Der Zweite Weltkrieg liegt mehr als zwei Generationen zurück. Doch je größer der zeitliche Abstand wird, desto heftiger werden die Diskussionen über ihn in Politik und Publizistik geführt. Der bevorstehende 70. Jahrestag des Kriegsbeginns hat die Debatten neu entfacht. In Polen sprechen nicht nur Politiker der nationalen Rechten von einem „Kampf um das Gedächtnis“, und das nicht erst seit den mehr als befremdlichen Erklärungen in russischen Medien zur Vorgeschichte des Ribbentrop-Molotov-Pakts in den letzten Tagen und Wochen. Seit etwa zehn Jahren wird von polnischer Seite auch die öffentliche Diskussion in Deutschland über den Zweiten Weltkrieg mit einer gewissen Beunruhigung wahrgenommen. Danach beschäftigen sich die Deutschen zunehmend mit den Opfern, die sie selbst gegen Ende des Krieges unter der Zivilbevölkerung zu beklagen hatten. Überspitzt gesagt: Aus Tätern werden sie allmählich zu Opfern.
Meine Damen und Herren, wir eröffnen heute Abend die diesjährige Europäische Sommeruniversität Ravensbrück, während der unter dem Fokus Geschlechterpolitik und Rassismus ausgewählte Aspekte der deutschen Besatzungspolitik in Polen, Frankreich und Italien untersucht werden. Ich möchte in den folgenden Ausführungen darauf eingehen, wie die deutsche Öffentlichkeit nach 1945 mit dem Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen und der Besatzungspolitik in Polen im Besonderen umgegangen ist, wie sie sie zur Kenntnis genommen hat und auf welchen Ebenen sie diese Problematik bearbeitet hat. Dies wird, soweit das in der zur Verfügung stehenden Zeit möglich ist, in drei Abschnitten vorgenommen. Der erste ist der alten Bundesrepublik gewidmet, der zweite der DDR und der dritte dem Umgang des vereinten Deutschland mit der deutschen Besatzungspolitik in Polen.
I. Die alte Bundesrepublik
1. Betrachtet man aus heutiger Perspektive die Erklärungen deutscher Politiker oder die Diskussionen in der Publizistik in den ersten Nachkriegsjahren, so irritiert, wie wenig deutsche Schuld ein Thema der öffentlichen Debatte gewesen ist. Eine Ausnahme bildete das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche vom Oktober 1945. Die Nürnberger Prozesse machten zwar ansatzweise das Ausmaß der von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen sichtbar. Mit der Schuld dafür wurde jedoch der engste Führungskreis der NSDAP belastet. Seine Repräsentanten wurden in Nürnberg verurteilt, soweit sie sich nicht durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Weite Teile der deutschen Öffentlichkeit übernahmen danach gerne und für lange Jahre die Vorstellung, das deutsche Volk sei von einer verbrecherischen Clique verführt und in einen Krieg getrieben worden, dessen Opfer es letztendlich selbst geworden sei.
Die Entnazifizierung durch die Alliierten war in der Gesellschaft ausgesprochen unpopulär. Der Bundestag verabschiedete in den ersten beiden Wahlperioden mehrere Gesetze, durch die die entsprechenden Beschlüsse der Alliierten restlos aufgehoben wurden, was für große Teile der Bevölkerung als eigentliches Kriterium für die Souveränität und Legitimität des neuen Staates galt. Das zweite Straffreiheitsgesetz vom Sommer 1954 schloss nach den Worten von Norbert Frei für die meisten Deutschen “die ihnen nach der Kapitulation aufgezwungene Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen NS-Vergangenheit ab...”. Geradezu befremdlich erscheint heute das jahrelange Bestreben von Politikern aller Parteien, bei den Westalliierten die Amnestierung verurteilter deutscher Kriegsverbrecher zu erreichen, die ab Anfang der fünfziger Jahre im bundesdeutschen Sprachgebrauch der Zeit gar nicht mehr als solche bezeichnet wurden. Der Ausdruck kam allenfalls in Anführungszeichen vor, auch wenn die Betreffenden etwa als Leiter von Einsatzgruppen die Ermordung Tausender Menschen zu verantworten hatten. 1958 kamen die letzten vier von den Westalliierten Verurteilten aus einem deutschen Gefängnis frei.
