Politischer Jahresbericht des Büros Tbilisi für 2004/2005 (Auszüge)

Lesedauer: 9 Minuten

19. August 2008

Zusammenfassung

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Eineinhalb Jahre nach der „Rosenrevolution“ wird die Situation in Georgien geprägt von einer in immer kürzeren Zyklen agierenden, sich gegenüber der sich konsolidierenden Opposition aggressiv gebärenden Regierung von Präsident Saakaschwili. Seine Regierungspraxis entfernt sich zunehmend von den propagierten Idealen einer an rechtsstaatlichen und demokratischen Prozeduren orientierten Politik.

Statt von langfristiger Reform und institutioneller Erneuerung wird die innenpolitische Agenda geprägt von permanenten Postenwechseln innerhalb einer kleinen Gruppe von Politikern der Regierungspartei „Nationale Bewegung“ und dem mit hohem publizistischen Begleitaufwand geführten „Kampf gegen die Korruption“.

Bislang ausgeblieben sind die versprochenen Reformen zur Dezentralisierung des Staatsaufbaus und zur Einführung der Wählbarkeit von Gouverneuren und Bürgermeistern der größten Städte. Für den Präsidenten und seine Berater gilt offenbar die Devise, erst durch entschlossene Maßnahmen einer starken Hand den Staat zu einen, organisierte Kriminalität zu bekämpfen, sezessionistische Republiken notfalls gewaltsam zu reintegrieren und sich anschließend um die Demokratisierung des nun endlich starken Staates zu kümmern. Dass jedoch gerade durch diese Politik der Machtkonzentration das alte Patronage- und Klientelsystem nur modernisiert und verjüngt, aber nicht beseitigt wird, dafür bieten sich im heutigen Georgien zahlreiche Anhaltspunkte.

Außenpolitisch hat Georgien im Frühjahr 2005 nach mehrjährigen Verhandlungen den Abzug der russischen Militärbasen bis 2008 durchgesetzt. Das Verhältnis zum nördlichen Nachbarn bleibt angespannt, v.a. wegen der faktischen Annexionspolitik Russlands gegenüber der von Georgien abgespaltenen defacto-Republik Südossetien. (...)

Abchasien

Nicht nur in Georgien, auch im von Georgien seit zehn Jahren abgespaltenen und in einem fragilen Waffenstillstand befindlichen Abchasien fanden 2004/5 wesentliche politische Veränderungen statt, die mittelfristig Auswirkungen auf den Konfliktlösungsprozess haben werden. Der „Gründungspräsident“ und „Übervater“ des de facto-Staates Abchasien, Vladislav Ardzinba, der seit mehreren Jahren wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr an die Öffentlichkeit getreten war, konnte nach der abchasischen Verfassung nicht für eine dritte Wahlperiode kandidieren. Damit ging für Abchasien eine Epoche zu Ende, weil mit Ardzinba nicht nur seine Rolle als siegreicher Feldherr im Abchasien-Krieg und seine insgesamt unversöhnliche Haltung gegenüber Georgien verbunden waren, sondern auch ein Klientelsystem, in dessen Rahmen die raren Zugänge zu Reichtum und Ressourcen in Abchasien zugeordnet waren.

Als Nachfolger hatte sich Ardzinba, in enger Abstimmung mit dem Kreml in Moskau, seinen Premierminister Khadschimba auserkoren. Gegen diese Erbfolgeregelung regte sich in Abchasien seit zwei Jahren organisierter Widerstand, bei dem insbesondere die nicht zahlreichen, doch hoch qualifizierten Nichtregierungsorganisationen und einige Journalisten eine wichtige Rolle spielten. So kam es Anfang Oktober 2004 zu relativ demokratischen Wahlen, bei denen dem Regierungskandidaten Khadschimba mehrere Oppositionskandidaten gegenüberstanden, unter ihnen der in Abchasien als erfolgreicher, ehrlicher Geschäftsmann populäre Sergej Bagapsch.

Bis Ende September rechnete allerdings niemand mit einer Niederlage Khadshimbas, da die offene Unterstützung der russischen „Garantiemacht“ für Khadshimba als ausschlaggebender Bonus angesehen wurde. Erst als ausgerechnet am in Abchasien als „Unabhängigkeitstag“ begangenen Jahrestag des Sieges im Abchasienkrieg auf der zentralen Kundgebung russische Redner, unter ihnen Vladimir Schirinowksi, den Abchasen mit Boykott drohten, sollten sie nicht für den von Moskau favorisierten Kandidaten stimmen, wendete sich plötzlich das Blatt. Die Mehrheit der von diesen Auftritten zutiefst gekränkten und angewiderten Abchasen gab ihre Stimme dem Oppositionskandidaten Bagapsch.

