Archivierter Inhalt

Ratko Mladić und der Genozid in Bosnien-Herzegowina

Pro-Mladic-Aktivitäten in Belgrad Ende Mai, Foto: Wolfgang Klotz (Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad), Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

1. Juni 2011
Dr. Dennis Gratz
Von Dr. Dennis Gratz, Jurist und Präsident der Partei „Nasa stranka“, Sarajevo
Aus dem Bosnischen ins Deutsche: Alma Sukić

Belgrad bereitet sich auf die erwarteten Proteste vor, überall in Serbien und Bosnien-Herzegowina werden Demonstrationen zur Unterstützung des per internationalen Haftbefehl gesuchten Generals organisiert und die Wut und Unzufriedenheit über seine bevorstehende Auslieferung an das Tribunal in Den Haag zum Ausdruck gebracht. Andere feiern und danken Präsident Tadić und der serbischen Regierung, oder aber, wie die vielen Opfer Mladićs, konstatieren stumm und verbittert, dass der Gerechtigkeit - wenn überhaupt - nur teilweise genüge getan wurde.

Unter welchen Umständen und aus welchen Gründen General Mladić von den serbischen Sicherheitsbehörden aufgespürt und verhaftet wurde, und welche Auswirkungen dies auf die politische Lage im Nachbarstaat (aber auch den Staaten der Region) haben wird, bleibt noch einige Zeit Gegenstand für Diskussionen, Analysen, Vorhersagen und unumgänglichen Verschwörungstheorien. Aber außerhalb dieser politischen und politisierten Implikationen der entgültigen Übergabe Mladićs an die Justiz, scheint der vielleicht wichtigste Aspekt dieses Falls in den Hintergrund gerückt zu sein; nämlich das Gerichtsverfahren gegen General Mladić vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, oder um es einfach auszudrücken, die Frage nach seiner strafrechtlichen Verantwortung für die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt werden. Es entsteht der Eindruck, dass Mladićs Verantwortung für das Blutbad in Bosnien-Herzegowina für einen Teil der Öffentlichkeit bereits fest steht und dass seine Verhaftung bzw. seine langjährige Flucht ausreichend Beweis für seine Schuld sind.

Fest steht, dass uns mit dem Fall IT 95-5/18 ein langwieriges und kompliziertes Verfahren erwartet. Der Ausgang ist in diesem Augenblick, besonders angesichts des angeschlagenen Gesundheitszustandes des Angeklagten, völlig ungewiss. Aber gehen wir einmal davon aus, dass das Haager Tribunal alles dafür tut, damit das Szenario von Slobodan Miloševićs Verfahren nicht wiederholt wird, der wegen der umfangreichen Anklageschrift aber auch wegen der beabsichtigten Verzögerungstaktik seinerseits und dem Ausbleiben der angemessenen verfahrenstechnischen Gegenmaßnahmen sein Urteil nicht mehr erlebte. Vermutlich wird die Staatsanwaltschaft im Sinne eines zügigen Verfahrens Beweismaterial aus anderen, bereits verhandelten Verfahren verwenden, von dem die größte Relevanz jenes haben wird, das wegen der Verantwortung für den in Srebrenica begangenen Genozid verwendet wurde.

Auch die Ankläger werden in der Beweisaufnahme für die in der Anklageschrift beinhalteten Straftaten ihre Arbeit mit dem laufenden Verfahren gegen den politischen Serbenführer Radovan Karadžić koordinieren. Es ist nicht auszuschließen, dass diese beiden Verfahren zusammengelegt werden, da sich die Anklage gegen Mladić in Umfang und Struktur größtenteils mit der gegen Karadžić deckt (die Vorwürfe gegen Karadžić und Mladić waren ursprünglich in einer gemeinsamen Anklageschrift für die gleichen Verbrechen enthalten, die Fälle wurden nach Karadžićs Verhaftung im Jahr 2008 jedoch  getrennt, um die Verhandlung gegen Karadžić ohne den noch immer flüchtigen Mladić beginnen zu können).  Ziehen wir all diese Vermutungen in Betracht, wird der Ausgang der Verfahren gegen Ratko Mladić und Radovan Karadžić in gewisser Weise  den Charakter des Krieges in Bosnien-Herzegowina bestimmen, bzw. eine Antwort geben auf die Frage nach dem Grund und dem Ziel dieses Krieges, und inwieweit die Auswirkungen dieses Krieges bestimmt sind durch das, was in der Anklageschrift als „gemeinsames kriminelles Unternehmen“ (joint criminal enterprise) benannt wird.  

