Wider die Erweiterungsmüdigkeit

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Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
 

ursprünglich wollte ich diese Veranstaltung mit einem schlichten Aussagesatz beginnen: Anfang Juli 2013 wird Kroatien als 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union beitreten, Punkt.

Ich denke – und hoffe – immer noch, dass das der Fall sein wird. Aber wir haben inzwischen gelernt, dass das nicht unumstritten ist, auch darüber werden wir heute Abend im Licht des jüngsten Monitoring-Berichts der Europäischen Kommission über den Stand der kroatischen Beitrittsvorbereitungen diskutieren.

Ich habe aus diesem Bericht herausgelesen, dass Kroatien auf einem guten Weg ist. Das stimmt mit unserer eigenen Einschätzung überein. Das Land hat in den letzten 15 Jahren eine bemerkenswerte politische und gesellschaftliche Wandlung vollzogen – vom nationalistisch überhitzten, vom Krieg gezeichneten Nachfolgestaat Jugoslawiens zum Vorreiter der EU-Integration des Westbalkans.

Wer könnte mehr für diese Entwicklung stehen als der Staatspräsident Kroatiens in den Jahren 2000-2010? Ich freue mich sehr, Sie, Herrn Mesic, heute Abend hier in der Heinrich-Böll-Stiftung begrüßen zu dürfen: Herzlich Willkommen, Herr Präsident!

Sie sind ein ausschlaggebender Akteur und zugleich Symbolfigur für die positive Entwicklung des Landes: Sie waren der letzte Präsident Jugoslawiens, als diese multiethnische Republik an ihren inneren Widersprüchen zerbrach. Das wachsende nationale Selbstbewusstsein in den jugoslawischen Teilrepubliken kollidierte mit dem anschwellenden großserbischen Nationalismus.

Es folgten die katastrophalen Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die tiefe Wunden hinterlassen haben. Sie sind noch lange nicht verheilt. Es dauerte lange, zu lange, bis sich die Europäer im Schlepptau der USA dazu aufrafften, diesem Gemetzel ein Ende zu bereiten.

9 Jahre später haben Sie die Tür zur freiwilligen Integration Kroatiens in die europäische Gemeinschaft aufgestoßen: Als neuer Staatspräsident, der mit der Tudjman-Ära brach und das Land auf den steinigen Weg demokratischer Reform, der Aussöhnung mit den Nachbarn und der Übernahme europäischer Rechten und Pflichten lenkte. Ihre erste Auslandsreise als Präsident führte Sie seinerzeit nach Bosnien-Herzegowina, wo Sie von Tausenden an den Straßen begeistert begrüßt wurden.

Sie sind heute für uns eine wichtige Stimme für die Frage, die wir im Rahmen dieser Fachtagung diskutieren wollen: welche Auswirkungen der kroatische EU-Beitritt auf den westlichen Balkan insgesamt haben wird.

Hat der Zug zur europäischen Integration des Westbalkans genügend Schwung, um die lange Reise über Zagreb, Belgrad, Sarajevo, Podgorica, Skopje, Priština bis nach Tirana zu schaffen? Oder sollte er in Zagreb etwa schon an der Endstation angekommen sein? Dass der kroatische Beitritt noch in letzter Minute scheitern könnte oder auf die lange Bank geschoben wird, wollen wir uns lieber erst gar nicht ausmalen. Die politischen  und psychologischen Folgen wären verheerend, der Vertrauensverlust in die EU vermutlich irreparabel.

Gehen wir also davon aus, dass Kroatien im kommenden Jahr das 28. Mitglied der Union wird. Wie geht es dann weiter? Angenommen, die Konsolidierung und Integration Bosnien-Herzegowinas würde scheitern: Wäre es nicht eine üble Ironie der Geschichte, wenn das „Friedensprojekt EU-Erweiterung“ dazu führt, dass an der fast 1000 km langen Grenze zu Bosnien-Herzegowina kroatische Grenzer dauerhaft die Außengrenze der EU bewachen? Man kann sich die Narrative der Nationalisten auf beiden Seiten schon gut ausmalen: hier Europa, dort der Balkan, hier der Westen, dort die vormoderne Welt der Orthodoxie und des Islams.

Wird der kroatische Beitritt Serbien ermutigen, aus seiner trotzigen Selbstisolation herauszukommen, sich politisch und wirtschaftlich zu reformieren und den Annäherungsprozess an die europäische Gemeinschaft voranzutreiben?