Sein von der zentralen Wahlkommission verkündeter Wahlsieg wurde aber vom unterlegenen Regierungskandidaten nicht anerkannt; ja nun beschuldigte die Regierung die Opposition der massiven Wahlfälschung. Was folgte, war ein zweimonatiges Tauziehen mit zahlreichen Demonstrationen, die bis zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führten, denen eine Demonstrantin zum Opfer fiel. Schockiert waren die Abchasen, als ihre russische „Schutzmacht“ zu Verhinderung der Amtseinführung des siegreichen Bagapsch einen Boykott verhängte und die Grenze zu Abchasien schloss. Damit traf sie zur Zeit der Mandarinenernte v.a. die ländliche Bevölkerung hart, die vom Export ihrer Produkte nach Russland lebt.

Schließlich reisten aus Moskau der stellvertretende Generalstaatsanwalt und ein stellvertretender Parlamentsvorsitzender „als Privatpersonen“ an, um „zwischen den Parteien zu vermitteln“. Ergebnis: Eine Wiederholung der Wahlen Ende Dezember, bei der die beiden Kontrahenten gemeinsam in einem Block antraten; der siegreiche Bagapsch als Präsidentschaftskandidat, sein unterlegener Opponent als Vizepräsidentschaftskandidat. In einer mit den Moskauern ausgehandelten Vereinbarung wurde dabei die weitgehende Zuständigkeit des Vizepräsidenten für die „Machtministerien“ Innen, Außen und Verteidigung festgelegt.

Kaum beachtet im Westen, hat die russische Politik gegenüber dem „nahen Ausland“ mit dem Wahlsieg von Bagapsch in der ersten Runde bereits vor den Ereignissen in der Ukraine einen enormen Prestigeschaden erlitten. Der vor den Wahlen eigens von Putin empfangene Khadschimba wurde von den Abchasen abgelehnt, obwohl dort insgesamt die Notwendigkeit einer engen außenpolitischen Anlehnung an Russland zum Erhalt der Unabhängigkeit von Georgien als gesellschaftlicher Konsens gilt. Noch stärker diskreditiert hat sich Russland durch die grobe und unverhohlene Einmischung, um die Umsetzung des nicht genehmen Wahlausgangs zu verhindern. Damit werden in der zahlenmäßig kleinen abchasischen Gesellschaft Positionen gestärkt, die vor einem zu engen Vasallentum gegenüber Russland warnen und keine pro-georgische, aber eine „pro-abchasische“ Politik der Eigenständigkeit auch gegenüber Russland vertreten.

In Abchasien haben die Ereignisse um die Wahl eine tiefe innergesellschaftliche Spaltung zwischen Anhängern des alten Regimes und Befürwortern einer politischen und personellen Erneuerung hervorgerufen, die quer durch die familiären Netzwerke dieser sehr kleinen Gesellschaft verläuft. So schmerzhaft dieser Prozess daher auch empfunden wird, kann er mittelfristig die positive Folge haben, dass sich organisierte politische Lager bzw. Parteien herausbilden, die in der politischen Auseinandersetzung um unterschiedliche Optionen für die Weiterentwicklung Abchasiens ringen.

Derzeit jedoch ist der Spielraum der neuen Regierung denkbar gering: Obwohl im persönlichen Gespräch von führenden Repräsentanten sehr pragmatische Positionen für den Umgang mit Georgien geäußert werden und man den westlichen Besucher versichert, nur aus Mangel an Alternativen in einer derart engen Verbindung zu Russland zu stehen, muss nach außen die absolute Bündnistreue und die unbedingte Kompromisslosigkeit gegenüber Georgien in Statusfragen demonstriert werden. Nach Aussagen aus Regierungskreisen gegenüber dem Autor dieses Berichtes ist der Druck, der durch die mit dem alten Regime verbündeten Kreise des russischen Geheimdienstes FSB auf die neue Regierung ausgeübt wird, enorm. Doch auch ohne diesen Druck ist eine grundsätzliche Bereitschaft zum Umdenken in der Grundsatzfrage der Unabhängigkeit weder unter der politischen Elite noch in breiteren Kreisen der Bevölkerung Abchasiens zu erkennen.

Nur jenseits dieser Statusfrage scheint sich im Verhältnis zu Georgien derzeit eine leichte Entspannung anzudeuten, da die Regierung Saakaschwili sich in Bezug auf die politischen Ereignisse in Abchasien bislang klug zurückgehalten hat. Im Grunde räumt die georgische Regierung trotz der permanenten Rede von der „Wiederherstellung territorialer Integrität“ einer eigenen Abchasien-Politik (die sich auf langjährige Vorarbeiten aus zivilgesellschaftlichen Dialogprojekten stützen könnte) keine Priorität ein. Widersprüchlichkeit bestimmt das Bild –  pragmatische Annäherungen in der Frage der Wiedereröffnung der russisch-georgischen Eisenbahnverbindung durch Abchasien oder der Sicherheitsgarantien für in den abchasischen Gali-Bezirk zurückgekehrte georgische Flüchtlinge werden durch aggressive Erklärungen und Aktionen (zuletzt die Aufbringung eines mit humanitären Gütern beladenen türkischen Frachters auf dem Weg nach Abchasien) konterkariert.

