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„Herkunft ist nicht länger Schicksal“

23. Januar 2009
Von Michael Werz


Barack Obama hat ein soziologisches Wunder vollbracht: Er ist Minderheit und Mehrheit zugleich. Der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten ist Einwandererkind, hat eine weiße Mutter, einen schwarzen Vater und ist in Kansas, Indonesien und Hawaii aufgewachsen. Doch er steht keineswegs am Rand der Gesellschaft sondern erfährt in diesen Tagen eine schier überwältigende politische Unterstützung selbst von denen, die ihn nicht gewählt haben. Barack Obama symbolisiert, welch tief greifenden Veränderungen in Amerika stattgefunden haben. An welchem anderen Ort in der Welt wäre seine Biografie vorstellbar?

Der Historiker David Hollinger von der kalifornischen Universität in Berkeley wies bereits vor über einem Jahrzehnt auf diese erstaunliche Entwicklung hin. In einem 140-seitigen Essay über das „Postethnische Amerika“ beschrieb er die Probleme einer heterogenen Gesellschaft, aber auch die Unumkehrbarkeit multikultureller Alltagspraxis, die sich in Bildungseinrichtungen, Politik, Kultur und im Berufsleben immer stärker etabliert hat. Das Buch wurde schnell zum Standardwerk und allgemein akzeptierten Lehrbuch und erlebte kürzlich seine zwölfte Auflage.

Michael Werz: David, Sie schreiben in einem kürzlich veröffentlichten Essay zur Wahl Barack Obamas, dass seine Kandidatur eine tiefgreifende Herausforderung für Identitätspolitik in den USA sei und sich dies nach seiner Amtseinführung noch vertiefen wird. Warum ist das so?

David Hollinger: Barack Obama bringt Vorstellungen davon, was es bedeutet, schwarz zu sein und das führt dazu, dass alle farbkodierten Identitäten, einschließlich des Weißseins, weniger stabil und festgelegt sind. Herkunft ist nicht länger Schicksal,  sondern eher eine Umrahmung des Ich, die mehr oder weniger wichtig sein kann und kontextabhängig ist. Es gibt mehr Raum für den „strategischen“ Gebrauch von Herkunft; das heißt, man kann sich mit anderen aus der eigenen Herkunftsgruppe für spezifische Zwecke zusammenfinden, ohne darin gefangen zu sein und sich entsprechend den gemeinhin von dieser Gruppe erwarteten Vorlieben und Interessen verhalten zu müssen.
Schwarze können sich für oder gegen die Mitgliedschaft in einer Kirche entscheiden, die von ihrer Familie frequentiert wird, aber sie können sich zusammenschließen, um durchzusetzen, dass die Regierung mehr Geld für die Schulen in den armen Innenstadtbezirken zur Verfügung stellt. Gleichzeitig sind sie frei, sich mit Nicht-Schwarzen im Berufsleben, bei politischen oder sozialen Anlässen zusammenzufinden.

Michael Werz: Das bedeutet aber nicht, dass wir eine in eine farbenblinde Ära eintreten, in der Herkunftsvorstellungen einfach verschwinden werden?

David Hollinger: Nein, die Erbschaft der Farbunterscheidungen ist zu umfassend und greift zu tief, um so schnell weggespült zu werden; es ist eine graduelle Veränderung. Aber farbkodierte Herkunft kontrolliert das Leben eines Menschen auch nicht mehr so wie dies einmal der Fall war. Das Ausmaß der Veränderungen, die wir gegenwärtig erleben, wird zu oft übersehen, wenn die Leute sich darüber streiten, ob wir nun all diese Erbschaften wirklich hinter uns gelassen haben oder nicht. Diejenige, die sagen „Ja, Rassismus ist vorbei“ übertreiben, so dass andere die Antwort „Nein, Rassismus existiert“ geben.

Und wenn wir über die Person herfallen, die übertrieben hat, verlieren wir den realen Fortschritt aus den Augen. Sichtbare Herkunftslinien produzieren immer noch farbspezifische Reaktionen bei vielen Amerikanern – aber nicht mit so endgültigen Folgeerscheinungen wie früher. Barack Obama wäre niemals von der Demokratischen Partei nominiert worden, von seiner Wahl zum Präsidenten ganz zu schweigen, wenn es nicht massive Veränderungen in den Einstellungen der Weißen gegeben hätte.

Michael Werz: Sie sprechen auch darüber, dass Barack Obama eine Person ist, die eine „neue Instabilität des Schwarzseins“ sichtbar macht. Wie ist das gemeint und warum hat diese Instabilität solch immense Auswirkungen in der amerikanischen Politik?

David Hollinger: Barack Obamas gemischte Abstammung erzeugt eine neue Unsicherheit des Schwarzseins. Der weiße Anteil seiner genetischen Erbschaft ist sozial nicht so versteckt, wie das oft bei Schwarzen mit schwarzen Müttern der Fall ist, die von weißen Sklavenhaltern sexuell ausgebeutet wurden. Stattdessen sind Barack Obamas weiße Vorfahren vollkommen öffentlich, sichtbar in Form der kürzlich verstorbenen - aber oft erwähnten - weißen Frau, die ihn als alleinerziehende Mutter aufzog. Keine öffentliche Person hat so viel dazu beigetragen, Amerikanern aus allen sozialen und Bildungsschichten bewusst zu machen, dass Farbmischungen existieren und die Mehrheit der „schwarzen“ Bevölkerung teilweise weiß ist. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass Obamas schwarze Vorfahren Einwanderer waren und nicht in den USA geboren.

