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Flut in Pakistan: „Das Schlimmste steht uns noch bevor“

Die Ausmaße der Flut in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Foto: Horace Murray. Lizenz: Public Domain.

19. August 2010
Von Britta Petersen, Nowshera

Von Britta Petersen, Nowshera

Mufidanaz ist eine hübsche Frau Ende Zwanzig. Sie steht in einer Traube aus Frauen und Kindern hinter einem geblümten Vorhang, der die Jungenschule des Dorfes Tarkha in zwei Abschnitte unterteilt. Fliegen umschwärmen die schwitzenden Menschen. Vorn in den Büroräumen versuchen Männer, Lehrer und Mitarbeiter von kleinen Hilfsorganisationen irgendwie Ordnung in das Chaos zu bringen, das die Flut über den Distrikt Nowshera in Pakistans Provinz Khyber Pakhtunkhwa an der Grenze zu Afghanistan gebracht hat.

Hinten in den Klassenzimmern haben sich Frauen und Kinder aus 127 Familien mehr schlecht als recht eingerichtet. Es gibt keine Matratzen, keine Decken, viel zu wenige Badezimmer, es stinkt. Auch in Zeiten höchster Not gilt hier die „Prudah“, die es Frauen nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Die Männer wohnen entweder in Gastfamilien oder in „hujras“, den traditionellen paschtunischen Gasthäusern, die jedem Reisenden offen stehen, jetzt sind sie völlig überfüllt. Wer Pech hat, muss auf dem nahen Friedhof übernachten.

„Meine Tochter ist gestorben, acht Tage nachdem die Flut kam“ sagt Mufidanaz. Sie weint nicht, sie klagt nicht. Sie stellt es fest, als wäre sie weit weg – unter Schock. Das Mädchen hatte Durchfall und konnte vor Ort nicht behandelt werden. Als Mufidanaz mit der Eineinhalbjährigen im Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Peshawar eintraf, war es bereits zu spät. Der Vater des Kindes ist Soldat und derzeit in Siachen stationiert – an der Grenze zu China. Er weiß noch gar nicht, dass er Haus und Hof verloren hat und eines von fünf Kindern. „Wir haben keine Telefonverbindung zu ihm“, sagt seine Frau.

In offiziellen Zahlen heißt es derzeit, die Flut, die in den vergangenen zwei Wochen ein Fünftel der Fläche Pakistans unter Wasser gesetzt hat, habe rund 1.500 Todesopfer gefordert. Doch diese Zahl erscheint zweifelhaft. „Rund 35 Prozent der Bevölkerung hier im Bezirk Akbarpura gilt als vermisst“, sagt Idrees Kamal von der Organisation „Citizens Rights and Sustainable Development“ (CRSD). Die Menschenrechtsorganisation ist eine von zahlreichen kleinen Nicht-Regierungsorganisationen, die sich unter dem Namen „Network for Humanitarian Assistance“ zusammen getan haben um zu helfen.

Sie betreuen rund 2.000 Menschen aus sieben Dörfern, die alles verloren haben. Ein Junge aus dem Dorf Jabadawozai berichtet, er habe versucht, seine Mutter festzuhalten als die Flutwelle kam, aber das Wasser war stärker. „Wir verteilen jeden Tag gekochte Mahlzeiten“, sagt Idrees Kamal. Auch medizinische Hilfe versuchen sie zu organisieren, aber es gibt viel zu wenige Ärzte für all die Menschen, die an Durchfall und Hautkrankheiten leiden. Eine Frau habe aus Unwissenheit eine Tinktur gegen Hautausschlag getrunken und sei daran gestorben.

„Wir müssen jeden Tag aufs Neue Geld organisieren, um über die Runden zu kommen“, sagt Idrees Kamal. Etwa 25.000 Rupien (250 Euro) braucht er täglich, um Reis und Linsen zu kaufen. Für Gemüse und Fleisch reicht es selten. „Die Preise für Gemüse sind exorbitant angestiegen“, sagt Ruhi Khan, eine Anwältin, die für den „Noor Educational Trust“ in Nowshera hilft. „Vor zwei Wochen kostete das Kilo Tomaten noch 60 Rupien, jetzt sind es 120.“

Dabei sind sich die Helfer einig, dass den Flüchtlingen das Schlimmste noch bevor steht. Erst wer an die Ränder der Dörfer fährt, sieht das ganze Ausmaß der Katastrophe. Dort wo früher fruchtbare Felder Mais und Weizen trugen, haben Schlamm-Massen einen tödlichen Teppich ausgebreitet, unter dem nichts mehr wächst. An einigen Obstbäumen hängen noch reife Birnen, die auf die Ernte warten, doch die Felder sind nicht mehr zugänglich, weil Menschen und Fahrzeuge sofort im dichten Schlamm versinken würden.

Vor allem die Armen hat diese Flut getroffen, die ihre Häuser nahe am Fluss hatten. Ihre bescheidenen Unterkünfte aus Lehm wurden von der Wucht des Wassers wie Kartenhäuser eingedrückt. In den Schlammbergen weist oft nur ein Türrahmen, das zerknickte Gestell eines traditionellen Betts (Charpoi) oder ein Kupferkessel darauf hin, dass hier einst Menschen wohnten. „Ich schlief, als um 3 Uhr nachts die Flut kam“, berichtet wie Witwe Asia Farman. „Nachbarn sagten uns Bescheid, ich hatte noch nicht einmal Zeit meine Sachen zu packen. Ich habe meine fünf Kinder geweckt und wir sind weggelaufen. Uns ist nichts geblieben, unser einziger Büffel ist an einer Infektion gestorben.“

„Es wird etwa einen Monat dauern, bis hier alles getrocknet ist“, sagt Idrees Kamal. „Und dann fangen die Probleme erst an.“ Der komplette Ausfall der Ernte in diesem Jahr wird die Region auf längere Zeit von Lebensmittelspenden abhängig machen. Und es ist unklar, wann auf den schlammbedeckten Feldern wieder etwas wächst. „Wir werden hier eine Nahrungsmittelkrise bekommen“, sagt Kamal. Da gehört es noch zu den einfacheren Aufgaben, die zerstörten Häuser wieder aufzubauen. „Es kostet etwa 50.000 Rupien (etwa 500 Euro), ein Lehmhaus wieder aufzubauen“, sagt Ehsanullah, ein Lehrer an der Jungenschule von Takhar.

