Der Internationale Strafgerichtshof im Spannungsfeld von Justiz und Politik
Als der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) am 1. Juli 2002 seine Arbeit aufnehmen konnte, galt dies als großer Schritt im weltweiten Kampf um Menschenrechte. 60 Staaten hatten zu jenem Zeitpunkt das 1998 in Rom verabschiedete Statut ratifiziert und damit die völkerrechtliche Grundlage für den IStGH geschaffen. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda lagen nur wenige Jahre zurück. Beide Konflikte hatten die Notwendigkeit eines solchen Gerichts auf dramatische Weise deutlich gemacht. Inzwischen haben 113 Staaten das Rom-Statut ratifiziert, 35 weitere, darunter die USA und Russland, haben es unterzeichnet. China hat bisher nicht einmal unterschrieben. Die Europäische Union hingegen unterstützt die Arbeit des IStGH.
Im Juni 2010 kamen 4000 Teilnehmer in der ugandischen Hauptstadt Kampala zusammen, um eine Bilanz der bisherigen Arbeit des IStGH zu ziehen. Barbara Lochbihler war als Vertreterin des Europäischen Parlaments eine der Teilnehmerinnen dieser Überprüfungskonferenz. Sie ist Europaabgeordnete der Grünen, vielen aber auch als langjährige Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International bekannt. Sie lobte den Ablauf der Konferenz, rügte das Desinteresse der großen Medien und die Abwesenheit der EU-Außenrepräsentantin Catherine Ashton, benannte aber gleich auch die Kritik, der das Gericht in seiner Arbeit ausgesetzt ist. Dies ist vor allem der Vorwurf, zu selektiv zu ermitteln und so der eigenen Legitimität zu schaden.
So sei es nie zu einer Anklage gegen den früheren usbekischen Innenministers Zakir Almatow gekommen, der von Amnesty International und Human Rights Watch für die Erschießung hunderter Demonstranten in Andischan im Mai 2005 verantwortlich gemacht wird. Erfolglos blieben auch die Bestrebungen, den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen der Folter in Abu Ghraib und Guantánamo Bay vor das Strafgericht zu bringen. Der Haftbefehl und die Anklage wegen Völkermord gegen den sudanesischen Staatspräsidenten Omar Hassan al-Bashir wird dagegen von vielen afrikanischen Staaten abgelehnt und hintertrieben.
Diese gewaltigen Schwierigkeiten wurden beim Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der taz von Lochbihler und von der kenianischen Politikwissenschaftlerin Lydia Kemunto Bosire detailliert erörtert und von taz-Afrikaredakteur Dominic Johnson zu Beginn mit den Worten „Der Strafgerichtshof hat noch nicht viel erreicht, er arbeitet langsam, aber beharrlich und gründlich“ auf den Punkt gebracht. Bisher konzentriert sich die Arbeit des Gerichts auf afrikanische Länder – DR Kongo, Uganda, Sudan, Zentralafrikanische Republik. Nur zwei Prozesse werden gegenwärtig in Den Haag geführt, einer davon, die Anklage gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, droht an technischen Prozessfragen zu scheitern.
Ermittlungen wurden auch wegen der ethnischen Gewalttaten nach der letzten Präsidentenwahl in Kenia aufgenommen, bei denen 2007 und 2008 1300 Menschen ums Leben gekommen und eine Vielzahl davon aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Angesichts der Opferzahlen im Kongo oder im Sudan mag dies als eher geringfügig erscheinen, doch habe Kenias langjährige Regierungspartei auch früher schon Gewalt als Wahlkampfstrategie eingesetzt, erläuterte Bosire, und sich damit auf für eine Demokratie gefährliches Terrain begeben. Kenia als ansonsten funktionierendes Staatswesen sei deshalb ein Testfall im Kampf gegen die so genannte „Kultur der Straflosigkeit“. Dennoch kritisierte Bosire gleichzeitig die „Kultur des Doppelstandards“ indem sie die Frage aufwarf, warum bei deutlich schwereren Menschenrechtsverletzungen, wie z.B. im Irak, keine Untersuchungen erfolgen und formulierte damit eine weit verbreitete Ansicht unter Regierungen und Bevölkerung in Afrika.
Bosire arbeitet für das interdisziplinäre Netzwerk Oxford Transitional
Justice Research (www.csls.ox.ac.uk/otjr.php ), das sich mit den Möglichkeiten der Aufarbeitung gewalttätiger Konflikte befasst. Sie stellte einen wesentlichen Punkt klar: „Internationale Justiz ist in erster Linie politisches Handeln“ – die „Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“, die sich Lochbihler im Interesse eines zivilen Umgangs der Nationen wünschte, bleibt ein Fernziel, auch wenn der IStGH ein wichtiger Schritt in diese Richtung sei. Aber die Rahmenbedingungen, in denen der Gerichtshof agiert, werden politisch gesetzt. Er ist gar in der Zwickmühle: Schließlich kann in einem Land nur ermittelt werden, können nur dort Zeugen gesucht und befragt werden, wo die jeweilige Regierung dies zulässt. Bosire sah es als gegeben, dass der IStGH nur über begrenzte Ressourcen verfüge und sich eben entscheiden müsse, ob er gegen Kriegsverbrechen im Irak oder im Kongo ermittle. Von Anfang an sollte der IStGH nur aktiv werden, wo Strafverfolgung schwerster Verbrechen auf nationaler Ebene unterbleibt und den Opfern der Gewalt Gerechtigkeit verweigert wird.
Man müsse weiterhin über „Komplementarität“ nachdenken, und dabei von einem breiteren Gerechtigkeitsbegriff und einem vielfältigeren Instrumentarium in Postkonfliktsituationen ausgehen. Ein solches Instrument seien Wahrheitskommissionen, wie es sie in Südafrika oder Argentinien nach dem Ende der Diktatur gegeben hat, oder materielle Entschädigungen der Opfer. Ein großer Gewinn sei, sagte Bosire, dass die Existenz des IStGH in vielen Ländern eine breite und anhaltende Diskussion über Gerechtigkeit angestoßen habe. Als sie Ende 2007 in Uganda ankam, wo die „Lord’s Resistance Army“ die Zivilbevölkerung terrorisiert hatte und ihr Führer Joseph Kony vor dem IStGH angeklagt worden war, „sprach jeder darüber, was Gerechtigkeit bedeute und wie man sie schaffen könne – und ob man sie wirklich den Richtern in Den Haag überlassen wolle“.
Der IStGH muss sich stets dagegen wehren, von unterschiedlichster Seite instrumentalisiert zu werden, ist dabei zugleich auf die Kooperation von Staaten angewiesen. Er muss einzelne Fälle auswählen, ohne sich zugleich dem Vorwurf der selektiven Justiz auszusetzen. Er muss abschätzen, ob er in einem Land womöglich einen Versöhnungsprozess aufs Spiel setzt, wenn er – wie 2008 in Uganda – gegen die Urheber der Gewalt Anklage erhebt. Aber er hat in den zehn Jahren seit 1998 deutlich mehr als hundert Staaten von seinem Konzept überzeugt. Auch die USA haben seit dem Wechsel von Präsident George W. Bush zu Barack Obama begonnen, aktiv mitzudiskutieren, konnte Barbara Lochbihler in Kampala beobachten. Die 4000 Teilnehmer hätten gezeigt, dass sie in einer vielfältigen Kampagne der Kultur der Straflosigkeit entgegenwirken wollen.
Jour Fixe