Archivierter Inhalt

Indépendance oder Interdependenz?

Annette Schemmel, geb. 1979, lebt und arbeitet in Berlin und München als freischaffende Kuratorin für zeitgenössische Kunst.
Foto: privat

12. November 2010
Von Annette Schemmel
Ein kuratorisches Projekt zwischen Kamerun und Europa

Wie können die öffentlichen Gedenkrituale und Feierlichkeiten zum diesjährigen fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit von siebzehn afrikanischen Staaten in einen nachhaltigen transkulturellen Dialog zwischen Kulturschaffenden umgesetzt werden? Welche politischen, künstlerischen, ökonomischen und sozialen Abhängigkeiten bestimmen unsere Arbeit als Künstler/innen und Kurator/innen diesseits und jenseits der Sahara? Diese Fragen stehen am Beginn eines Projekts von Künstler/innen aus Kamerun und Europa, die sich einen erweiterten Begriff von Unabhängigkeit und verschiedene Formen von Interdependenz zum Thema gemacht haben.
Interdependenzen sind wechselseitige Abhängigkeiten. In den sozialwissenschaftlichen Globalisierungstheorien werden diese häufig als charakteristisches Novum der „globalisierten Welt“ bezeichnet – ein optimistisches Konzept, das von einem weitgehend hierarchiefreien Verhältnis der Weltteile zueinander ausgeht. Die folgenden Ausführungen zeigen einige Wechselbeziehungen zwischen Künstler/innen, Kunstbetrieb und politischen Kräfteverhältnissen, die im Rahmen unseres Projekts (1) wirkmächtig werden.

Copyright: Marjolijn Dijkman

Dépendance in Berlin

Lächelnd blicken zwei junge Männer auf ihre T-Shirts. "In" steht auf dem schwarzen T-Shirt des Weißen und "dépendance" auf dem weißen, das der Schwarze trägt. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, aber sie lachen und sind sich der Irritation bewusst, die diese Verteilung der Silben von "indépendance" (frz. für Unabhängigkeit) auslöst. Die Künstler Alioum Moussa aus Kamerun und Maarten Vanden Eynde aus Belgien haben unter dem Titel "IN_DEPENDANCE" eine Aktion entwickelt, mit der sie Dialoge anstoßen wollen. Hinter der minimalen Gestaltung der T-Shirts steht das Statement der Künstler, dass "Afrika keineswegs unabhängig ist, da es weiterhin von den Interessen des globalen Nordens beeinflusst wird" (2). Die risikoreichen Migrationsversuche von Afrikaner/innen über das Mittelmeer in das verheißungsvolle Europa, das sich auf brutale Weise abschottet, kondensieren sich in den zwei Buchstaben von "in", die der europäische Künstler auf der Brust trägt.

Im Sommer 2010 wurde dieses Projekt als Plakat zum Mitnehmen im Rahmen einer Gruppenausstellung im Kunstraum Savvy Contemporary in Berlin präsentiert. Die Ausstellung mit dem Titel "Stardust in a nutshell" brachte – als Vorschau auf die Neuproduktionen – zehn Kunstwerke zusammen, die auf der Achse Kamerun-Europa entstanden sind. Darunter war auch die Arbeit "Pah’bèt" der Schweizer Künstlerin Dunja Herzog, die klischeehafte Erwartungshaltungen gegenüber 'Afrikanischer Kunst' parodiert. In Zusammenarbeit mit Kunsthandwerkern aus der Bronzestadt Foumban hat sie zwei kleine Bronzetiere gefertigt und dazu ein Fruchtbarkeitsritual erdacht und inszeniert. Letzteres wird in einer quasi-ethnologischen Publikation präsentiert. Dieser humorvolle, aber reflektierte und selbstkritische künstlerische Ansatz ist richtungsweisend für unsere Arbeit im historisch belasteten Kontext der europäisch-afrikanischen Beziehungen.

Dunja Herzog: „Pah’bèt“. Zwei Bronzeobjekte. Copyright Foto: Annette Schemmel

In der Ausstellung wurde neben Publikationen aus der dynamischen Kunstszene Doualas auch ein Fotoalbum von 1919 gezeigt, das ein in der Kolonie Kamerun stationierter, deutscher Schutzmachtsoldat für seine Familie zu Hause angelegt hatte. Es stammt aus der deutschen Schwiegerfamilie des in Kamerun geborenen künstlerischen Leiters von Savvy Contemporary, Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Für viele Besucher/innen dürfte dies der erste Kontakt mit der deutschen Kolonialvergangenheit in Kamerun gewesen sein, denn das Bewusstsein für diesen Teil der Geschichte, die weit vor dem Abschluss der sogenannten Schutzverträge 1884 ihren Anfang nahm, ist in Deutschland sehr schwach ausgeprägt.

