Archivierter Inhalt

Das Petra-Kelly-Archiv

Heinrich Böll und Petra Kelly

 

Von Robert Camp

„Das Bundestagsarchiv, von 1983 bis 1990 aufgebaut, umfasst ca. 160 große Umzugskartons voller Ordner, die seit meinem Auszug aus dem Bundestag bei einer Spedition in Bonn lagern. […] Das Archiv umfasst Material zur Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsbewegung im In- und Ausland mit besonderen Abteilungen für USA, Ost- und Westeuropa, UdSSR, Australien, Neuseeland, Tibet, Indien, China, Birma, Ost-Timor usw. Ferner gibt es einen sehr umfangreichen Teil zum Thema grüne Außenpolitik und Dritte-Welt-Politik (vier Hängeschränke mit jeweils vier vollen Schubladen) sowie ein sehr detailliertes EG- und NATO/WEU/Europarat-Archiv (das vielleicht vollständigste der grünen Partei) welches für die Europawahl 1994 sehr wichtig wird. Auch habe ich ein Archiv über grüne Gruppen in aller Welt geführt, weshalb ich über viele tausende von wertvollen Adressen in allen Bereichen verfüge (in Ordnern oder auf Karteikarten). Zum Archiv gehört auch eine achtjährige grüne Zeitschriftensammlung aus dem In- und Ausland, besonders zum Thema Ökologie, Frieden und Menschenrechte. Dann gibt es noch einen sehr umfangreichen persönlichen Teil: Briefwechsel, Termine, Prozesse, Einladungen und Presseangelegenheiten betreffend.“

Eigentlich könnte der Artikel hier bereits enden, denn treffender als in diesem Schreiben von Petra Kelly an die Heinrich-Böll-Stiftung vom 17. März 1992, über ein Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl und der Auflösung der ersten Bundestagsfraktion, können die Inhalte des von ihr und ihren Mitarbeiter(innen) aufgebauten Bundestagsarchivs kaum beschrieben werden.

Ihr Anliegen war es, dieses Bundestagsarchiv in dem wenige Monate zuvor gegründeten Archiv Grünes Gedächtnis wieder zugänglich zu machen, sowohl für ihre eigene künftige politische Arbeit als auch für eine breitere Nutzung: «Fast jede Woche erreichen mich Briefe von Menschen, die über die Grünen oder über die Ökologiebewegung schreiben wollen, denen ich aber nichts schicken kann, weil das eingestellte Archivmaterial so nicht greifbar ist» heißt es an anderer Stelle des Briefes an die Heinrich-Böll-Stiftung. In den auf diesen Brief folgenden Monaten wurden die wesentlichen Punkte eines Depositarvertrages zwischen Petra Kelly und der Stiftung geklärt. Petra Kelly und Gert Bastian besuchten Ende Juli 1992 das Archiv Grünes Gedächtnis, das vorläufig in einem kleinen Ort nahe Bonn eingerichtet worden war, um sich selbst ein Bild von den Räumlichkeiten und ihren künftigen Arbeitsbedingungen zu machen. Zu einer Vertragsunterzeichnung ist es nicht mehr gekommen.

«Bundestagsarchiv»

Das von Petra Kelly so genannte Bundestagsarchiv bildet heute den größten Teil ihres schriftlichen Nachlasses. Hier befinden sich auch die Unterlagen von Gert Bastian aus seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter, denn die Bürogemeinschaft Kelly-Bastian führte eine Registratur. Mit Zustimmung der Erben (1), der Eltern von Petra Kelly, konnten im November 1992 die bei der Spedition eingelagerten Akten in das Magazin des noch provisorischen Archivs Grünes Gedächtnis eingestellt werden. Nach einem weiteren halben Jahr und nach Sichtung seitens der Erben wurden im Juli 1993 auch die im Wohnhaus von Petra Kelly befindlichen Unterlagen aus früheren Zeiten und den Jahren 1991/1992 dem Archiv übergeben. Zusammen mit der privaten Bibliothek, der Zeitschriftensammlung, Fotografien, Plakaten und Einzelstücken bilden sie das Petra Kelly Archiv, ein Archiv im Archiv, das neben den Aktenbeständen von Partei und Bundestagsfraktion der an Umfang und Intensität der Nutzung bedeutsamste Fundus des Grünes Gedächtnis ist.

Das Bundestagsarchiv füllte einhundertsechzig Umzugskartons. Diese Menge Papier wäre nicht zu bewältigen gewesen, wäre sie nicht nach einem Aktenplan geordnet, diesem entsprechend gekennzeichnet und abgelegt worden. Der Aktenplan gliederte die Papiere in Angelegenheiten des Bundestages, der Partei, in Schriftwechsel, Termine, Veranstaltungen und «Eigene Äußerungen»: Stellungnahmen, Redemanuskripte, Reiseberichte von Petra Kelly. Den größten Teil macht die Dokumentation aus: Materialsammlungen zu den politischen Themenfeldern, die Petra Kelly bearbeitet hat. Über bis zu vier hierarchische Ebenen gegliedert war die Informationsfülle so ohne Computer, ohne Volltextsuche oder Schlagworte zugänglich. Aus heutiger Sicht bieten diese Akten, inzwischen über die genannten elektronischen Hilfsmittel in einer detaillierten Datenbank recherchierbar, auch für Fragestellungen ohne Bezug zur Person oder Politik von Petra Kelly eine im Archiv Grünes Gedächtnis häufig genutzte Informationsquelle.