2. Polen spielte im Bewusstsein der Gesellschaft nur eine schwach ausgeprägte Rolle. Es wurde weniger als Opfer des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen, sondern eher als der Staat, der in Potsdam den Großteil der deutschen Ostgebiete nur zur Verwaltung bis zum Abschluss eines Friedensvertrags erhalten hatte und der für die Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße verantwortlich war. Potsdam galt gewissermaßen als das noch schlimmere Versailles. In der Weimarer Republik waren die Wiedergründung des polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg, der damit verbundene territoriale Verlust im Osten und das Entstehen einer deutschen Minderheit in Polen Ursachen für virulente antipolnische Ressentiments. Polen war gewissermaßen der Staatsfeind Nr. 1 und das von Hitler aus taktischen Gründen geschlossene Nichtangriffsabkommen von 1934 ließ die antipolnische Rhetorik nur vorübergehend in den Hintergrund treten. Als die polnische Führung 1939 Hitlers Forderungen nicht folgte, war im gesellschaftlichen Bewusstsein ein Feindbild vorhanden, das nur abgerufen werden musste. Massive antipolnische Propaganda sollte die beispiellosen Verbrechen rechtfertigen, die die deutsche Besatzungsmacht vom ersten Tag des Krieges an verübte.
Diese Verbrechen waren in den ersten Nachkriegsjahren im deutschen Bewusstsein nicht präsent, dafür aber das Unrecht, das bei Kriegsende und danach Deutsche in Polen und in den Oder-Neiße-Gebieten erfahren mussten, in allererster Linie durch Angehörige der Roten Armee, in gewissem Umfang aber auch durch Polen. Diese Problematik war in der Volksrepublik Polen bis 1989 tabuisiert, wird seither aber auch in Polen systematisch aufgearbeitet.
War das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn im Allgemeinen und Polen im Besonderen zwei Jahrzehnte lang für die deutsche Gesellschaft kein Thema gewesen, so durchbrach dieses Tabu die Ostdenkschrift der EKD vom Oktober 1965. Sie thematisierte die deutsche Schuld im Zweiten Weltkrieg, befasste sich mit dem Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, problematisierte aber erstmals auch die Situation der Polen, die in den früher deutschen Gebieten lebten. Auch den dort Geborenen wurde ausdrücklich das Recht auf Heimat zuerkannt. Diese Denkschrift löste eine beispiellose leidenschaftliche Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit aus, die weit über die Evangelische Kirche hinausging. Erstmals seit Kriegsende wurde in einem so breiten Kontext über das Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn diskutiert. Die Denkschrift der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD war eines der wichtigsten Dokumente, das von Seiten der Zivilgesellschaft in die öffentliche Diskussion der Bundesrepublik eingeführt wurde, und bereitete ganz wesentlich die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition ab 1969 vor.
Nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung der EKD-Denkschrift richteten die polnischen Bischöfe zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Brief an ihre deutschen Amtsbrüder, in dem diese für 1966 zu den Millenniumsfeiern der Christianisierung und der Staatwerdung Polens eingeladen wurden. Der Brief enthielt eine von der partei-offiziellen Darstellung fundamental abweichende Interpretation von tausend Jahren deutsch-polnischer Geschichte, vor allem aber die Worte „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“. Dieser Satz traf die polnische Gesellschaft völlig unvorbereitet, rief dort zunächst weithin Unverständnis hervor und wurde von der Parteiführung instrumentalisiert, um größere Teile der Gesellschaft vom Episkopat zu entfremden. Auf längere Sicht wurde dieser Brief jedoch zum Ausgangspunkt für eine kleine, strategisch aber wichtige Minderheit polnischer Intellektueller, einen Dialog mit deutschen Partnern zu beginnen, die sensibel für die deutsch-polnische Problematik waren. Auf deutscher Seite waren dies die Angehörigen der „Aktion Sühnezeichen“ sowie Mitglieder der Friedensbewegung „Pax Christi“. Auf polnischer Seite gehörten zu den Protagonisten dieses in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre einsetzenden deutsch-polnischen Dialogs Persönlichkeiten wie der erste Ministerpräsident des freien Polen, Tadeusz Mazowiecki, der Alterspräsident des frei gewählten Senats von 1989, Stanislaw Stomma, der spätere Außenminister Wladyslaw Bartoszewski u. a.