50 Jahre Indépendance à la Camerounaise

Frankreich und England hatten die Verwaltung des Landes nach der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg 1919 als UN-Schutzmandat übernommen. Rechtzeitig vor der formalen Dekolonisierung und der Entthronisierung des ersten kamerunischen Präsidenten Ahmadou Ahidjo am 1. Januar 1960, ließ sich Frankreich die Bodenschätze des Landes vertraglich überschreiben. Es folgte die systematische Auslöschung der Volkspartei UPC, die um eine weiter reichende Unabhängigkeit gekämpft hatte, mit Hilfe der französischen Armee. Dies sind bis heute politisch brisante Themen in Kamerun, die die Freude über die Unabhängigkeit für Viele trüben.(3) Die Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Unabhängigkeitsjubiläum Anfang 2010 wurden zwar pompös inszeniert, von der Bevölkerung aber wenig begeistert aufgenommen. Die Agence France-Presse berichtete von Studenten, die bezahlt werden mussten, um als Claqueure die Säle der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten zu füllen.

L’art de l’indépendance, Embedded Institutional Critique oder einfach Meinungsfreiheit?

Unabhängige Meinungsäußerung und zweckfreier Selbstausdruck sind die gesellschaftlichen Funktionen, die zeitgenössische Künstler/innen in den westlichen Demokratien erfüllen. Der 'autonome Künstler' ist ein Idealbild der Moderne. Solche Idealbilder würden sich nie vom Staat instrumentalisieren lassen, ihre realen Kollegen schon eher. Dass auch unter demokratischen Verhältnissen politische und institutionelle Interessen die Kunst beeinflussen, die gezeigt und in Auftrag gegeben wird, ist nicht neu. Dieses Problem ist das Thema der Institutional Critique, die mehrere Künstlergenerationen im euro-amerikanischen Kunstbetrieb seit den 1960ern artikulieren. Insbesondere projektbasiert und ortsspezifisch arbeitende Künstler/innen, die eingeladen werden ihre Autonomie unter Beweis zu stellen, indem sie kritische Kommentare zur Gesellschaft und auch zur ausstellenden Institution selbst abgeben, befinden sich in finanzieller und symbolischer Abhängigkeit von ihren Gastgebern – eine paradoxe Position, die jede/r Künstler/in von Projekt zu Projekt auflösen muss. Die New Yorkerin Andrea Fraser fasst für alle Künstler/innen zusammen: "Dependence is the condition of our autonomy" (4). In den meisten Fällen kann diese Form der Abhängigkeit aber mit den Vertretern der Institution auf Augenhöhe verhandelt werden.

Ziemlich abgehoben nehmen sich diese Überlegungen, die im westlichen Kunstbetrieb zum kritischen Selbstverständnis gehören, angesichts der Situation in Ländern mit deutlich eingeschränkten zivilen Freiheiten aus. Künstler/innen in Kamerun sind zusätzlich von der Informalisierung des öffentlichen Sektors bedroht, die zu willkürlichen Übergriffen der staatlich legitimierten, aber korrupten Ordnungshüter führt. Im Zusammenhang mit der Dokumentation der Berliner Gruppenausstellung "Stardust in a nutshell" wurde das Paket mit den Katalogexemplaren für die kamerunischen Teilnehmer in Douala von der Polizei zu Kontrollzwecken geöffnet und einige Künstler vorgeladen. Sie sollten sich rechtfertigen für ihre künstlerischen Arbeiten und das angeblich negative Bild, das sie im Ausland von Kamerun verbreiten. Gerade das Medium Fotografie wird dort sehr argwöhnisch beäugt. Künstlerische Unabhängigkeit – das hieße an dieser Stelle zunächst einmal Meinungsfreiheit und die Freiheit, mit künstlerischen Mitteln zu zeigen, was die Gegenwart kennzeichnet.

Asymmetrische Interdependenzen

Kunstinstitutionen in demokratischen Ländern sind Plattformen für Arbeiten, die Künstler/innen andernorts in Schwierigkeiten bringen und erfüllen damit eine wichtige emanzipatorische Funktion. Sie handeln damit aber auch im eigenen Interesse, denn an sie wird von ihrem Publikum eine wachsende Nachfrage nach kultureller Differenz herangetragen, die die 'exotischen' Gäste bedienen können.(5) Der Kunstbetrieb feiert dementsprechend spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends seine Öffnung für Künstler/innen aus anderen Weltregionen. Diese wird auch gern mit einer wachsenden Zahl von global gestreuten Biennalen, Museen und Artist-in-Residence-Programmen in Zusammenhang gebracht.(6

Die Soziologin Larissa Buchholz zeigt jedoch mit Rückgriff auf Bourdieu, dass die scheinbar machtfreien Interdependenzen zwischen Nord und Süd im Kunstfeld weiterhin deutlich asymmetrisch sind.(7) Im globalen Wettkampf um Aufmerksamkeit bestehen für Kulturproduzent/innen aus dem globalen Süden noch immer massive Ungleichheiten im Hinblick auf Reise- und Meinungsfreiheit, Ausbildung, staatliche Förderung oder den Zugang zu Institutionen, die das symbolischen Kapital besitzen, neue Kunst auf dem Markt zu legitimieren. Denn diese Institutionen konzentrieren sich nach wie vor in den alten Kunstzentren Europas und Amerikas und wer eingeladen wird, entscheidet sich dort.
 