Über Politik will deshalb niemand vor Ort reden. Pakistans Zeitungen sind voll von negativen Artikeln über die Regierung in Islamabad, die sich bisher als unfähig erwiesen hat zu helfen und über Präsident Zardari, der seine Europareise ungerührt fortsetzte als sein Land im Wasser unterging. Aber hier in Nowshera halten sich die Helfer zurück. „Wir wissen nicht, was die Regierung tut“, sagt Idrees Kamal. Der Kommissar von Peshawar, ein hochrangiger Verwaltungsbeamter, sei vor drei Tagen mit einem Tross von Medien aufgetaucht, habe Hilfe zugesagt und sei wieder verschwunden.

„Man muss sehen, dass auch die Verwaltung von der Flut betroffen ist“, sagt Kamal hilflos. „So eine Flut haben wir seit 70 Jahren nicht erlebt.“ Er und sein Team konzentrieren sich lieber darauf, die Arbeit zur organisieren. Doch es stellen sich – wie immer in Pakistan – viele Fragen. Journalisten in Islamabad berichten von Druck aus Kreisen der Armee und des Geheimdienstes ISI, möglichst kritisch über die Rolle der Regierung zu berichten. Je schwächer die zivile Regierung, umso besser kann sich das Militär als einzige funktionsfähige Institution präsentieren. Liberale Kreise verweisen daher zu Recht darauf, dass Pakistan erst seit dem Rücktritt von Pervez Musharraf, dem Präsidenten in Uniform, 2008 wieder eine Demokratie ist und dass es Zeit braucht, demokratische Institutionen zu bauen.

Vor allem zeigen sich derzeit die Schwächen eines feudalistischen Verwaltungssystems, in dem seit jeher alles auf Klientelverhältnissen beruht. Das größte Problem für viele Flüchtlinge wird sein, ihr Land zurück zu bekommen nachdem die Flut abgezogen ist. Da es keine Besitzurkunden oder Register gibt, sind die Eigentümer darauf angewiesen, den lokalen Patwari, einen traditionellen Unter-Beamten, davon zu überzeugen, dass ihr Land wirklich ihnen gehört. Und dafür braucht man Geld. „Um die Korruption zu reduzieren, wurden jetzt Lehrer beauftragt, die Aufgabe des Patwari zu übernehmen“, berichtet Idrees Kamal.

Doch eine Notsituation ist kaum die geeignete Zeit für eine Verwaltungsreform. „Wir zahlen einen sehr hohen Preis für die schlechte Regierungsführung“, sagt der Entwicklungsexperte Tasneem Siddqui aus Karachi. „Die größten Probleme sind Inkompetenz, Ineffizienz, Korruption und fehlende Entscheidungsfindung.“ Übel, die sich nicht von heute auf morgen beheben lassen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass nur etwas mehr als ein Prozent der Pakistaner überhaupt Steuern zahlen – der Hautgrund für die chronische Unterfinanzierung der Regierung.

Der von der Weltbank jetzt zugesagte Kredit über 900 Millionen Dollar für die Flutopfer wird daher an Auflagen geknüpft sein, ebenso wie das Geld, das der Internationale Währungsfonds (IWF) bereits zuvor zur Bewältigung der Wirtschaftskrise bereitgestellt hat. Oppositionsführer Nawaz Sharif hat angeregt, eine nationale Kommission zur Flut einzuberufen, um sicher zu stellen, dass die Hilfsgelder ordnungsgemäß verwendet werden – und um die Geberländer zu beruhigen.

Es wird noch viele weite Schritte brauchen. Doch eines ist sicher: Allein kann Pakistan die Krise nicht bewältigen. Die Schwierigkeit wird es sein, die Hilfe so zu gewährleisten, dass die stets im Hintergrund wartenden Islamisten, die großzügig mit Hilfsgeldern aus Saudi Arabien und anderen Ländern ausgestattet sind, sie nicht als Gelegenheit nutzen können, die Regierung als Büttel des Westens zu denunzieren.

Dieser Text erschien zunächst in leicht geänderter Version in: Rheinischer Merkur Nr. 33, 19.08.2010


Britta Petersen ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore

Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt aktuell das Projekt in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa an der Grenze zu Afghanistan, das von einem Konsortium von NGOs unter Federführung des Noor Education Trust in Peshawar durchgeführt wird.

Unter den NGOs befinden sich langjährige Projektpartner der Stiftung wie Rukhshanda Naz (früher Aurat Foundation). Weiterhin beteiligt sind: "Citizen Rights and Sustainable Development (CRSD)", "Sea Forum" und "Shajar Development Foundation.

Darüber hinaus wird die Stiftung ein vergleichbares Projekt der Takhleeq Foundation in den Distrikten Ghotki und Shikarpur in Sindh unterstützen. Weitere Spenden werden dringend benötigt.