Marikana: Die offenen Wunden Südafrikas

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17. Oktober 2012
Renate Wilke-Launer
 Fast sechs Wochen haben Bergarbeiter in den südafrikanischen Platinminen von Marikana im August/September gestreikt. Am Ende waren 46 Menschen tot. Die Arbeiter haben eine kräftige Tariferhöhung erzwungen, doch an ihrer Misere wird das wenig ändern. Das „neue Südafrika“ mit seinen Veränderungen hat ihr Leben nicht besser, sondern schwieriger gemacht.
  
Zuerst sah es ganz nach einem klassischen Fall von Ausbeutung aus: Afrikaner schuften unter Tage für einen ausländischen Konzern, riskieren ihr Leben und bekommen dafür dann gerade mal 400 Euro im Monat. So war es in den südafrikanischen Zeitungen und bald auch in aller Welt zu lesen. Kein Wunder also, dass die Bergleute von Marikana streikten. Die Mine gehört Lonmin, einem in London ansässigen Unternehmen, das unter dem Namen Lonrho ohnehin eine unappetitliche Vergangenheit in Afrika hatte.
  
Doch wie konnte das sein im „neuen Südafrika“, das der ANC dominiert, in dem die ohnehin starken Gewerkschaften mitregieren, das moderne Arbeitsgesetze und –regelungen kennt, in dem die früher Benachteiligten über Black Empowerment, Quotenregelungen und Zielvorgaben für einzelne Branchen, darunter die Minen, besser gestellt und gefördert werden sollen? 

Erst im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass die von rock drillers und ihrer Gewerkschaft behaupteten 400 Euro Einkommen so etwas wie der „gefühlte“ Lohn sind: das, was sie netto ausgezahlt bekommen. Lonmin selbst rechnete schon bald vor, dass die von den Arbeitern verlangten 1250 Euro nahe an dem sind, was das Unternehmen ohnehin für einen Arbeiter aufwendet. Jedenfalls für die Festangestellten, und das sind zwei Drittel aller bei Lonmin Beschäftigten.  

Die komplexe Realität Südafrikas liegt zwischen diesen Zahlen. Man kann in Südafrika gleichzeitig nominell einigermaßen verdienen, krankenversichert sein, Urlaubsgeld bekommen, Rentenbeträge ansparen, Wohngeld kassieren - und dennoch eine elende Existenz führen. Diese Misere geht auf das Wanderarbeitersystem der Apartheid zurück und ist durch die von der ANC-Regierung verordneten Veränderungen eher noch größer geworden. Für die Minenarbeiter ist heute manches anders, aber nur wenig besser und vieles schwieriger.

Für die Arbeiter zählt erst einmal das Netto. Vom dem müssen die meisten nämlich in der Regel eine größere Anzahl von Menschen mit ernähren, Frau und Kinder, oft auch weitere Verwandte. Der Klassenkampf der Arbeiter ist also verbunden mit der Not der Arbeitslosen (geschätzt auf 25 bis 40 Prozent) und Abhängigen. Selbst Facharbeiter können so der Armut kaum entkommen.  

Zudem besteht das Wanderarbeitssystem praktisch unverändert fort. Viele Beschäftigte in den Minen kommen aus dem Eastern Cape, andere sogar aus den Nachbarländern Südafrikas. Sie leben also getrennt von ihren Familien und sehen diese nur zu Weihnachten und zu Ostern. Viele legen sich deshalb eine Freundin zu, nicht wenige haben so zwei Familien - eine zuhause auf dem Land und eine dort, wo sie arbeiten und leben.  

Hinzu kommen weitere Folgen der Apartheid. Die Minen sind gehalten, die früheren Männerheime in akzeptable Wohnunterkünfte umzubauen – und viele tun das auch. Da das aber aufwändig ist, zahlen sie den Arbeitern als Alternative nicht ungern ein Wohngeld von immerhin 180 Euro. Die haben so mehr Bargeld für ihre vielfältigen Verpflichtungen, leben dann aber in billigen Behausungen (shacks) in der Umgebung der Minen. 