Gemäß den teilweisen Ergänzungen von gestern werden General Ratko Mladić elf Anklagepunkte zur Last gelegt, wovon in zwei Punkten die Anklage auf Genozid lautet. Neben dem Verbrechen des Genozids (Verschwörung zum Genozid wurde als Anklagepunkt fallengelassen, was das Tribunal mit seiner Absicht begründete, die Anklageschrift im Bezug auf die individuelle Verantwortung des Angeklagten zu aktualisieren, zu erläutern und zusätzlich zu zergliedern), werden General Mladić auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzung der Kriegsrechte oder Gebräuche zur Last gelegt. Darin enthalten sind Verfolgung aufgrund politischer und rassistischer Motive, Ausrottung, Mord und Deportation, sowie widerrechtliches Terrorisieren und unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung, Angriffe auf die Zivilbevölkerung und Geiselnahmen.

Die Anklage umfasst dabei den Zeitraum von 1992 bis 1995 und behandelt dabei Verbrechen, die auf dem gesamten Territorium von Bosnien-Herzegowina begangen wurden. Das vielleicht wichtigste dabei ist, dass General Mladić wegen der Durchführung des Genozids angeklagt wird, also dass er als Einzelner oder in Absprache mit anderen Beteiligten in einer „gemeinsames kriminelles Unternehmen“ die Planung, Vorbereitung und Durchführung der beabsichtigten teilweisen Vernichtung der nationalen, ethnischen Rasse oder religiösen Gruppe der Bosniaken als solcher geplant, gefördert, befohlen oder durchgeführt habe, und zwar nicht nur in Srebrenica, sondern auch in den Orten Ključ, Kotor Varoš, Prijedor und Sanski Most. Dies umfasst also Orte, an denen während der gesamten Dauer der bewaffneten Konflikte in BuH Massenmorde an der nicht-serbischen Bevölkerung verübt wurden. Das ist besonders wichtig im Hinblick darauf, dass die Rechtswissenschaftler/innen, Historiker/innen und die Öffentlichkeit noch immer darüber diskutieren, ob die Massenermordungen der Bosniaken in Zvornik, Foča, Prijedor oder Sanski Most als Straftatbestand des Genozids qualifiziert werden können.

Bezeichnend ist jedoch, dass genau die Anklageschriften gegen Karadžić und Mladić als Duo, das angeklagt wird, Anführer dieser gemeinschaftlichen Straftat zu sein, die Massenmorde beinhalten und diese in der Anklageschrift als Genozid bewertet werden. Auch wenn der Vorsatz für einen Genozid als äußerst schwierig zu beweisen gilt, beharrte das Haager Tribunal auch bei den letzten Ergänzungen und Änderungen der Anklageschrift auf diesen Punkt der Anklageschrift gegen General Mladić, und mit Sicherheit wird genau diese Entscheidung des Haager Tribunals wichtigere juristische und politische Implikationen haben als beispielsweise das Urteil gegen General Radislav Krstić wegen des im Juli 1995 verübten Genozids in Srebrenica als erstes Urteil dieser Art für Massenmord, der in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verübt wurde.

Der Erinnerung halber: General Radislav Krstić in seiner Funktion als Stellvertreter, bzw. Kommandant des Drina Corps der Armee der Republika Srpska (VRS), einer Militäreinheit, deren Mitglieder Massenexekutionen verübt und die Leichen verscharrt, umgegraben und in sekundäre Gruben umgeschaufelt haben, wurde in zweiter Instanz für die Teilnahme und Beihilfe zur Ermordung von mehr als 8.000 Männern und Jungen aus der Enklave Srebrenica verurteilt. Dieses Verbrechen wurde im Urteil als Genozid an einem Teil der bosniakischen Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina (genocide-in-part) qualifiziert. Das Urteil in erster Instanz, durch das Krstićs Schuld am Genozid bestätigt und für das er zu 46 Jahren Haft verurteilt wurde, wurde geändert und die Haftstrafe auf 35 Jahre verkürzt, da Krstićs Verteidiger die Schuld für den Befehl zu den Erschießungen an General Mladić als den Oberbefehlshabenden der Armee der Republika Srpska (VRS) weitergab, der sich im kritischen Zeitraum vom 10. bis 19. Juli 1995 in Srebrenica befand und unmittelbar die Durchführung seiner Befehle beaufsichtigte.