3. Eine neue Ebene der Begegnung wurde in die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen eingezogen, als ab 1972 die deutsch-polnische Schulbuchkommission zu arbeiten begann. Die Verdienste dieser Kommission, die bis heute wirkt, sind enorm. Zunächst musste das beiderseitige Misstrauen überwunden werden. Anfangs standen Probleme aus Mittelalter und Früher Neuzeit im Vordergrund, während Themen, die irgendwie in politisch inopportuner Weise die Sowjetunion tangierten, für die polnische Seite tabu waren. Gleichwohl schälten sich im Laufe der Zeit strukturelle Fragestellungen heraus, die tiefer ansetzten und einen deutsch-polnischen Antagonismus nicht erst im 20. Jahrhundert beginnen ließen, sondern bereits mit der „negativen Polenpolitik“ Preußens seit dem 18. Jahrhundert.
Seit 1989 haben sich die Prämissen eines gemeinsamen Blicks auf die schwierigsten Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren unmittelbar danach grundlegend geändert. Arbeiten zu Themen entstanden, die einige Jahre zuvor tabu waren, und eine beachtliche Zahl deutscher Doktorandinnen und Doktoranden, in der Regel mit guten Polnisch-Kenntnissen, hat in den letzten Jahren Dissertationen zu unterschiedlichen Aspekten der deutschen Besatzungspolitik in Polen vorgelegt, die für die Fachhistoriker immer deutlichere Konturen gewonnen hat. Unter jungen Historikerinnen und Historikern in Deutschland sind Forschungsprojekte zu den deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, darunter vor allem Problemen des Zweiten Weltkriegs, nicht mehr nur ein Geheimtipp.
4. Ein anderes Kapitel der „Erinnerung“ an die deutsche Besatzungspolitik in Polen bildete die Strafverfolgung von Tätern durch deutsche Behörden. Vom Unwillen großer Teile der deutschen Gesellschaft der unmittelbaren Nachkriegsjahre, sich mit den während der Besatzungszeit begangenen Verbrechen auseinanderzusetzen, war bereits die Rede. Erst die nach dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 gegründete Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg versuchte systematisch – und tut dies bis zum heutigen Tage –, strafrechtlich relevante Informationen zu deutschen Kriegsverbrechen im besetzten Europa zu erheben. Auch andere deutsche Staatsanwaltschaften befassten sich mit deutschen Kriegsverbrechen. Die Zusammenarbeit mit Polen nahm dabei besonders prominenten Raum ein. Die spektakulärsten Prozesse, die neben dem Eichmann-Prozess in Jerusalem die deutsche Öffentlichkeit am meisten sensibilisierten, waren die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den sechziger und der Majdanek-Prozess in den siebziger Jahren, in denen jeweils Angehörige des verantwortlichen deutschen Personals dieser Konzentrations- und Vernichtungslager abgeurteilt wurden.
Eine dunkle Seite bildeten gleichwohl bis weit in die sechziger Jahre die Folgen der unzureichenden Entnazifizierung der Justiz. So traf Beweismaterial aus Polen auf große Vorbehalte deutscher Stellen, wenn es keine deutschen Zeugen für Kriegsverbrechen gab. Skandalös war aber auch die mehr als schleppende Verfolgung von NS-Juristen, die rechtsstaatlichen Grundsätzen krass widersprechende Urteile, darunter viele Todesurteile gefällt hatten. So wurde in den 1960er Jahren ein Verfahren gegen zwei Richter des Sondergerichts Warschau eingeleitet, die für meist sofort vollstreckte Todesurteile an Jugendlichen verantwortlich waren, die das Warschauer Ghetto verlassen hatten, um nach Lebensmitteln zu suchen. Angesichts der Umstände, unter denen das Verfahren eingestellt wurde, kam Klaus-Detlev Godau-Schüttke 1995 zu dem Schluss: „Die bundesdeutsche Justiz (erweckte) bei der Behandlung von NS-Justizverbrechen den Eindruck, als ob die NS-Juristen selbst als die eigentlichen Opfer anzusehen sind.“
5. Ein weiterer Problemkomplex der deutschen Auseinandersetzung mit der Besatzungspolitik in Polen umfasste das Kapitel der materiellen Wiedergutmachung. Im so genannten Londoner Schuldenabkommen von 1953, das die Abwicklung der seit der Vorkriegszeit angehäuften deutschen Auslandsschulden regelte, erlaubte eine Klausel zumindest nach dem Rechtsverständnis der Bundesrepublik, u.a. Forderungen individueller Wiedergutmachung bis zum Abschluss eines (bekanntlich nie erfolgten) Friedensvertrags zurückzustellen. Gleichwohl wurden aus Gründen außenpolitischer Opportunität pauschale Entschädigungen zur Abgeltung von Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs zwischen 1959 und 1964 Abkommen mit elf westlichen Staaten geschlossen. Israel hatte bereits 1952 drei Milliarden DM erhalten, die als Eingliederungshilfe für jüdische Einwanderer aus Europa bezeichnet wurden. Bis 1990 wurden an Polen nur Entschädigungen für Opfer pseudomedizinischer Versuche gezahlt.
II. SBZ / DDR
1. Die Einstellung zum Zweiten Weltkrieg und zu Polen war in der SBZ von der Ausgangssituation her ähnlich gelagert wie in Westdeutschland. Die konkrete Situation war jedoch auch geprägt durch die Präsenz der Roten Armee und die auf dieser Basis rigoros durchgesetzte Herrschaft der Kommunisten sowie den im Vergleich zu den Westzonen überproportional hohen Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen. Bis weit nach 1946 hinein gab es Stimmen von SED-Politikern, die auf eine Revision der Oder-Neiße-Grenze drängten. Im Prinzip bereits 1948, offiziell 1950 erkannte die SED die Oder-Neiße-Grenze jedoch an, und das Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in der SBZ zunächst „Umsiedler“ genannt wurden, ehe auch diese Bezeichnung verschwand, wurde bereits Ende der vierziger Jahre für beendet erklärt. Während die Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik ihren Mitgliedern zumindest Trauerarbeit über den Verlust der Heimat ermöglichten, wurde dies durch die Tabuisierung des politisch für die SED-Führung inopportunen Themas den Vertriebenen in der DDR unmöglich gemacht. Sie konnten sich erst nach dem Ende der SED-Herrschaft artikulieren und organisieren.
2. Was die praktische Ebene der Politik von KPD und SED in der SBZ bzw. der DDR im Umgang mit dem Nationalsozialismus anging, gab es, wie Norbert Frei gezeigt hat, zumindest in den ersten Nachkriegsjahren erstaunliche Parallelen zum Herangehen in Westdeutschland. In beiden Fällen wurde bis 1948/49 die Entnazifizierung überwiegend von den Alliierten vorgenommen, was im Osten sicher stärker als im Westen zu einem radikalen Elitenaustausch in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Kultur führte. Ab 1948/49 setzten jedoch auch die Behörden in der SBZ bzw. der DDR ebenso wie im Westen auf eine schrittweise Integration der Masse der durch die Entnazifizierungspolitik seit Kriegsende bisher Ausgegrenzten, ohne dass diese freilich ihren beruflichen oder besitzrechtlichen Status quo ante zurückerhielten.
Grundlegend verschieden von Westdeutschland war der begriffliche und legitimationsbezogene Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die DDR verstand sich als einen von Anbeginn an antifaschistischen Staat. Hierbei wurde das spezifische Selbstverständnis der Führungsschicht von KPD und SED auf den gesamten Staat übertragen. Diese politische Führung sah sich als moralisch überlegene Elite, die den Nationalsozialismus von Anfang an bekämpft und unter seiner Herrschaft gelitten hatte. Zugleich war sie, wie Jürgen Danyel u.a. gezeigt haben, geprägt von großem Misstrauen gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft, die sich nach ihrer Überzeugung vom Nationalsozialismus materiell hatte korrumpieren lassen. Beide Faktoren zusammen führten zu einem Umgang mit dem Nationalsozialismus, der in der Literatur als “spezifische Schlussstrichmentalität” bezeichnet worden ist. Eine umfassende Diskussion über den Nationalsozialismus unterblieb. Fragen von Schuld und Verantwortung, von Anpassung und Opportunismus der auch in der DDR lebenden deutschen Bevölkerung von vor 1945 waren tabu. Eine Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex wurde erst relativ spät in der Literatur in Werken von Christa Wolf oder Franz Fühmann vorgenommen. Diese, vorsichtig gesagt, Zurückhaltung bei der Diskussion über Fragen persönlicher Verantwortung im Nationalsozialismus unterminierte die Glaubwürdigkeit des so lautstark propagierten Antifaschismus der DDR gerade in Polen.
3. Gegen den ausdrücklichen Willen der DDR-Behörden engagierten sich kirchliche Gruppen in der DDR wie die vom Präses der provinzialsächsichen Kirche Lothar Kreyssig 1958 initiierte Aktion Sühnezeichen oder die Magdeburger Polen-Seminare von Günter Särchen, der auch mit Kreyssig eng zusammenarbeitete. DDR-Außenminister Bolz teilte Kreyssig in einem Schreiben vom 13. Mai 1960 mit, junge DDR-Bürger würden für die Arbeit in ehemaligen Konzentrationslagern in Polen, wie die Aktion Sühnezeichen sie durchführen wollte, keine Ausreisegenehmigung erhalten. In der DDR habe niemand um Vergebung zu bitten. Die Sinnesänderung sei mit dem Bekenntnis zum prinzipiell materialistischen Sozialismus vollzogen worden (Konrad Weiss, Kreyssig). 1962 wollten Kreyssig und Särchen für 1964 eine Reise der Aktion Sühnezeichen nach Polen vorbereiten, zu der sie von der im Sejm vertretenen katholischen Abgeordnetengruppe ZNAK eine Einladung erhalten hatten. Die DDR-Behörden lehnten jedoch die Erteilung eines Sammelvisums ab. Im Staatssekretariat für Kirchenfragen hörten Kreyssig und Särchen, „ihr Vorhaben sei ‚anachronistisch’. Die von der Aktion Sühnezeichen angestrebte ‚Versöhnung’ habe längst stattgefunden, und zwar durch den politischen Widerstand polnischer und deutscher Kommunisten in der Nazizeit, durch ihr gemeinsames Leiden in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern. Zudem sei es strafbar, ‚ohne Wissen und Genehmigung einer staatlichen Stelle der DDR in Warschau mit staatlichen polnischen Stellen zu verhandeln.’ (Mechtenberg)
Man sollte das Polen-Engagement kleiner kirchlicher Gruppen aus der DDR nicht überschätzen, die ihre Aufenthalte in Polen an den DDR-Behörden vorbei fast konspirativ organisiert haben. Sie haben jedoch Zeichen gesetzt, die in Polen dankbar wahrgenommen worden sind.
4. Der offiziellen DDR gelang es auf der Ebene öffentlichen Gedenkens, gewissermaßen nachträglich an die Seite der Sieger des Zweiten Weltkriegs zu treten. Der 8. Mai 1945 wurde im Kanon der Gedenktage der DDR für die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs zum Schlüsseldatum, an dem zusammen mit sowjetischen Vertretern am zentralen sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow sowie zahlreichen sowjetischen Ehrenfriedhöfen in der DDR des Kriegsendes gedacht wurde. Der 1. September wurde sowohl als “Internationaler Kampftag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und Krieg” als auch als “Weltfriedenstag” begangen, an dem die politische Führung der DDR ihre jeweils aktuellen außenpolitischen Zielsetzungen der Öffentlichkeit präsentierte. Gleichzeitig jedoch verblasste, wie Jürgen Danyel feststellte, durch die geschichtspolitische Konstruktion der offiziellen DDR “die konkrete Erinnerung an den Nationalsozialismus und an den von den Deutschen verursachten Krieg nahezu völlig. Faschismus und Zweiter Weltkrieg wurden zu einem abstrakten historischen Geschehen ohne Akteure”.
In der offiziellen Sicht der DDR war der Zweite Weltkrieg durch den Monopolkapitalismus verursacht. Ihm stellten sich in erster Linie Vertreter der Arbeiterklasse entgegen, deren Kämpfern in der Hierarchie der antifaschistischen Opfer der erste Rang zukam. In einer durch das Prisma des Klassenkampfes gesehenen Perspektive des Zweiten Weltkriegs waren sowohl rassistisch-religiös bedingte Opfergruppen wie die Juden als auch die systematisch ermordeten polnischen Eliten eher irritierend.
5. Umso mehr dürfte in der DDR verwundert haben, dass ausgerechnet die Verfilmung des stark autobiographisch geprägten Romans des langjährigen Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbandes Hermann Kant, „Der Aufenthalt“, in Polen Anfang der achtziger Jahre auf massive Vorbehalte der Regierung stieß. Kant hatte in dem Roman seine Erlebnisse als deutscher Kriegsgefangener in Polen 1945-1949 verarbeitet. Die DDR zog auf polnischen Druck den Film sogar von den Filmfestspielen in (West-) Berlin 1983 zurück. Diese Episode der DDR-polnischen Beziehungen war lange unerklärlich, bis der Warschauer Historiker Jerzy Kochanowski 2004 im Archiv des polnischen Außenministeriums auf die entsprechenden Akten stieß. Danach intervenierten die polnischen Behörden bei den DDR-Instanzen, weil sie die geringen Kenntnisse über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und vor allem der deutschen Besatzungspolitik in Polen gerade bei Jugendlichen in der DDR kannten. Sie fürchteten, das dargestellte Leben deutscher Kriegsgefangener in Polen könnte von den Zuschauern nicht in den richtigen Kontext gestellt werden, sondern ohnehin vorhandene antipolnische Ressentiments noch verstärken.
III. Vereintes Deutschland
1. Nach dem Abschluss der 2 + 4-Verträge war klar, dass es einen Friedensvertrag mit Deutschland nicht mehr geben würde. Damit waren auch die Kautelen aus dem Londoner Schuldenabkommen von 1952 bezüglich individueller Entschädigungsansprüche hinfällig. Die Bundesrepublik verpflichtete sich bereits in den Verhandlungen zum deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991, 500 Mio. DM für humanitäre Hilfsprogramme zur Verfügung zu stellen. Zur Prüfung entsprechender Anträge und zur Auszahlung der Finanzmittel wurde 1992 in Polen die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ gegründet. Weiterhin nicht in Angriff genommen wurde eine wenigstens symbolische Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die in Polen wie anderen bisher kommunistischen Staaten die größte Zahl an Opfern der deutschen Politik während des Zweiten Weltkriegs ausmachte. Dieses Problem wurde erst von der rot-grünen Koalition ab 1998 geregelt, wobei massiver Druck von außen (durch Sammelklagen aus den USA) eine wichtige Rolle spielte. Von den fünf Mrd. Euro, die die Bundesregierung und deutsche Unternehmen in einen gemeinsamen Fonds einbrachten, wurden von 2001 bis 2006 rund 975 Mio. Euro an rund 484.000 empfangsberechtigte Personen in Polen ausgezahlt. So willkommen die ohnehin eher symbolischen Zahlungen waren, die die Betroffenen erhielten, wichtiger war für viele, dass sich in Deutschland Initiativen von unten bildeten, die ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an die Orte einluden, an denen sie während des Krieges hatten arbeiten müssen, dass sie in deutsche Schulen zu Vorträgen und Erlebnisberichten eingeladen wurden, dass Jugendliche ihre Geschichten hören wollten, die ja Teil der eigenen Lokalgeschichte sind.
2. In der deutschen Gesellschaft ging die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg auch im vereinten Deutschland weiter. Einen Höhepunkt bildeten die durch die beiden Versionen der Hamburger Wehrmachtausstellung ausgelösten und hoch emotional geführten Diskussionen über die Rolle der Wehrmacht während des Krieges. Bei Unzulänglichkeiten im Einzelnen haben die Ausstellungen doch Eines bewirkt: Der Mythos der Wehrmacht als einer Organisation, deren Angehörige während des Krieges „saubere Hände“ behalten hatten, während die Schuld für schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung Angehörigen von SS-Einheiten und Sonderkommandos anzulasten sei, dieser Mythos ist zerbrochen. In Polen ist jedoch nicht unbemerkt geblieben, dass beide Wehrmachtsausstellungen zeitlich 1941 einsetzten und dass Polen darin nicht vorkam. Das hat gewissermaßen einen neuen Mythos geschaffen, nämlich dass 1939 bis 1941 in Polen alles vergleichsweise in „Ordnung“ war.
Am Deutschen Historischen Institut Warschau wurde ab 2000 der sog. „Polenfeldzug“ untersucht, der allgemein als „sauberer“ Feldzug gilt, in dem die Wehrmacht einen „Blitzkrieg“ führte. Die Fragestellung lautete, ob die Wehrmacht 1939 in Polen nur militärisch agierte oder ob sie auch Kriegsverbrechen begangen hat. Das Ergebnis der von Jochen Böhler durchgeführten Forschungen ist eindeutig: Vom ersten Tage dieses Krieges an hat es auch seitens der Wehrmacht massive Kriegsverbrechen gegeben, beginnend mit der Bombardierung der unbewaffneten Kleinstadt Wieluń noch ein paar Minuten vor den ersten Schüssen an der Westerplatte. Allein in Wieluń waren an diesem Tag vermutlich 1200 Tote und Tausende von Verletzten zu beklagen.
Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts wurden vom DHI Warschau und dem Polnischen Institut des Nationalen Gedenkens in einer Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in Polen zusammengetragen, die am 1.9.2004 im Königsschloss in Warschau feierlich eröffnet wurde. Die deutsche Version wurde seit dem Frühjahr 2005 als Wanderausstellung in einer Reihe von Städten gezeigt und wird jetzt ab dem 1. September nochmals in Berlin-Karlshorst gezeigt.
2. In Polen war die Wahrnehmung der deutschen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in den letzten Jahren allerdings dadurch geprägt, dass seit der Veröffentlichung von Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ eine Welle an Publikationen, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen einsetzte, in denen Deutsche als Opfer des Zweiten Weltkriegs thematisiert wurden. Immer neue Opfergruppen wurden identifiziert, so dass sich viele Polen die Frage stellten, ob die Deutschen sich allmählich von Tätern zu Opfern stilisieren und welche Rolle Polen in der künftigen deutschen Erinnerung zukommen wird. In Polen hat man verstanden, dass die deutsche Gesellschaft inzwischen internalisiert hat, was der Holocaust bedeutet. Man sieht aber auch, dass bis jetzt kaum thematisiert wurde, dass neben rund drei Millionen polnischen Staatsbürgern jüdischer Herkunft auch rund drei Millionen polnische Staatsbürger nichtjüdischer Herkunft während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren, und das vorwiegend durch Deutsche.
In den letzten Jahren sind – freilich kaum unter professionellen Historikern – heftige, meist „asymmetrische“ deutsch-polnische geschichtspolitische Debatten geführt worden. Im Mittelpunkt standen dabei die Diskussionen um das in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Noch heftigere Reaktionen lösten die Forderungen der marginalen „Preußischen Treuhand“ aus, früheren deutschen Besitz, insbesondere Immobilien, entweder zurückzuerstatten oder entsprechende Entschädigung zu zahlen. Diese inzwischen auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zurückgewiesenen Forderungen haben den deutsch-polnischen Beziehungen schwer geschadet. Sie waren der Auslöser dafür, dass die Stadt Warschau und andere polnische Städte ihre Kriegsverluste neu berechnen ließen und der Sejm 2004 ohne Gegenstimme die polnische Regierung aufforderte, Reparationsverhandlungen mit Deutschland vorzubereiten, was die polnische Regierung ablehnte. Hier rächte sich, dass in den deutsch-polnischen Verträgen von 1990/91 vermögensrechtliche Fragen ausgeklammert worden waren.
Gleichwohl wären auf polnischer Seite die Diskussionen vor allem um das Zentrum gegen Vertreibungen sicher weniger aufgeregt geführt worden, hätten die Polen die Gewissheit, dass die Mehrheit der Deutschen weiß, wie die deutsche Besatzungspolitik in Polen aussah. Diese fehlende Gewissheit ist einer der Gründe für die in Politik und Publizistik immer wieder geäußerte Sorge, Polen könne den „Kampf um das Gedächtnis“ verlieren.