Charakteristisch für die Vorgehensweise, mit der Petra Kelly Materialsammlungen bereits in früheren Lebens- und Arbeitszusammenhängen aufgebaut hat, ist das Bestreben, Fakten und Argumentationsstränge unterschiedlicher, häufig konträrer Positionen zusammenzufügen. Nach dem Studium der Politikwissenschaften an der American University in Washington, DC, mit dem Schwerpunkt Außen- und Europapolitik und dem Abschluss des Studiums am Institut für Europapolitik in Amsterdam begann ihre berufliche Laufbahn 1972 beim Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel. Petra Kelly war als Verwaltungsrätin dieser Behörde mit der Erarbeitung und fachlichen Begleitung zahlreicher Studien befasst. Die Themen umfassten das gesamte Spektrum der europäischen Sozialpolitik, z.B. Ausbildung und berufliche Bildung in den damaligen Mitgliedsstaaten der EG, Arbeitsmarkt- und Verbraucherpolitik, Umweltschutz und vor allem die wirtschaftliche und soziale Stellung der Frauen in der EG. Sie setzte sich dabei intensiv mit sozialistischen und gewerkschaftlichen Positionen in verschiedenen westeuropäischen Ländern, insbesondere Großbritannien und Irland, auseinander. Unterlagen zu diesen Themen – beispielsweise frühe Untersuchungen zur Gesundheitsgefährdung durch Asbest – bilden einen weiteren Schwerpunkt des Petra-Kelly-Archivs.

Quellenmaterial zur Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften

In ihren Brüsseler Jahren erweiterte sich das ursprünglich auf europäische Politik fokussierte Interesse rasch auf die Themen der sich entwickelnden Bürgerinitiativen: auf Alternativen zur staatlich und durch die EG forcierten Atomenergie, auf sich abzeichnende Alternativen zur Natur und Ressourcen fressenden Wirtschaftsweise sowohl der kapitalistischen wie der sowjetisch dominierten Gesellschaftssysteme. Petra Kelly nahm an zahlreichen Kongressen in Westeuropa und den USA teil, die diese Entwicklungen kritisch analysierten. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde sie zunehmend selbst als Referentin eingeladen.

Das Petra-Kelly-Archiv bietet Quellenmaterial zur Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und zwar sowohl aus offiziellen Quellen der EG als auch aus der Sicht der Gruppen und Organisationen der Europäischen Bewegung, deren inhaltliche und organisationspolitische Entwicklungen so belegt sind. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Unterlagen zur Entwicklung und den Aktivitäten der Anti-AKW-Bewegung und den Brennpunkten der Auseinandersetzung, den Bauplätzen der geplanten «Energie- und Entsorgungsparks» und – unvergessen – der Widerstand der ländlichen Bevölkerung vom Kaiserstuhl, die den Bau eines Atomkraftwerks verhinderte und in der Volkshochschule Wyhler Wald mit neuen Formen politischer Bildung experimentierte. Vielfältige Unterlagen und Informationen sind zu zwei weiteren Bereichen zu finden: Quellen und Analysen zur eklatanten Unterrepräsentation von Frauen in den Gremien der EG und in der politischen Öffentlichkeit allgemein sowie Darstellungen zu Methoden und Perspektiven gewaltfreier Widerstands und Protestformen. Eine Lücke ist allerdings sowohl hinsichtlich der Ausläufer der Studentenbewegung in den konkurrierenden Szenen der sogenannten K-Gruppen als auch der «Sponti-Szenen» der studentisch geprägten Milieus der Großstädte zu registrieren. Auch den bewaffneten Kampf der terroristischen RAF jener Jahre hat Petra Kelly offenbar kaum beachtet.

Petra Kelly engagierte sich besonders für die Verbesserung der desolaten Situation auf den Krebsstationen deutscher Kinderkliniken und ab Mitte der 1980er Jahre für die politische und kulturelle Selbstbestimmung des tibetischen Volkes. Beide Bereiche sind für den Zeitraum bis 1992 umfassend dokumentiert. Im April 1989 organisierte sie eine international besetzte Anhörung „Tibet und die Menschenrechte“, die erste Konferenz dieser Art überhaupt.