Auch die Absicht, alle männlichen Einwohner zu vernichten, konnte General Krstić vom Tribunal nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.  Dies befreite General Krstić jedoch nicht von der Verantwortung für Beihilfe und Begünstigung des Genozids in Srebrenica. Das Tribunal hat zweifelsfrei bewiesen, dass Krstić genauestens über die Absicht einiger Mitglieder des Generalstabs, den Genozid durchzuführen, informiert war und er hatte nichts getan, um die Verwendung von Personal und Technik des Drina Corps für die Ermordungen zu verhindern.

Im Kontext dieses Urteils kommen zwingend folgende Fragen auf:  wenn General Krstić der Beihilfe und Begünstigung des Genozids schuldig ist, wer hat dann den Genozid in Srebrenica durchgeführt? Wenn für Verbrechen in anderen Teilen Bosnien-Herzegowinas einzelne Personen und Täter auf niedrigerer Kommandoebene zur Rechenschaft gezogen wurden, wer hat dann die Verübung der Taten organisiert und ermöglicht? Die Antwort auf diese Fragen ist ein Schlüsselfaktor für das Verständnis der „gemeinsames kriminelles Unternehmen“ in BuH, die von Radovan Karadžić als politischem und Ratko Mladić als militärischem Befehlshaber geleitet wurden.

Ihre individuelle strafrechtliche Verantwortung, die durch eventuelle Verurteilungen bestätigt würde, wird einen enormen Einfluss auf das Verständnis des Krieges in Bosnien-Herzegowina haben und könnte eine gute Grundlage für den Versöhnungsprozess bieten. Besonders im Bezug auf den Genozid als den schrecklichsten in seinem Ausmaß („seine Täter identifizieren ganze Gruppen für die Vernichtung. Diejenigen, die den Genozid ersinnen und realisieren, neigen dazu, die Menschheit der Vielfältigkeit zu berauben, die ihr durch Nationalitäten, Rassen, ethnische Gruppen und Religionen gegeben ist. Das ist ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit, denn es schadet nicht nur der Gruppe, die Ziel der Ausrottung ist, sondern der gesamten Menschheit.“ – Zitat aus der Entscheidung des Verhandlungsausschusses des ICTY im Fall gegen Radislav Krstić) wird ein eventueller Schuldspruch im Fall gegen General Ratko Mladić eine zweifache Funktion haben – den Opfern wird endlich das Recht zuteil, dass die gegen sie verübten Verbrechen im Namen eines ganzen Volkes eine juristische Qualifikation und eine Bezeichnung bekommen, eine eventuelle Verurteilung jedoch wäre nicht die Verurteilung eines ganzen Volkes, sondern nur Ratko Mladićs und des verbrecherischen Systems, das er repräsentierte.

In wieweit ein solches Urteil für eine Versöhnung der diametral gegensätzlichen Ansichten über den Krieg und die Politik der Neunziger Jahre genutzt werden kann, hängt von der Bereitschaft der ethnopolitischen Eliten ab, die Tatsachen aus den Urteilsbegründungen zu akzeptieren und sie für die Festigung des Friedens zu verwenden, anstatt wie bisher zum Schüren des Hasses und des Unverständnisses, sowie der Ablehnung der Entscheidungen und der Arbeit des Tribunals. Die Funktion des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag ist vorrangig die, Straftäter zu identifizieren und sie der Gerechtigkeit zuzuführen; inwieweit uns die auf diese Weise festgestellte Wahrheit dazu dienen wird, uns gegenseitig zu vergeben und uns die Hand zur Versöhnung  zu reichen, hängt größtenteils von uns selbst ab.

Dossier

Europa und der Westliche Balkan

Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Das Dossier bietet aktuelle Artikel zu Staatlichkeit, Demokratie, Bürgerrechten, Aufarbeitung und der Beziehung der Länder des westlichen Balkans zur EU.

» zum Dossier

Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz.