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Niger - elektronische Spielzeuge statt Traktoren

Alfred Dogbé ist Autor und Theaterregisseur. In den letzten 15 Jahren hat er eine ganze Reihe von Erzählungen und Theaterstücken in Frankreich, Belgien, Niger und Burkina Faso veröffentlicht. Foto: privat.

Von Alfred Dogbé
Die Euphorie um die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit meines Landes verwundert mich und macht mich wütend, zumal wenn ich die Dinge unter dem einzigen Blickwinkel betrachte, der zählt: unter jenem der Würde des Menschen und der nationalen Souveränität.

Statt Traktoren sehe ich nichts als elektronische Spielzeuge, Spiegelungen der Kolonialzeit, die überall wuchern. Meine Mitbürger/innen warten heute immer noch darauf, dass ihnen jemand etwas zu Essen gibt. Die junge Generation flüchtet aus dem Land wie aus einem brennenden Haus. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die großen Kapitaleigner sich die reichhaltigen Rohstoffvorkommen des Landes sichern. Und mein Land hält immer noch im Kontakt mit anderen Nationen die Hand auf. Wie kann man noch an die so oft beschworene Entschlossenheit glauben, eine nationale Wirtschaft auf den Pfeilern der Landwirtschaft und des Bergbaus aufzubauen, wenn heutzutage im gesamten Niger weniger als 100 Schülerinnen und Schüler die Terminale C, den mathematischen und naturwissenschaftlichen Gymnasialzweig, besuchen? Wie soll man glauben, dass die Dinge sich geändert haben, wenn ein Unter-Präfekt, also nur ein mittlerer Verwaltungschef – der bezeichnenderweise immer noch „Kommandant“ genannt wird – einen Bürger bestrafen lassen kann, nur weil dieser nicht aufgestanden ist oder seinen Hut hob, während der Unter-Präfekt vorbeifuhr?

Wir haben weder mit den alten (ungleichen) Wirtschafts- und Tauschbeziehungen (seit dem Sklavenhandel) noch mit dem kolonialen Regierungssystem gebrochen.

Nationale Einheit zu erlangen war die erste Herausforderung der Unabhängigkeit. Es galt, zuerst einmal die koloniale Willkür zu übernehmen, mit der das Staatsgebiet des Niger nach dem Gesetz des „Teile und Herrsche“ aus lauter wahllos zusammengewürfelten Fragmenten bestehender Gemeinschaften geschaffen wurde. Das war eine enorme Herausforderung. Doch sie hat uns nicht zu Fall gebracht, sondern wir haben sie gemeistert. Heute hat sich ein wahrhaftiges nationales Bewusstsein, ein gemeinsamer Wille auf der Grundlage von republikanischen und demokratischen Werten zusammen zu leben, im Denken der Bürger Nigers etabliert.  

Nigers Weg zur Unabhängigkeit war eine Zeit heftiger demokratischer Kämpfe zwischen den politischen Parteien, die sich ständig neu bildeten, verbündeten und wieder auseinander brachen. Beunruhigt von der Vorstellung, die Kontrolle über ihre Kolonien zu verlieren, mischte sich die französische Kolonialverwaltung zudem in das Kräfteringen ein. So wurde die Unabhängigkeit nur auf Kosten der Beschneidung politischer Freiheiten erlangt, ein Zustand, der über 30 Jahre andauern sollte.

Seitdem führen unsere Regierenden die Praktiken der Kolonialverwaltung fort. Alle und jeder auf seine Art verfügen beliebig über die Ressourcen und die Bevölkerung des Landes. Sie herrschen über Menschen, gegenüber denen sie sich nicht verantwortlich fühlen.

Gleichzeitig wird deutlich, dass unter den Verwalteten eine Unzufriedenheit schwelt und bürgerrechtliche Forderungen heranwachsen.

Natürlich bringt das einige Sprengkraft mit sich, die die nationale Einheit gefährdet, wie zum Beispiel das heikle Thema der Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften das Land zu zerreißen droht. Aber es ist der Kampf für die Werte einer Gesellschaft von Bürgern (“citoyens”), der die Unabhängigkeit hervorbringen wird. Im Niger wie überall in Afrika.

Daher mache ich mir auch Sorgen, dass die panafrikanische Idee immer mehr an Anziehungskraft verliert. Wir werden uns nie aus der Abhängigkeit befreien, wenn wir nicht zugleich die Balkanisierung hinter uns lassen.

Vor 50 Jahren haben wir die Entkolonialisierung erreicht, aber die Unabhängigkeit bleibt ein Projekt für die Zukunft. Aber wir sind auf dem Weg dahin.

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Alfred Dogbé (*1962 in Niamey, Niger) hat nach einer anfänglichen Tätigkeit als Lehrer für Literatur und Lehrbeauftragter für Literaturkritik an der Universität des Niger in Niamey sich vornehmlich als Autor und Theaterregisseur engagiert. Er hat in den letzten 15 Jahren eine ganze Reihe von Erzählungen und Theaterstücken in Frankreich, Belgien, Niger und Burkina Faso veröffentlicht, außerdem mehrere Drehbücher für Filme und Fernsehfilme in Niger und Burkina Faso verfasst. Er ist künstlerischer Leiter des Theaters Arène in Niamey, mit dem er Inszenierungen nicht nur in Niamey, sondern auch in anderen afrikanischen Ländern und in Europa und Kanada gezeigt hat. Alfred Dogbé hat auch Schreibwerkstätten organisiert und geleitet; derzeit schreibt er an einem Roman.

Dossier

50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika

Das Jahr 1960 war für viele Afrikaner/innen ein Jahr der Hoffnungen. 17 Länder erlangten die Unabhängigkeit von den kolonialen Mächten. Das Dossier soll „Blitzlichter“ auf die Länder werfen, die 1960 unabhängig wurden: mit ganz persönlichen Beiträgen. Daneben gibt es Hintergrundartikel von renommierten Autoren aus Deutschland und verschiedenen Ländern Afrikas sowie Auszüge aus den Reden, Schriften und Kurzporträts, die die Aufbruchstimmung von 1960 deutlich machen.