacheldraht weitergebaut wird, solange tägliche Verhaftungsaktionen vorgenommen werden und palästinensisches Land beschlagnahmt wird, reichen symbolische Gesten nicht aus. Damit ist jedoch der primäre Zweck des Treffens in Annapolis gefährdet, nämlich eine breite Unterstützung für den palästinensischen Präsidenten in seiner Auseinandersetzung mit der nationalistisch-islamistischen Hamas zu organisieren.
Integration oder Isolation der Hamas?
Nach der Niederlage seiner Fatah im Machtkampf mit der Hamas im Gazastreifen hat Präsident Abbas sich der westlichen Strategie einer fast vollständigen Blockade und Belagerung des Gazastreifens angeschlossen. Er verweigert auf amerikanischen Druck jedes Gespräch mit der Hamas, obwohl diese nicht müde wird, Verhandlungen über eine neue gemeinsame Einheitsregierung anzubieten. „Blühende Landschaften“ auf der Westbank und Chaos und soziale Katastrophe im Gazastreifen sollen die Palästinenser veranlassen, von der Hamas abzulassen und der Fatah und ihrem Präsidenten zu folgen. Doch diese Strategie wird auch in der Westbank nicht überall gutgeheißen. Eröffnet oder verhindert die derzeitige politische Spaltung in den palästinensischen Gebiete neue Chancen für eine Friedensregelung? Kann ein Frieden, der nur mit der „Hälfte Palästinas“ geschlossen wird, dauerhaft sein? Selbst wenn es gelingt, Hamas im Gazastreifen von der Macht zu vertreiben, hat man „die Islamisten“ damit endgültig in die Knie gezwungen?
Umstritten bleibt, ob man – zumindest mittelfristig – auf eine politische Annäherung zwischen den Kontrahenten verzichten kann. Denn eine politische Kraft, die bei den letzten Parlamentswahlen mehr als 40 Prozent der Stimmen gewann, wird nicht spurlos verschwinden. Die westliche Boykottstrategie hat jedoch die militanten Kräfte innerhalb der Hamas gestärkt und moderate Fraktionen in der Bewegung ins Abseits befördert. Gewiss ist im Augenblick nur, dass vor Annapolis keine Gespräche zwischen Hamas und Fatah stattfinden dürfen, denn dies wäre für Israel Anlass für einen Abbruch aller Gespräche und damit ein Grund für das Scheitern von Annapolis – bevor überhaupt die Einladungen versandt worden sind. Politische Kräfte in den palästinensischen Gebieten (auch innerhalb von Fatah), die gegen eine Isolation von Hamas und für eine Integration in den politischen Prozess plädieren, fürchten deshalb die Nahostkonferenz: Im Falle eines Erfolgs könnte sie die palästinensische Gesellschaft noch mehr spalten, im Falle des Scheiterns den Präsidenten Abbas und seine Fatah noch mehr schwächen und Hamas neuen Auftrieb geben.
Aber was wäre in einer solchen Situation denn überhaupt als ein friedenspolitischer Erfolg zu werten, wenn danach einem israelischen Ministerpräsidenten die Regierung zerfällt und das gespaltene Palästina implodiert?
Scherbenhaufen westlicher Nahostpolitik
Doch nicht nur die komplexen innenpolitischen Gemengelagen sowohl in Israel als auch in Palästina dämpfen die Erwartungen. Das Vertrauen in ausgewogene amerikanische Vermittlungsbemühungen ist nicht gerade groß. Ob sich die politischen Versäumnisse und Fehlentscheidungen des Westens im Nahen Osten mit einem Gipfeltreffen korrigieren lassen, darf bezweifelt werden. Folgenlose Bekenntnisse zur Zwei-Staaten-Regelung füllen schon heute die Archive. Allein für den schwierigen Weg dorthin fehlte bislang der politische Wille. Amerikaner und Europäer haben in den letzten Jahren unter völliger Ignoranz des Völkerrechts eine Entwicklung zugelassen und gefördert, die die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels immer schwieriger macht. Mit der finanziellen Boykott- und politischen Isolierungsstrategie gegenüber der demokratisch gewählten Hamas haben sie in der Region der Glaubwürdigkeit westlicher Demokratieförderung schweren Schaden zugefügt, die Radikalen gestärkt und Palästina an den Rand einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe geführt. Dieser Scherbenhaufen der Nahostpolitik wird sich so schnell nicht wieder kitten lassen.
Die US-Regierung legte bislang kein Konzept vor, das den sich in der Annapolis-Konferenz manifestierenden amerikanischen Führungsanspruch im Nahen Osten legitimieren könnte. Weder eine Strategie, noch ein Fahrplan für das weitere Vorgehen sind erkennbar. Dennoch ist es ihr gelungen, das Nahost-Quartett (bestehend aus den USA, UN, Russland und EU) zu marginalisieren und die EU wieder vom Player zum Payer in der Region zu degradieren. Damit wird auch deutlich, dass Kanzlerin Merkel mit ihrem Vorhaben, während der deutschen EU-Präsidentschaft das Quartett wiederzubeleben und seine Rolle im nahöstlichen Gesprächsprozess zu stärken, gescheitert ist. Die EU und das Quartett werden bestenfalls Zaungäste in Annapolis sein.
Der von Außenminister Steinmeier nun präsentierte „EU-Aktionsplan für den Nahen Osten“, mit dem der bislang fiktive Friedensprozess flankiert werden soll, stellt den verzweifelten Versuch dar, die EU wieder ins Spiel zu bringen. Ob man die zweifellos guten Absichten allerdings in die Tat umsetzen kann, ohne auf Veränderungen in der israelischen Besatzungspolitik zu bestehen, bleibt fraglich. Wie will man zum Beispiel kleine und mittlere palästinensische Unternehmen fördern, wenn sie aufgrund der Bewegungsbeschränkungen keinen Zugang zu den Märkten finden? Wie will die EU glaubhaft den Aufbau demokratischer Institutionen in Palästina unterstützen, wenn etwa ein Drittel der Abgeordneten des einzigen demokratisch gewählten Parlaments der arabischen Welt in israelischen Gefängnissen sitzt, ohne dass darüber ein Wort verloren wird? Und wie soll die Bildungsförderung für palästinensische Kinder bewerkstelligt werden, wenn die israelische Regierung die Lieferung von Papier in den Gazastreifen für den Druck von Schulbüchern unterbindet?
Ein Neuanfang?
Als Ausweg aus den vielfältigen Dilemmata der Beteiligten zeichnet sich nun das folgende Szenario für Annapolis ab: Da substanzielle Ergebnisse nicht zu erwarten sind, werden sich die Beteiligten in Anwesenheit wichtiger Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft (Arabische Liga, G8, Nahostquartett, Organisationen der islamischen und der blockfreien Staaten) auf die Bekräftigung von Altbekanntem in Form einer „Prinzipienerklärung“ beschränken. Zurückgreifen will man auch auf die road map von 2002, die in den letzten Jahren schon in den Schubladen diverser Nahost-Akteure reichlich Staub angesetzt hat. Schon über die Umsetzung der ersten Phase dieses Drei-Stufen-Fahrplans konnte man sich bislang nicht einigen. Denn in ihr werden sowohl die Beendigung des Terrors und der Gewalt von den Palästinensern als auch die Einstellung der Siedlungstätigkeit von Israel gefordert – genug Stoff, um sich bis heute ergebnislos über die Reihenfolge zu streiten. Die Nahostkonferenz soll nun nicht das Ende von Verhandlungen, sondern deren Neuanfang markieren. Die israelische Regierung hat zugestanden, dass schon am Tag nach Annapolis mit substanziellen Verhandlungen begonnen werden könne. Ein zeremonieller Eröffnungsakt für einen Friedensprozess bahnt sich somit an, mit vielen feierlichen Reden und Bekenntnissen zu Prinzipien. Die Palästinenser können sicher sein, dass sich ihre bittere Realität der Okkupation durch dieses Ereignis nicht verändern wird. Und wenn der einmal in Gang gesetzte Friedensprozess nicht bald konkrete Ergebnisse zeitigt, dann werden sie wieder zu Recht sagen: „Viel Prozess, wenig Frieden“.
Christian Sterzing ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.
(erschienen in Stachlige Argumente)