Petra Kelly und Die Grünen

Von besonderer Bedeutung ist Petra Kellys Nachlass für Forschungen zur Entstehungsgeschichte der Partei Die Grünen. In keinem anderen Aktenbestand des Archivs Grünes Gedächtnis sind Dokumente in solcher Dichte zu finden, die die ersten Jahre der Grünen von 1978/1979 bis zum Einzug der ersten Fraktion in den Deutschen Bundestag Anfang 1983 widerspiegeln. Institutionelle Überlieferungen kommen für die ersten Jahre kaum in Betracht, denn die neue Partei verfügte zunächst über keine nennenswerte Infrastruktur. Es gab kaum Büros und nur wenige bezahlte Mitarbeiter. Die Gründungsphase war geprägt von ehrenamtlicher Arbeit und getragen von der Überzeugung, eine politische Alternative aufbauen zu können. Die Grünen wollten nicht nur Alternativen in den politischen Zielen, sondern auch in den eigenen Strukturen realisieren, was sich in der Partei als verbreitetes Misstrauen gegenüber jeglicher Art der Professionalisierung auswirkte. Aktenplan oder Registratur gehörten nicht zu häufig gebrauchten Begriffen der stürmischen Anfangsjahre.

Für Petra Kelly, Spitzenkandidatin – damals ebenfalls ein verpönter Begriff – bei der Europawahl 1979, den Bundestagswahlen 1980, 1983 und der bayrischen Landtagswahl im Herbst 1982, waren diese Jahre Reisejahre. Einen großen Teil ihres alltäglichen Lebens verbrachte sie in Zug oder Flugzeug, in Hotelzimmern oder als Gast bei wohlmeinenden Gastgebern. Dennoch ist es ihr gelungen, alle wesentlichen Unterlagen des Bundesvorstandes, dem sie als Sprecherin angehörte, zu bewahren, diese und vieles mehr ihrem Privatarchiv zuzufügen.

Selbstverständlich bilden diejenigen Archivalien, die eine Annäherung an Politik und Person Petra Kellys erlauben, das Herzstück des Petra-Kelly-Archivs. Im Zentrum stehen hier ihre Redebeiträge, Reiseberichte und zahllose andere Äußerungen, die für den Zeitraum 1971, also seit der Übersiedelung von Washington, DC, nach Europa, weitestgehend erschlossen sind. Die Datenbank des Archivs verzeichnet rund 1.800 einzeln erfasste Dokumente, von handschriftlichen, kurzen Entwürfen über Pressemitteilungen und Erklärungen zu tagespolitischen Ereignissen, regelmäßigen Kolumnen bis hin zu Essays und Redemanuskripten.

Schriftwechsel, Essays, Reden und Videos

Der politisch relevante Schriftwechsel aus den gesamten 1980er Jahren war, als Teil des «Bundestagsarchivs», bereits nach Themen und Korrespondenzpartnern geordnet. Die private Korrespondenz ist gesichtet und archivisch erschlossen, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes die der Korrespondenzpartner(innen) aber nicht zugänglich.

Weitgehend alle von Petra Kelly besuchten oder durchgeführten Veranstaltungen der 1980er Jahre sind als Termine in chronologischer Folge im Bestand abgelegt. Von ersten Kontakten und der Einladung zu einer Veranstaltung, als Rednerin auf einer Demonstration oder Teilnehmerin eines Kongresses über die Reiseplanung und organisatorische Durchführung, das Redemanuskript bis hin zu Pressereaktionen ist jede Veranstaltung zu einem Vorgang zusammengefasst.

Alle Veröffentlichungen über Petra Kelly, derer sie habhaft werden konnte, sind als Presseangelegenheiten chronologisch abgelegt. Diese Art der Medienbeobachtung ist charakteristisch für Prominente, die im Augenmerk der Berichterstattung stehen. Gleiches gilt für die Teilnahme von Petra Kelly an Fernsehdiskussionen und Talkshows. Aus der Aufzeichnung dieser Fernsehsendungen ist eine Sammlung an VHS-Videokassetten entstanden. Diese Sammlung wird intensiv genutzt wie auch die Sammlung von Tonaufzeichnungen, Fotografien (2), Plakaten und weiteren Objekten, beispielsweise Kleidungsstücken. So trug Petra Kelly bei einem offiziellen Empfang durch Erich Honecker einen Pullover, auf dem deutlich lesbar aufgedruckt «Schwerter zu Pflugscharen» stand, die in der DDR unterdrückte Losung der Friedensbewegung. (3)

Die 5000 Titel umfassende Privatbibliothek von Petra Kelly sowie die ca. 500 Zeitschriften, mit einigen im deutschen Sprachraum schwer greifbaren Titeln aus der Frauen-, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung anderer europäischer und überseeischer Länder vervollständigen das Petra-Kelly-Archiv.

Das Petra-Kelly-Archiv in all seinen Teilen ist weitestgehend zugänglich, soweit nicht Aspekte des Daten- und Persönlichkeitsschutzes dem entgegenstehen. Die Aktenbestände, die Bibliothek, Zeitschriften- und Fotosammlung sind verzeichnet und über Findbücher und eine Datenbank recherchierbar.

Fußnoten
(1) Eine zweite Option bot sich durch eine amerikanische Universität, die Interesse bekundete, den Nachlass zu betreuen.
(2) Vgl. Petra Kelly. Eine Erinnerung. Ein Foto- und Essayband, hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, November 2007.
(3) Z.Zt. als Dauerleihgabe im Haus der Geschichte, Leipzig.