Viele in Nigeria fürchten sich in diesen Wochen vor einer Ansprache: "Liebe Landsleute, um die Ordnung unserer Nation weiter zu garantieren, haben sich patriotische und mutige, junge Offiziere der Armee..." In Nigeria geht die Angst vor einem Staatsstreich um. In den vergangenen Wochen hat sich ein Machtvakuum im bevölkerungsreichsten Land Afrikas gebildet. Der Präsident des Landes, Umaru Musa Yar'Adua, begab sich bereits Ende November in medizinische Obhut nach Saudi Arabien. Seither hat ihn die Öffentlichkeit nicht mehr leibhaftig gesehen. Für einen solchen Fall ist der Vizepräsident da, um die Amtsgeschäfte weiter zu führen. Allerdings hinterließ Yar'Adua dem zweiten Mann im Staat kein offizielles Ernennungsschreiben. Zudem hätte der Präsident gemäß der Verfassung seine Abwesenheit – sei es aufgrund von Krankheit oder Urlaub - dem Parlament melden müssen. Auch dies geschah nicht. Infolgedessen schlingert die nigerianische Regierung nunmehr seit über 60 Tagen. Eine Reihe von dringenden Regierungsgeschäften konnten nicht ausgeführt werden.
Fehlende Spitze
Für die Öffentlichkeit wurde die kopflose Regierung ganz deutlich bei den Reaktionen auf den vereitelten Terroranschlag auf ein amerikanisches Flugzeug zu Weihnachten. Es gibt Stimmen im In- und Ausland, die sagen, der nigerianische Präsident hätte sofort direkt mit Präsident Barack Obama sprechen sollen. So hätte wenigstens eine Chance bestanden, dass Nigeria nicht auf die US-Liste der Terrorländer gekommen wäre. “Wir können keine Partnerschaft haben, wenn keiner am Ende der Telefonleitung ist”, schrieb die einflussreiche amerikanische Online-Publikation “Huffington Post”. Doch die Reaktionen aus der nigerianischen Hauptstadt Abuja hatten nicht die nötige Ranghöhe. Die Klagen einer Informationsministerin, die sich um den Ruf Nigerias sorgt, reichen bei einem solchen Ereignis nicht. Eine Woche später stand die Neujahrsansprache an. Um das nigerianische Volk nicht ohne offiziellen Segen der Regierung ins neue Jahr starten zu lassen, übernahm der Vizepräsident diesen Part. Auch das ein Signal für die Nigerianerinnen und Nigerianer, dass es nicht gut um ihren Präsidenten steht. Schwerwiegender und verfassungsrechtlich bedenklich wurde die Abwesenheit Yar'Aduas dann aber endgültig, als der neue oberste Richter eingeschworen werden sollte. Dies ist eine Amtshandlung, die von der Verfassung her der Präsident leisten muss. Letztlich schwor der alte oberste Richter seinen Nachfolger ein. Damit brachte die Regierung die Opposition, Juristen und allerlei Vertreter der Zivilgesellschaft des Landes gegen sich auf. Sie sahen die Verfassung gebrochen. Eine Bürgerrechtsorganisation erklärte den Präsidenten vor Gericht sogar als vermisst. Zudem kam die Forderung von Juristen, dass alle Regierungsbeschlüsse während der Abwesenheit von Yar'Adua als nichtig betrachtet werden. Bei der Unterschrift zum Haushaltsgesetz verdächtigten viele sogar die Signatur des Präsidenten als pure Fälschung.