Kostspielige Kredite

Und weil sie nie genug Geld in der Tasche haben, nehmen sie kleine Kredite auf, für die dann monatlich hohe Zinsen und Gebühren fällig werden. Zahlen sie nicht zurück, kann der Kreditgeber Lohnpfändung erwirken. Nachdem Journalisten über die hohe Verschuldung der Arbeiter geschrieben hatten, förderte eine Untersuchung der Kreditaufsichtsbehörde zu Tage, dass einige aggressive Geldverleiher viel zu hohe Zinsen verlangen und sich auch sonst nicht an die geltenden Bestimmungen halten. Pikantes Deatil: Eines der größeren Kreditinstitute in den Minengebieten, die Ubank, befindet sich als Trust im gemeinschaftlichen Besitz der National Union of Mineworkers und der Chamber of Mines.  

46 Menschenleben hat der wilde Streik bei Lonmin gekostet - einige wurden zu Beginn von den Arbeitern umgebracht, die meisten von der Polizei erschossen. Was während der sechswöchigen Auseinandersetzung ans Tageslicht befördert wurde und für die meisten Südafrikaner schmerzlich ins Bewusstsein rückte, sind Eigeninteresse, Rücksichtslosigkeit und das Versagen fast aller Seiten. Der Industriesoziologe Gavin Hartford hat diese Konstellation eine „lose-lose-situation“ genannt. 
  
Das beginnt mit der einst so respektierten Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM), die zwar eine Lohnerhöhung von neun Prozent ausgehandelt hatte, deren Funktionäre aber inzwischen so abgehoben leben und so arrogant sind, dass die Arbeiter sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen. Sie erleben sie als vom Management kooptiert und dadurch kompromittiert. „We hate Zokwana“, riefen die demonstrierenden Bergleute – das galt dem NUM-Präsidenten Sewani Zokwana.  

Erst Kopf in den Sand und dann die Polizei

Vor dem Streik hatte die NUM viele Mitglieder verloren. Um als Tarifpartner anerkannt zu werden, müssen aber 51 Prozent der Belegschaft bei der Gewerkschaft organisiert sein. Deshalb ist der Kampf um die Kumpel so heftig. Die noch junge Gewerkschaft Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU) konnte viele Arbeiter abwerben, weil sie ihnen in der krisengeplagten Platinindustrie eine massive Lohnerhöhung versprochen und sie so zum wilden Streik ermuntert hatte.  

Die das Land regierende Allianz aus African National Congress (ANC), Gewerkschaftsdachverband COSATU und Kommunistischer Partei (SACP) steckte nach Beginn des Streiks erst einmal den Kopf in den Sand und schickte dann die Polizei. Und selbst nachdem 34 Demonstranten von ihr erschossen worden waren, gab es nur einige halbherzige Versuche zur Kontaktaufnahme. Im Gegenteil: Die 270 Arbeiter, die man festgenommen hatte, wurden nach einem alten Apartheid-Gesetz wegen Mordes angeklagt. Das Gesetz, das einst den Rückhalt des ANC in der Bevölkerung schwächen sollte, war nie abgeschafft worden. Erst nach massiven Protesten wurden die Anklagen ausgesetzt. 

Regierung und Gewerkschaften schimpften über die "anarchischen Kräfte" und drohten Unruhestiftern mit der „vollen Härte des Gesetzes“. Für die Lebensbedingungen der Bergarbeiter und ihrer Familien fühlt sich die ANC-Regierung offenbar nicht verantwortlich. Präsident Zuma appellierte vielmehr an die Minen, den in der Mining Charter festgehaltenen Verpflichtungen u.a. zum Umbau der Heime zügiger nachzukommen. Erfüllten sie die Verpflichtungen bis 2014 nicht, könnten sie ihre Lizenzen verlieren. Der Minensektor brauche noch "viel Diskussion", so Zuma vor dem Gewerkschaftskongress. Von eigenen Anstrengungen der Regierung sprach er nicht. 

Im Rahmen der „Transformation“ versucht die Regierung, den Unternehmen viele soziale Aufgaben zuzuschieben. Lonmin hat durchaus etwas unternommen, doch der Nutzen blieb begrenzt, viele Projekte sind gescheitert. John Capel von der Bench Marks Foundation, die die sozialen Programme seit Jahren kritisch begleitet, hat sie so beschrieben: „top-down, von Experten geplant und den dort lebenden Menschen dann aufgedrückt“. David von Wyk, einer der Forscher der Stiftung, hat noch drastischer darauf hingewiesen, dass die Pläne von Consultants in Sandton (einem reichen Stadtteil von Johannesburg) gemacht werden, die daran Millionen verdienen. Die Bench Marks Foundation sagt, nirgendwo habe sie eine Stimmung verspürt, dass die Minen das Leben der Menschen wirklich verbessert hätten.  