Für einen stabilen Vertrauensaufbau und die Überbrückung des Grabens zwischen den am Konflikt beteiligten Gesellschaften wären von beiden Seiten Schritte erforderlich, zu denen diesen Einsicht und Courage fehlt: Von abchasischer Seite eine Hinwendung zu den aus Abchasien geflohenen bzw. vertriebenen Georgiern, und von Georgien ein grundsätzlicher Gewaltverzicht, die offizielle Entschuldigung für den militärischen Einfall im Jahr 1992 und die Aufhebung der Blockade Abchasiens.

Südossetien

Auch für die Entwicklung des Konfliktes zwischen Georgien und der sezessionistischen Republik Südossetien brachte das Jahr 2004 einschneidende Veränderungen, allerdings nur in negativer Richtung. In der irrigen Annahme, nach der überraschend schnellen Wiedergewinnung der zentralstaatlichen Kontrolle über Adscharien lasse sich ein ähnliches Szenario auch in Südossetien wiederholen, demonstrierte die neue georgische Führung ihre Konzeptlosigkeit und völliges Unverständnis der ethnopolitischen Konflikte in Abchasien und Südossetien, deren Ursache nicht zuletzt in dem ethnozentristischen georgischen Nationalismus der achtziger und neunziger Jahre und der Diskriminierung der nichtgeorgischen Minderheiten liegen.

Während die Schließung des Schmuggel-Großmarktes an der Demarkationslinie zwischen Südossetien und Georgien durch georgische Behörden im Mai 2004 noch als überlegter rationaler Schritt gelten konnte, verstrickte sich die georgische Regierung in den Folgemonaten in eine chaotische Politik aus „Zuckerbrot“ (schlecht organisierte und propagandistisch ausgeschlachtete Lieferungen von Mehl und Düngemitteln) und „Peitsche“ (Truppenaufmärsche, unüberlegte „Polizeiaktionen“ zum „Schutz“ der in Südossetien gelegenen georgischen Dörfer, Aufbau von Straßensperren etc.).

Dies führte im August beinahe zum vollständigen Wiederaufflammen des Krieges; Resultat waren wochenlange Schusswechsel mit 27 getöteten Soldaten auf georgischer und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf südossetischer Seite. Die Eskalation wurde auf russischen und amerikanischen Druck hin beendet durch den von Saakaschwili angeordneten Rückzug der vom einflussreichsten „Falken“ in der Regierung geführten Truppen des Innenministeriums, des damaligen Innen- und heutigen Verteidigungsministers Irakli Okruaschwili.

Politisches Ergebnis der Ereignisse ist die Zerstörung der in den letzten Jahren gewachsenen informellen Verständigungskanäle und die Blockade der Kommunikationswege zwischen dem nur zwei Stunden von Tbilisi entfernten Südossetien und Georgien. Galt noch vor einem Jahr der Südossetien-Konflikt als der am leichtesten zu lösende Konflikt im Südkaukasus, so sind nach dem Sommer 2004 die Gesellschaften auf beiden Seiten wieder gegeneinander in Position gebracht; die Projektarbeit internationaler Organisation in Südossetien ist – durch die Blockade der freien Reisemöglichkeiten und die strenge Kontrolle durch das autoritäre südossetische Regime, das sich nach den Ereignissen nie gekannter Popularität unter der eigenen Bevölkerung erfreut, auf absehbare Zeit vereitelt.

Damit hat sich die Regierung Saakaschwili ohne Not die schlechtesten Voraussetzungen geschaffen für eine friedliche Etappenlösung, wie sie der Präsident seit seinem Auftritt vor dem Europarat im Januar 2005 in seinem „Friedensplan für Südossetien“ propagiert. Während die Umgebung des Präsidenten von westlichen Organisationen organisierte Möglichkeiten zum informellen Austausch mit der südossetischen Seite boykottiert, kündigt Saakaschwili die Wiederherstellung und sogar Aufwertung der Autonomie Südossetiens im georgischen Staatsverband, die Restitution von Besitzansprüchen vertriebener Osseten, die Einrichtung eines südossetischen Zeitfensters in den zentralen Fernsehkanälen und andere, bisher nie da gewesene Autonomierechte an.

Damit stößt er auf Interesse bei Internationalen und Abwehr bei georgischen Nationalisten, aber auf demonstrativ taube Ohren in Südossetien, wo man den Anschluss an Russland und damit die „Wiedervereinigung“ mit den Brüdern und Schwestern in Nordossetien zum Ziel der Politik erklärt. Wie sehr Russland in der Tat mit der de-Fakto-Annexion Südossetiens schon vorangeschritten ist, macht die kürzliche Ernennung eines russischen Ölindustriellen aus der westsibirischen Stadt Tomsk zum südossetischen Premierminister deutlich. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass sich Russland nachhaltig für Südossetien engagiert, sollte tatsächlich auf internationaler Ebene eine attraktive Kompensation für ein Loslassen dieses gegen Georgien eingesetzten Hebels gefunden werden.

 Im Sommer 2005 scheint ein Wiederaufflammen militärischer Auseinandersetzungen noch immer wahrscheinlicher als eine baldige friedliche Beilegung des Konfliktes und eine Wiedereingliederung Südossetiens als Autonome Republik innerhalb Georgiens.