Staatsstreich der neuen Art
Spätestens jetzt wunderten sich viele Nigerianer, wer eigentlich Zugang zu dem kranken Präsident hat. Von offizieller Seite hieß es stur, der Präsident sei auf dem Weg der Besserung und leide an einer akuten Entzündung des Herzbeutels sowie seit längerem an Nierenversagen. Aber die Gerüchteküche kam nicht zur Ruhe und wollte den Präsidenten in Koma oder gar tot wissen. Wie es dann zur Unterschrift unter das Haushaltsgesetz kam, brachte Beobachter vollends in Stutzen. Die ehrgeizige nigerianische Wochenzeitung “Next”, gegründet von einem Pulitzer-Preisträger, berichtete, dass Yar'Aduas Hauptsekretär mit dem Haushaltsgesetz nach Saudi Arabien flog, um von seinem Chef die Unterschrift zu bekommen. Aber auch er durfte, nach Informationen von “Next”, den Präsidenten nicht sehen und musste in seinem Hotelzimmer bleiben und dort dem persönlichen Sicherheitschef des Präsidenten die Dokumente aushändigen. Später, so berichtet “Next” weiter, kam dieser mit der unterschriebenen Version zurück. Wer also sind die Leute, die darüber bestimmen, welche Informationen vom nigerianischen Präsidenten nach außen dringen? Literaturnobelpreisträger und moralische Institution des Landes, Wole Soyinka, gab die Antwort auf einem Protestmarsch zum Parlament Mitte Januar, rund 50 Tage nachdem Yar'Aduas nach Saudi Arabien evakuiert wurde. Soyinka wurde mit den Worten zitiert: “Eine kleine Gruppe um den Präsidenten herum hat jetzt die Kontrolle.“ In Nigeria berichten Medien von einer Clique von vier bis fünf Personen, die entscheiden, was ins Krankenzimmer des Präsidenten hinein- und herauskommt. Alles entscheidend scheint Yar'Aduas Ehefrau Turai Yar'Adua zu sein. Darin stimmen Berichte überein. Die nigerianische Tageszeitung “The Guardian” nennt neben der Ehefrau auch ausdrücklich den persönlichen Sicherheitschef des Präsidenten und dessen Verbindungsoffizier zur Armee. Sie haben überproportional an Einfluss gewonnen, nur weil sie Zugang zum Präsidenten zu haben scheinen. Daneben werden vier Personen aus der politischen Welt genannt: ein Jugendfreund Yar'Aduas, der zugleich Parlamentsabgeordneter ist; der Chefberater für Wirtschaftsfragen; der Landwirtschaftsminister und schließlich der Chefberater für Protokollfragen. Es gab mehrere Reisen von nigerianischen Gouverneuren und Senatoren nach Saudi Arabien. Aber keinem aus dieser Gruppe scheint Zutritt zum Präsidenten gewährt worden zu sein. Keiner sagt dem nigerianischen Volk, was los ist und was geschehen wird. Noch schlimmer: Keiner innerhalb Nigerias scheint es wirklich zu wissen - nicht die Parteifreunde Yar'Aduas oder sonstige Amtsträger des Landes.
Omen für die Zukunft?
Der kleine Kreis, der Yar'Adua sehen darf, ist natürlich nicht repräsentativ für das Land. Bis auf die beiden Sicherheitspersonen kommen die anderen aus dem Norden des Landes oder teilweise gar aus dem selben Bundesstaat wie Yar'Adua. Dieser Aspekt spielt in dem Vielvölkerstaat eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Machtverteilung unter den 150 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianern ist ein Hochpolitikum. Politische Ämter sind nach einem Quotenschlüssel vergeben. Präsident, Vizepräsident und die Sprecher des Senats und Unterhauses müssen alle aus unterschiedlichen Regionen kommen. Gleiches gilt für die Bundesminister. Das hat zur Folge, dass es praktisch eine Doppelbesetzung gibt: Für jedes Ministerium hat der Präsident auch einen persönlichen Berater, der im Zweifelsfall eher das Ohr des Präsidenten gewinnt, weil er persönlich von ihm berufen wurde. Zudem gibt es in Nigeria das ungeschriebene Gesetz des Rotationsprinzips bei der Vergabe des Präsidentenamtes. Der Vorgänger von Umaru Musa Yar'Adua kam aus dem Süden. Jetzt erwartet die politische Kaste des Nordens, dass sie auch für zwei Legislaturperioden den Präsidenten stellt. Denn politische Posten werden in Nigeria de facto mit Geld aufgewogen. Und der Präsident kann viele Posten und lukrative Staatsaufträge vergeben. Präsident Yar'Adua ist erst seit knapp drei Jahren im Amt. Sollte der Vizepräsident jetzt übernehmen, würden viele im Norden misstrauisch, weil er aus dem Süden kommt. So die gängige Meinung in Nigeria. Während es keine genauen Informationen über den wahren Gesundheitszustand des Präsidenten gibt, hat hinter den Kulissen bereits das Geschiebe um Posten für den Fall der Fälle begonnen. Sollte Yar'Adua nicht mehr zurückkommen oder unfähig sein, die Amtsgeschäfte wieder aufzunehmen, wird entscheidend sein, wer der zukünftige Vizepräsident sein wird. Ein mögliches Szenario ist, dass Vizepräsident Jonathan Goodluck für eine gewisse Zeit Platzhalter des Präsidentenamts bleibt und dann an einen neuen Vize übergeben wird, der aus dem Norden kommen dürfte. Kurzfristig von Gerichten gefällte Urteile geben Goodluck das Recht, die Amtsgeschäfte zu führen, aber der Status als offizielles Staatsoberhaupt bleibt ihm versagt.
Personen statt Institutionen
Die Ereignisse und möglichen Szenarien zeigen, wie Staatspolitik in dem westafrikanischen Land noch immer entscheidend an Individuen hängt. Institutionen bezogene Entscheidungen hinken hinter her. Es passiert das Gegenteil von dem, was der amerikanische Präsident im Sommer vergangenen Jahres bei seinem ersten offiziellen Afrika-Besuch gefordert hat. Und auch Yar'Adua hatte sich eine Abkehr von Individualinteressen auf die Fahnen geschrieben. Aber trotzdem die nigerianische Verfassung für das akute Fallbeispiel klare Richtlinien vorgibt, handeln die Akteure nach anderen Maßstäben. Die beiden Kammern des Parlaments einigen sich nicht auf ein Amtsenthebungsverfahren. Und der Zank zwischen der Zivilgesellschaft Nigerias, die auf transparente Regierungsführung pocht und eine politische Klasse, die je nach Region ihre eigene Interessen verfolgt, scheint zunehmend absurd. So wurde Yar'Adua an einem Tag in Zeitungen als Komapatient beschrieben. Am nächsten Tag gibt es ein vermeintliches einminütiges Telefongespräch des Präsidenten mit dem britischen Radiosender BBC. Jetzt verlangen skeptische Nigerianer eine Live-Fernsehschaltung zum Krankenbett des Präsidenten. Dabei werden die Probleme des Landes immer dringender. Der Frieden im Erdöl produzierenden Nigerdelta steht wieder auf der Kippe. Mitte Januar gab es seit langem wieder eine Entführung von Ausländern. Militante im Nigerdelta sagen schon länger, dass die Zukunft und der Frieden in der Region nicht an der Gesundheit eines Mannes hängen kann. Das von Yar'Adua gesetzte Ziel, bis zum Ende vergangenen Jahres 6.000 Megawatt Strom für das notorisch unterversorgte Land zu produzieren, ist gescheitert. Und nur noch wenige in Nigeria hoffen noch auf Yar'Aduas groß angekündigte 7-Punkte-Agenda: 1. Strom & Energie, 2. Nahrungsmittelsicherung & Landwirtschaft, 3. Wohlstandschaffen & Arbeitsplätze, 4. Öffentlicher Transport, 5. Landreform, 6. Sicherheit, 7. Qualitative und zielgerichtete Bildung. Die Forderungen nach einem offiziellen Abtritt von Präsident Umaru Musa Yar'Adua nehmen weiter zu. Respektlos schrieb eine Zeitung als Schlagzeile: „Pack' deine Sachen und geh' nach Hause“. Die Menschen auf der Straße haben die Geduld mit dem Staatschef verloren, der immer für sich beansprucht, Entscheidungen in Ruhe fällen zu wollen. Seit bald zwei Monaten gibt es nicht genügend Benzin im Land. Transport ist um ein Vielfaches teurer geworden und damit auch alle anderen Konsumgüter. Und auch wenn die Bundesregierung Truppen ins zentralnigerianische Jos geschickt hat, um die jüngsten Unruhen zwischen Muslimen und Christen unter Kontrolle zu bringen. Die Nigerianerinnen und Nigerianer haben ein weiteres Stück Hoffnung auf eine baldige funktionierende demokratische Gesellschaft verloren.
Hakeem Jimo ist freier Journalist und lebt in Lagos.