Das Wissen darum, dass Obamas Vater aus Kenia in die Vereinigten Staaten kam, hat wahrscheinlich mehr als alles andere dazu beigesteuert, Amerikaner für einen wichtigen Unterschied zu sensibilisieren: den zwischen Schwarzen, die - wie Obamas Frau Michelle - von ehemaligen Sklaven abstammen und die Jim Crow-Ära durchlebten und jenen, die Nachkommen von Einwanderern aus Afrika oder der Karibik sind. Viele Untersuchungen belegen, dass schwarze Einwandererkinder, was Bildung und wirtschaftlichen Vorwärtskommen angeht, erfolgreicher sind als die Nachkommen der amerikanischen Sklaverei…

Michael Werz: …warum sind diese wissenschaftlichen Einsichten so wichtig?

David Hollinger: Weil sie die Glaubwürdigkeit des Schwarzseins als allgemein anerkannter Standard zur Identifikation der schlimmsten Fälle von Ungleichheit und als Bezugspunkt für Rechtsmittel in Frage stellt. Unsere Gesellschaft muss sich daran gewöhnen, ökonomische Ungleichheit frontal anzugehen und nicht, wie seit Langem Praxis, Rasse und Ethnizität als stellvertretende Indikatoren benutzten. Die Hispanics sind sehr arm, aber was sie mittellos macht, hängt nicht mit der mehrheitlich mexikanischen Herkunft zusammen, sondern damit, dass die Einwanderungspolitik der USA die Migration der ärmsten und am schlechtesten ausgebildeten Mexikaner fördert, die hier niedere Tätigkeiten verrichten. Hier liegt wirtschaftliche Ungleichheit vor, aber die meisten amerikanischen Institutionen behandeln dies als ethnische oder Herkunftsfrage.

Michael Werz: Vor fünfzehn Jahren schrieben sie einen Bestseller über das „Postethnische Amerika“. Für europäische Ohren klingt bereits der Titel unvorstellbar ambitioniert. Wenn Sie auf die Zeit zurückblicken als der Essay zum ersten Mal veröffentlich wurde – was hat sich in den Vereinigten Staaten verändert und wie lassen sich diese Veränderungen mit der Situation in Europa vergleichen?

David Hollinger: Im Buch argumentiere ich, dass die Vereinigten Staaten sehr viel besser dastünden, wenn wir aufhörten, alle so zu behandeln, als wären ihre farbkodierten Herkunftsgemeinschaften das, was am allerwichtigsten sei. Ich schlug vor, schrittweise das Prinzip einer „Zugehörigkeit auf Basis wiederrufbaren Einverständnisses“ zu etablieren. Das bedeutet, dass Individuen so viel oder so wenig ihrer Energien für ihre Herkunftsgemeinschaften aufbringen, wie sie möchten.

So können Leute, die gerne mit anderen chinesischen Amerikanern, mexikanischen Amerikanern oder Afro-Amerikanern zusammenarbeiten das tun, aber sie sind nicht dazu verpflichtet, bloß weil sie in die Gruppe hineingeboren wurden. Ich vertrete die klassisch liberale Vorstellung, dass Individuen ein Maximum an Entscheidungsfreiheit hinsichtlich ihrer Gruppenbindungen haben sollen. Und ich freue mich sagen zu können, dass dieses „postethnische“ Ideal heute populärer ist denn je und was ich 1995 schrieb ist nun wesentlich weniger radikal als früher.

Im Vergleich zu den USA sehen weniger Europäer ihre Gesellschaften als Einwanderungsländer. Hier ist es selbstverständlich, dass wir durch die vielen Einwanderer aus China, Mexiko und Kenia demografisch erneuert werden, so wie das durch die frühen Einwanderer aus Deutschland und Irland, später aus Russland und Polen geschah. Eine Gesellschaft, die sich darüber im Klaren ist, dass sie sich von Generation zu Generation durch die Ankunft neuer Gruppen verändert, kann sich leichter in eine postethnische Richtung bewegen als eine Gesellschaft, die glaubt, dass eine ethnische Gruppe einen besonderen Anspruch auf ihr Land und ihre Institutionen hat.

Michael Werz: Ein letzter Gedanke: Erwarten Sie, dass die beschriebenen Errungenschaften leiden, wenn die Politik Barack Obamas beginnt, seine Unterstützer zu enttäuschen und deutlich wird, das seine Administration die immensen Erwartungen nicht erfüllen kann? Oder reichen die grundsätzlicheren Fragen von Schwarzsein und Weißsein über den unmittelbar politischen Bereich hinaus?

David Hollinger: Wir erwarten so viel von ihm, dass Enttäuschungen vorprogrammiert sind. Aber ich vermute, dass diese Enttäuschungen mehr mit der Wirtschaftslage oder den Beziehungen zu anderen Nationen zu tun haben werden als mit der Dynamik der Hautfarben. Ich denke, dass er uns in eine neue Entwicklungsetappe führen wird, was das Verhältnis von Rasse und Ethnizität angeht.

Michael Werz ist Transatlantic Fellow des German Marshall Fund of the United States und Visiting Researcher am Institute for the Study of International Migration an der Universität von Georgetown in Washington DC