3. Wie kann man dieser Sorge entgegentreten? Ich plädiere dafür, in deutschen Schulbüchern einen quantitativ nicht übertriebenen, aber obligatorischen Kanon der wichtigsten Daten deutscher Besatzungspolitik im besetzten Europa, vor allem östlich und südöstlich von Deutschland, einzuführen. Es würde dann allmählich einer wachsenden Öffentlichkeit bewusst sein, was im Rahmen der Ravensbrücker Sommeruniversität in den nächsten Tagen sicher auch deutlich werden wird, dass nämlich Deutschland im Westen eine furchtbare Besatzungspolitik, im Osten aber eine unglaublich brutale Vernichtungspolitik betrieben hat, die nicht nur der jüdischen Bevölkerung galt. Eine solche viel weiter als bisher verbreitete Kenntnis der Fakten in der deutschen Gesellschaft wäre nicht nur aus außenpolitischen Gründen opportun. Sie würde vor allem auch blinde Flecken in der Erinnerung an deutsche Verbrechen beseitigen, deren Gedenken in den letzten Jahren und Jahrzehnten integraler Bestandteil der deutschen politischen Kultur geworden ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich überleiten zur Diskussion mit dem Blick auf zwei Erklärungen, die in den letzten Tagen veröffentlicht wurden und in beiden Ländern wiederum eine asymmetrische Aufnahme gefunden haben. Am 20. August veröffentlichte die angesehene Tageszeitung Gazeta Wyborcza als Aufmacher auf der ersten Seite einen von rund 140 deutschen Politikern und Intellektuellen unterzeichneten Aufruf zum 70. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs. Die Besonderheit dieser Erklärung, über die an prominenter Stelle auch in Rundfunk und Fernsehen berichtet wurde, lag für die polnische Öffentlichkeit darin, dass zunächst an den Ribbentrop-Molotov-Pakt erinnert wurde und daran, dass sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion Polen überfallen haben. Ferner wurde erwähnt, dass nach dem Krieg in Ostmitteleuropa und in einem Teil Deutschlands die Sowjetunion ein Regime einführte, das katastrophale Folgen für die Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur hatte und vielen Gegnern die Freiheit und das Leben kosteten. Dann wurde an die Verdienste der Ungarn, Tschechen, Slowaken und vor allem Polen daran erinnert, dass 1989 der Kommunismus überwunden und die Einheit Deutschlands möglich wurde. Die Gazeta Wyborcza gab der Erklärung den Titel: „Wir entschuldigen uns für 1939 und danken für 1989“. Neu an diesem Text war für Polen, dass Deutsche auch die Sowjetunion als Mittäter nannten und die Bedeutung von 40 Jahren kommunistischer Herrschaft hervorhoben, die nach Meinung von Polen und anderen neuen EU-Mitgliedern von den Westeuropäern normalerweise nicht begriffen wird. Sicher hat bei der Formulierung des Aufrufs mit eine Rolle gespielt, dass die Hauptinitiatoren frühere Oppositionelle aus der DDR waren. In Deutschland hat dieser Aufruf, soweit ich sehe, kaum größere Resonanz gefunden.
Das zweite Schreiben ist die in dieser Woche veröffentlichte gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Polnischen und der Deutschen Bischofskonferenz. Schon vor vier Jahren hatten die Bischöfe aus Anlass des 40. Jahrestages ihres Briefwechsels – ähnlich wie die evangelischen Bischöfe zum 40. Jahrestag des EKD-Memorandums – Politiker beider Länder ermahnt, nicht aus Gründen kurzfristiger Vorteile die Vergangenheit politisch zu instrumentalisieren und damit die noch kaum vernarbten Wunden erneut aufzureißen.
Die Bischöfe weisen nun darauf hin, dass nicht nur die Zahl derer ständig abnimmt, die den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt haben, sondern auch derer, die die ersten Schritte der Versöhnung unternommen haben. Umso wichtiger sei, dass die junge Generation ein angemessenes Verständnis für den Zweiten Weltkrieg gewinne. Das Schwergewicht der Erklärung ist der Zukunft gewidmet, der Vollendung der Versöhnung im Rahmen der europäischen Integrationsprozesse. Sicher haben die Bischöfe auch Recht – und damit möchte ich schließen -, wenn sie unterstreichen, dass man eine gemeinsame Zukunft nur auf dem Fundament eines ehrlichen Umgangs mit der Vergangenheit aufbauen kann. Trotz aller erwähnten Probleme und Rückschläge sind wir dabei meines Erachtens auf einem guten Wege.
Prof. Dr. Klaus Ziemer ist Politikwissenschaftler an der Universität Trier. Er war von 1998 bis 2008 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. Diese Rede wurde als Auftaktrede der 5. Europäischen Sommeruniversität Ravensbück gehalten.