Eine Verstaatlichung der EU könnte nicht gutgehen: In der Krise nicht den Integrationskurs ändern

Das europäische Parlament in Straßburg, Bild: SordaCadencia, Lizenz: CC-BY-NC 2.0

22. Juni 2012
Joscha Schmierer

Seit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrags sind gerade ein paar Jährchen vergangen. Mit ihm wurden wesentliche Bestimmungen des Verfassungsvertrages, der in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, ins politische Leben Europas hinüber gerettet. Die Möglichkeiten dieses Vertrages sind gerade in Sachen europäischer Demokratie praktisch keineswegs ausgeschöpft. Die Zukunft der Europäischen Demokratie, eine Studie von Claudius Franzius und Ulrich K. Preuß für die Heinrich Böll Stiftung zeigt sie auf. Und doch fällt manchen Politikern, zum Beispiel Außenminister Westerwelle, nichts Besseres ein, als die öffentliche Aufmerksamkeit erneut auf eine Verfassungsdiskussion richten zu wollen. Europa brauche eine gemeinsame Verfassung, über die die Bürger in einer Volksabstimmung entscheiden sollten, ließ er über die Welt am Sonntag vor Monaten wissen. Westerwelle versucht eine Art Neuauflage von Joschka Fischers Vorstoß mit seiner Humboldt-Rede, um aus der Beobachterecke - fern vom Krisenmanagement der Regierungschefs - heraus zu kommen. Ein „neues Kapitel“ in der Europapolitik wolle er aufschlagen. Neue „Vertiefungsschritte“ sollten unternommen werden. Also rief er eine „Zukunftsgruppe“ ins Leben, an der auf seine Einladung außer ihm die Außenminister der westeuropäischen Mitgliedstaaten (minus Großbritannien und Schweden) plus Polen teilnehmen.  In einem ersten Zwischenbericht der bisher drei Diskussionsrunden werden einige altbekannte Wünschbarkeiten europäischer Reform neu gesammelt. Eine Verfassungsdebatte lohnen sie nicht.

Kriterien gemeinsamer Politik

Natürlich handelt es sich bei diesen Bemühungen, über eine Verfassungsdebatte zurück ins Zentrum der europäischen Politik vorzustoßen, um den Auftritt auf einer Nebenbühne des großen Dramas, das die EU gegenwärtig durchschüttelt. Aber er ist nicht untypisch für eine Neigung, „mehr Europa“ zu fordern, wenn die tatsächlichen Schwierigkeiten nicht in erster Linie den Mängeln und Schwächen der europäischen Institutionen entspringen, sondern der Unfähigkeit von Mitgliedsstaaten, den Anforderungen zu genügen, die nicht etwa Europa, sondern die moderne, globalisierte Welt an sie stellt. Wichtiger als die Neuauflage einer europäischen Verfassungsdiskussion anzuzetteln, wäre es auf die „Kopenhagener Kriterien“ zurückzukommen. Sie sollten einen Leitfaden liefern, an dem sich die inneren Reformen der Staaten, die sich soeben aus der sowjetischen Herrschaft befreit hatten und den Beitritt anstrebten, orientieren konnten. Zugleich sollten sie den Maßstab bilden, nach dem die EU die Beitrittsreife der Mitgliedskandidaten beurteilte. Es wurden Ansprüche an eine funktionierende Demokratie formuliert, an gute Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und die Fähigkeit, mit den anderen Mitgliedern wirtschaftlich mithalten zu können. Die Kriterien entsprachen dem Charakter einer Staatenunion, die beim Zusammenwirken ihrer Mitglieder nicht auf die hierarchische Durchsetzungsfähigkeit einer obersten Regierungsinstanz setzen kann, sondern sich auf den guten Willen, die Bereitschaft und die Fähigkeit ihrer Mitglieder verlassen muss, gemeinsame Beschlüsse in die Tat umzusetzen.

Dieses Ordnungsprinzip liegt auch der Währungsunion mit ihren Stabilitätskriterien zugrunde. Es beruht nicht auf der Ab- und Aufgabe von Souveränität, sondern besteht im „Poolen“ von Souveränität, im souveränen Zusammenwirken der Mitglieder unter Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln. „Souveränität“ schließt immer Verantwortung nach innen und außen ein, „geteilte“ Souveränität bedeutet gemeinsame Verantwortung untereinander, nach innen und nach außen. Die EU ist wesentlich ein horizontal verfasster Bund.  Der Politologenjargon von einem „Mehrebenen-System“ kann in die Irre führen: Die Mitgliedstaaten sind auf allen Ebenen präsent, sie entscheiden, sie führen aus. Die europäische Demokratie beruht in erster Linie auf der Demokratie in den Mitgliedstaaten der EU und wird dort gestärkt oder gefährdet. Da die EU durch ihre Entscheidungen tief ins Innere ihrer Mitgliedstaaten eingreift, folgt aus dem Übergang zu Mehrheitsentscheidungen der Mitgliedsstaaten zwingend die Notwendigkeit einer demokratischen Mitentscheidung auf europäischer Ebene, die Notwendigkeit des europäischen Parlaments als direkte Vertretung der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger.