Umgekehrt muss man hoffen, dass in der EU nicht die Kräfte die Oberhand gewinnen, die den Ausschluss Griechenlands statt den Einschluss Serbiens fordern. Wir setzen darauf, dass Kroatien mit seinem Beitritt zum Anwalt eines erneuerten europäischen Engagements wird und eine aktive Rolle als Brückenbauer in der Region spielt.

Last but not least: Wird der kroatische Beitritt selbst – inmitten der Schulden- und Vertrauenskrise, die die EU erschüttert – zu einer Erfolgsgeschichte für das Land? Wird die deutliche Mehrheit der kroatischen Bürgerinnen und Bürger so von dem Beitritt profitieren, dass er auf die Nachbarländer ausstrahlen wird? Die Union ist ja nicht nur eine ideelle Gemeinschaft: ihre Anziehungskraft hängt maßgeblich davon ab, dass sich das Alltagsleben der Bevölkerung  verbessert: mehr Rechtssicherheit, weniger bürokratische Willkür, bessere berufliche Chancen und moderne öffentliche Dienstleistungen.
 
Meine Damen und Herren, keine dieser Fragen lässt sich heute schon abschließend beantworten. Wir sind vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft an dem Punkt, an dem die Sache auch schief gehen kann. Umso dringender ist eine weitblickende Nachbarschafts- und Integrationspolitik, damit der kroatische Beitritt für das Land selbst, für seine Nachbarn und für die EU ein lang anhaltender Grund zur Freude wird.

Auch wenn diese Tagung sich auf den Westbalkan konzentriert, geht es dabei um Themen, die über die Region hinaus relevant sind. Es ist offenkundig, dass die Dynamik der europäischen Nachbarschaftspolitik stark gelitten hat. Erweiterungsmüdigkeit breitet sich aus; die Stimmen werden lauter, dass Vertiefung und Erweiterung nicht mehr auf einen Nenner zu bringen sind. Für uns ist diese Alternative nicht akzeptabel. Wir sind sehr für eine vertiefte politische Integration der EU, aber die innere Konsolidierung darf nicht den Charakter einer Festung annehmen, die sich gegenüber dem Rest Europas und der Welt abschließt. Das betrifft auch ganz aktuell die Debatte um die Aufhebung der Visafreiheit für Serbien und Mazedonien, die von einigen europäischen Innenministern angestoßen wurde. Das wäre ein fatales Signal an die Bürgerinnen und Bürger der Region, gerade an die jungen Leute, die sich als Europäerinnen fühlen und die nach Europa wollen. Die Schotten dichtzumachen ist auch keine Antwort auf das soziale Elend der Roma in Südosteuropa.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich plädiere hier nicht für eine Aufweichung der Kopenhagener Kriterien für einen Beitritt zur EU. In den Kernfragen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung der Korruption und einer funktionsfähigen Marktwirtschaft kann es keinen Rabatt geben. Der Aquis communautaire muss eingehalten werden. Aber umgekehrt gilt auch: wenn ein Staat diese Kriterien am Ende eines langen Weges erfüllt, muss die EU zu ihrer Zusage stehen, dass alle demokratischen Länder Europas Mitglied der Gemeinschaft werden können und sollen. Es geht hier um eine Verpflichtung auf Gegenseitigkeit.

Wahrscheinlich brauchen wir künftig differenzierte Stufen der Integration, die anschlussfähig für neue Mitglieder sind. Eine EU mit 28, 30 oder 35 Mitgliedern braucht eine variablere Architektur als eine kleine Gemeinschaft relativ homogener Länder. Aber die Perspektive des gemeinsamen europäischen Hauses darf nicht aufgegeben werden. Es gibt keinen wirkungsvolleren Hebel zur Beförderung von Rechtsstaatlichkeit und institutioneller Modernisierung als den Beitrittsprozess. Das setzt freilich voraus, dass die Mehrheit der Zivilgesellschaft und der Führungseliten diese Integration wollen und bereit sind, die dafür notwendigen Veränderungen anzugehen.

Es braucht Hartnäckigkeit und einen langen Atem, um in der EU wie in der Region den Boden für die europäische Integration des Westbalkans zu bereiten. An diesem historischen Projekt werden wir uns auch künftig beteiligen, und diesem Ziel soll auch die Tagung dienen, die wir heute Abend beginnen.
 

 

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