Die Unternehmen ihrerseits machen geltend, dass sie nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch Abgaben und Steuern zahlen - Geld, das die Regierung nutzen könnte und sollte, um die Lebensbedingungen der ärmeren Südafrikaner zu verbessern. Auch und gerade dort, wo das Geld erwirtschaftet wird.  

Frustration über Lebensbedingungen

Doch wie an vielen Orten Südafrikas hapert es auch in der Umgebung der Minen an service delivery, an ordentlichen Häusern, Wasser, Abwasser, Strom, Schulen, Gesundheitseinrichtungen. Die informelle Siedlung Nkaneng, in der sich die streikenden Arbeiter versammelten, gehört zum Regierungsbezirk Madibeng, wo die Misswirtschaft im vergangenen Jahr so groß war, dass die Zentralregierung die Aufsicht an sich gezogen hat. Die Nordwestprovinz, in der Marikana liegt, ist eine der am schlechtesten regierten des Landes. Was als Arbeitskonflikt ausgefochten wurde, war in vieler Hinsicht ein Ausbruch an Frustration über die Lebensbedingungen. 
 
Vor diesem Hintergrund waren die Verhandlungen schwierig, war viel Vermittlungsarbeit nötig. Das begann schon mit den Verhandlungspartnern: Die Arbeiter hatten Maximalforderungen, aber keine Erfahrungen im Tarifgeschäft, die offiziell anerkannte Gewerkschaft NUM war diskreditiert, regelrecht verhasst, das Management durch schlechte Betriebsergebnisse gebeutelt und jetzt auch noch aufgeschreckt über offensichtliche eigene Versäumnisse im Umgang mit ihren Beschäftigten.
 
Wegen des politischen Drucks der Regierung und der durch die Arbeitsgesetze gestärkten Gewerkschaften hatte das Minenmanagement NUM-Vertretern viele Aufgaben im Bereich Personal- und Sozialmanagement überlassen. Der Industriesoziologe Gavin Hartford spricht von einer „illusionären, ko-abhängigen Komfort-Zone“, in der sich Management und Gewerkschaft bewegt hätten. Den Gewerkschaftern verschaffte das gut bezahlte Jobs über Tage und manch einem den Aufstieg in die Mittelschicht, dem Management hielt es den Rücken im Umgang mit den Arbeitern frei. Bei den Arbeitern aber wuchs die Distanz zu beiden.  

"Gewalt wirkt"

Am Ende ließen die Kumpel von ihrer Maximalforderung und bejubelten die kräftige Lohnerhöhung (zwischen 11 und 22 Prozent). Inzwischen sind sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Keine Gewerkschaft habe jemals solche Erhöhungen erreicht, verkündete ein Sprecher der streikenden Arbeiter. „Violence works“, sagte ein anderer dem BBC-Korrespondenten Andrew Harding. Dass man mit Gewalt etwas erreichen kann, ist eine Botschaft, die den Südafrikanern im positiven (als Methode) wie im negativen (als Schrecken) nur allzu vertraut ist.  

Jetzt bekommen die Arbeiter bei Lonmin mehr Lohn, die rock driller mehr Geld für ihre gefährliche Arbeit. Doch einen sicheren Platz im neuen Südafrika haben sie damit noch lange nicht. Und darum ging es implizit bei der Lohnforderung. Der Industriesoziologe Hartford, einst selbst Gewerkschafter, ist überzeugt, dass sich ihre Lage erst dann wirklich verbessert, wenn alle Beteiligten eine „wirkliche Konversation“ beginnen.

Die Journalisten der Sonntagszeitung „City Press“ haben unter dem Titel „Faces of Marikana“ ein eindrucksvolles Dossier mit Biographien, Reportagen und einer Chronik zusammengestellt.

Renate Wilke-Launer

Renate Wilke-Launer ist Journalistin, war von 1990 bis 2007 für die Zeitschrift "der überblick" verantwortlich, hat sich viel mit Südafrika beschäftigt und 2010 das Buch "Südafrika - Katerstimmung am Kap" herausgegeben.

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