„Mehr Europa“ – welches „mehr“?

Die derzeit geläufige Forderung nach „mehr Europa“ kann zweierlei bedeuten: eine Ausweitung der gemeinsamen Regeln und Entscheidungsbereiche oder den Übergang zu einer eher hierarchischen, mehr zentralistischen Organisation. Auf das Zweite läuft die Vorstellung hinaus, die Europäische Kommission in eine „echte“ europäische Regierung zu verwandeln. Auch eine Forderung nach mehr europäischen Durchgriffsrechten, wie sie aus dem Auswärtigen Amt zu hören sei, könnte darauf hinauslaufen: „Es bedarf zusätzlicher Maßnahmen, mittelfristig auch mittels Übertragung von Souveränitätsrechten, um solide nationale Haushalte zu erreichen.“ (SZ 20.6.) Wenn das darauf hinauslaufen soll, dass über die Haushalte der Mitgliedstaaten „mittelfristig“ auf höherer, europäischer Ebene entschieden werden soll, bedeutete es einen völligen Bruch mit dem bisherigen Integrationsmodell. Wenn dagegen gemeint ist, dass Sanktionen gegen die Verletzung gemeinsam vereinbarter Haushaltsregeln  erleichtert und ihre Durchsetzung verbessert werden sollen, setzt das keine „Übertragung von Souveränitätsrechten“ voraus. Es verlangt die Stärkung geteilter Souveränität. Die Vereinbarung gemeinsamer Regeln und von Kriterien als Maß ihrer Einhaltung in einer wesentlich horizontal organisierten Union wird der Weg sein, auf dem eine immer stärkere Integration des in Staaten verfassten Europas möglich ist. Das schließt die Möglichkeit von Sanktionen bis hin zum Ausschluss ein. Ein Übergang zu einer hierarchisch, zentralistischen Verstaatlichung der EU dagegen wäre wahrscheinlich der sichere Weg in wachsende Zerwürfnisse.

Nach 1989 wirkliche Erfolge

Einer der größten Erfolge der europäischen Integrationspolitik ist die Erweiterung der EU um die Staaten Ost-Mitteleuropas. Dabei wurden an die zukünftigen Mitglieder ziemlich harte Anforderungen gestellt, zugleich wurde viel Unterstützung beim Aufbau von Verwaltungen und Rechtswesen geleistet. Ganz offensichtlich ging es bei den Anstrengungen der Beitrittskandidaten nicht einfach um wirtschaftliche Vorteile einer Mitgliedschaft, sondern um die Festigung der eigenen Staatlichkeit, den Ausbau der Demokratie und rechtstaatlichen Republik. Hier mussten sich auch die Grenzen der Erweiterung bemerkbar machen, die manche Euphoriker möglichst schnell schon weit nach Osteuropa ausdehnen wollten. Heute sieht sich die EU zu Protesten gezwungen, um in der Ukraine Minimalstandards von Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten einzufordern.

Freilich sind die Kopenhagener Kriterien auch innerhalb der EU nicht ohne weiteres gewährleistet. Ungarn, das die wenigsten Probleme zu haben schien, um sie zu erfüllen, unterläuft sie heute und verletzt zumindest den Sinn der europäischen Grundrechte. Auch lassen sich kulturelle Schranken zwischen Westeuropa mit seinen katholischen, protestantischen und aufgeklärt säkularen Traditionen und einem orthodox geprägten Südosteuropa nicht übersehen. Verglichen mit dem Integrationsschub nach 1989 in Mittelosteuropa, erweist sich freilich die jahrzehntelange EU-Politik im östlichen Mittelmeer als reine Katastrophe. Im Kalten Krieg hatte Griechenland einen Beitrittsbonus, als die Obristen erst einmal abgetreten waren. Der Türkei war aus der gleichen Konstellation des Kalten Krieges früh eine Beitrittsperspektive angeboten worden. Sie wurde aber auch dann noch lange verweigert, als auch dort die Militärdiktatur überwunden wurde. Der politisch kaum berechtigte unterschiedliche Umgang mit den beiden NATO-Mitgliedern Griechenland und Türkei rächt sich nicht zuletzt in der schon allzu lang zementierten Spaltung Zyperns. Die historische Ironie, dass die Türkei zumindest wirtschaftlich sich viel stärker und entschiedener modernisiert als Griechenland, verdeutlicht die desaströse Integrationspolitik der EU im östlichen Mittelmeer zusätzlich.