Das ist also der thematische Steinbruch für das Ausstellungsprojekt mit dem Arbeitstitel "inTERdependence": politische Unabhängigkeit im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte, In- und Exklusionsmechanismen des westlichen Kunstbetriebs, Ideale von künstlerischer Autonomie und das jeweils subjektive Erleben von Unabhängigkeit. Die Tatsache, dass je ein/e europäische/r und eine/r kamerunische/r Künstler/in zusammenarbeiten, wird neue Interdependenzen und Abhängigkeiten hervorbringen, die es produktiv zu machen gilt.

Copyright: Marjolijn Dijkman

Futurologie de l’Indépendance

In Kamerun, wie in ganz West- und Zentralafrika werden bedruckte Baumwollstoffe als ‘pagnes’ im Ballen von sechs Yards – der Standardstoffmenge für ein Kleid – verkauft. Die sogenannten  Erinnerungsstoffe zeigen Motivkombinationen, die sich um ein erinnerungswürdiges Ereignis gruppieren. Sie sind aus Fotos, Slogans, instruktiven Zeichnungen und Symbolen zusammengesetzt. Die so erinnerten Ereignisse können privater, nationaler und globaler Natur sein, sie reichen von Hochzeiten über Staatsbesuche und die Gedenktage der UNO. Die Frauen, die die prachtvollen und individuell geschneiderten Kleider aus diesen Stoffen tragen, fungieren als Botschafterinnen im wörtlichen Sinn.
 
Die holländische Künstlerin Marjolijn Dijkman und der Journalist und Kunstkritiker Lionel Manga aus Douala haben sich die Frage gestellt, wie ein 'pagne' zum 100. Jubiläum der kamerunischen Unabhängigkeit aussehen müsste? Welche Errungenschaften sollten gefeiert, welche Farben und Symbole genutzt werden, welche Fotos gezeigt und welche didaktischen Botschaften verbreitet werden? Schließlich ist nie zu früh, Visionen für eine bessere Zukunft zu entwickeln!

....
Annette Schemmmel, geb. 1979, lebt und arbeitet in Berlin und München als freischaffende Kuratorin für zeitgenössische Kunst. Sie hat an der Akademie der Bildenden Künste in München und an der UdK Berlin studiert und am Curatorial Program des De Appel Art Centre in Amsterdam teilgenommen. Sie war 2007/08 die erste Stipendiatin des H+F Curatorial Grant am FRAC Nord-Pas de Calais in Dunkerque, FR. An der FU Berlin bearbeitet sie eine Doktorarbeit zu informellen Professionalisierungsstrategien von Künstler/innen in der „Peripherie“ des globalen Kunstbetriebs.


Fußnoten:
(1)
Mehr Info unter http://www.enoughroomforspace.com/. Die Heinrich-Böll-Stiftung ist Auftraggeberin dieses Texts, ansonsten aber nicht in das Projekt involviert.
(2) Siehe Interview im Ausstellungskatalog „Stardust in a nutshell“, Berlin, 2010. Zu beziehen über www.savvycontemporary.com.
(3)
Mehr dazu im Film „Cameroun. Autopsie d’une Indépendance“ von Valérie Osouf und Gaëlle le Roy, Frankreich 2007, 52 min.
(4)
Fraser, Andrea: „How to Provide an Artistic Service: An Introduction“, Manuskript zu einem Vortrag im Depot, Wien, 1994.
(5) Vgl. Belting, Hans: "Contemporary art as global art. A critical estimate". S. 40. In: Belting, Hans; Buddensieg, Andrea (Hsg.): "The Global Art World. Audiences, Markets and Museums", Ostfildern 2009.
(6) Vgl. Wuggenig, Ulf: "Fictions, Myths, Realities. Centres, Peripheries and Art". S. 24- 51. In: Alvim, Fernando; Munder, Heike; Wuggenig, UIf: "The next flag. The African Sniper Reader". Zürich, 2005.
(7) Buchholz, Larissa: "Feldtheorie und Globalisierung". S. 218. In: v. Bismarck, Beatrice, Kaufmann, Therese, Wuggenig, Ulf: "Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik". Wien, 2008. Siehe auch Bydler, Charlotte: "The Global Art World Inc. On the globalization of contemporary art". Uppsala, 2004.

Dossier

50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika

Das Jahr 1960 war für viele Afrikaner/innen ein Jahr der Hoffnungen. 17 Länder erlangten die Unabhängigkeit von den kolonialen Mächten. Das Dossier soll „Blitzlichter“ auf die Länder werfen, die 1960 unabhängig wurden: mit ganz persönlichen Beiträgen. Daneben gibt es Hintergrundartikel von renommierten Autoren aus Deutschland und verschiedenen Ländern Afrikas sowie Auszüge aus den Reden, Schriften und Kurzporträts, die die Aufbruchstimmung von 1960 deutlich machen.