Mentalitäten und Strukturen

Nicht zuletzt durch das neue Buch von Thilo Sarrazin Europa braucht den Euro nicht erlebt die Mär vom leichten Leben in Europas Süden neuen Auftrieb. Als bestünden die südlichen europäischen Länder nur aus Stränden und feierten permanent selber Urlaub, weil die anderen Europäer sie nur als Urlaubsländer kennenlernen. Allein das schlechte Verhältnis von landwirtschaftlich nutzbarer Fläche zu nur beschränkt bis gar nicht nutzbaren Bergformationen macht klar, dass die hohen Kulturleistungen in diesen Ländern harte Arbeit zur Grundlage hatten und haben.

Das Hauptproblem des europäischen Südens dürfte die politische und kulturelle Spaltung der Mittelmeerregion sein. Hier liegt die größte postimperiale Schütterzone in Europa und seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Im Norden und im transatlantischen Verhältnis ist Wasser günstiger Verkehrsweg. Das Mittelmeer ist heute eher Wasserstraße für Durchgangsverkehr als Verbindungsweg in der Region selbst. Wie sehr es trennt, zeigt sich, wenn wieder mal Bilder von havarierten, mit Flüchtlingen überladenen Flüchtlingsschiffen auftauchen. Vor der libanesischen Küste patrouillieren Kriegsschiffe. Als vor Monaten ein großes Lager beschlagnahmter Munition in Zypern in die Luft flog, wurde wieder deutlich: Im östlichen Mittelmeer grenzt die EU an eine explosive Spannungszone. Damit und mit dem immer noch spannungsreichen Verhältnis zur Türkei kann Griechenland seinen gewaltig aufgeblasenen Militärapparat und den unverhältnismäßig hohen Rüstungsetat zu begründen versuchen. Tatsächlich handelt es sich eher um die Sinekure einer Offizierskaste, die bisher in keinem Sparprogramm auftauchte. Im östlichen Mittelmeer jedenfalls müsste Integrationspolitik immer noch in erster Linie Friedenspolitik sein.

Letzte Hoffnung oder neue Illusion?

Die Diskussion um die europäische und vor allem die griechische Schuldenkrise ist lange Zeit geführt worden, als ginge es in erster Linie um wirtschaftliche Integration. Dann ließe sich kaum erklären, warum die griechische Nomenklatura überhaupt den Beitritt zur Eurozone anstrebte. Dass Griechenland für den Euro nicht reif war, wusste sie selbst am besten. Es ging um Zinsschnäppchen und um den Zutritt zu einem potentiellen Umverteilungsprozess, der im Gegensatz zu ausdrücklichen Beihilfen keinerlei Antragsformalien verlangte. Die mit den Leistungsdefiziten unvermeidlich angehäuften Schulden konnten als Bestandsproblem des Euro erscheinen. Der Umgang mit den Schulden würde zum Gemeinschaftsproblem. Mit diesem Kalkül hat Tsipras, der Frontmann von Syriza, den Wahlkampf bestritten und damit die Logik der Nomenklatura auf die Spitze getrieben. Wim Duisenberg, erster Chef der EZB, meinte seinerzeit, das kleine Griechenland werde nie die Eurozone gefährden können. Offensichtlich unterschätzte er den grenzüberschreitenden Charakter eines gemeinsamen Währungsraumes. Da bleibt kein faules Ei im eigenen Nest.

Jetzt herrscht EU-offiziell Erleichterung über die Bildung der neuen Regierung in Athen. Man kann nur hoffen, dass sie nicht mit falschen Karten spielt. Die beiden Parteien, die das Land abwechselnd herabgewirtschaftet haben, haben nun zusammen nur noch deshalb die Mehrheit der Sitze, weil in Griechenland der Wahlsieger, also die Nea Dimokratia, einen Bonus von 50 Sitzen erzielt. Trotz der Polarisierung in den Wahlen sank die Wahlbeteiligung noch einmal und macht nun gerade noch 60 Prozent aus. Das lässt sich nur als Hinweis verstehen, dass die Gefahr für die Demokratie in Europa nicht von den europäischen Institutionen ausgeht, sondern vom schlechten Regieren in den Mitgliedstaaten. Wenn sich Demokratie nicht in gutem Regieren ausdrückt, ist sie in Lebensgefahr. Die Basis der neuen griechischen Regierung ist extrem schmal. 

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.