Anlässlich des 40. Jahrestages von 1968

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28. Mai 2008

Marianne Zepp: Bei den öffentlichen Debatten zum 40. Jahrestag von  1968 wird betont, dass es sich um ein globales Ereignis gehandelt habe. Ich möchte zu Beginn allerdings auf einige deutsche Besonderheiten eingehen.

Eine These in der Debatte besagt, dass es sich bei 1968 um einen Generationenkonflikt gehandelt habe, bei dem sich die Söhne und Töchter von der NS-Generation abgesetzt hätten oder anders gefragt: War 1968 u. a. in Deutschland auch ein Ventil zur Vergangenheitsbewältigung?

Klaus Meschkat: In der politischen Auseinandersetzung wird dies gerne zu einem Generationenkonflikt hochstilisiert. Nun hat es sicher eine Auseinandersetzung mit der NS-Elterngeneration gegeben, auch  bei SDS-Mitgliedern, die Nazieltern hatten – andere kamen ja aus antifaschistischen oder vorgeblich unpolitischen Elternhäusern. Wenn man den Generationenkonflikt gleich in den Vordergrund stellt, werden automatisch andere Fragen zugedeckt. Einmal ist es kaum möglich, eine Generation länderübergreifend zu definieren, bei einer Betrachtung der Generationenabfolge in Deutschland blendet man also zwangsläufig den internationalen Charakter der Bewegung aus, von dem wir noch reden werden. Dann bedeutete das Verhältnis zu den Älteren für uns ja keineswegs immer einen  Konflikt:  Wir haben uns an älteren Genossen positiv orientiert, an großen Lehrern wie Ernst Bloch oder Herbert Marcuse, den ich noch als väterlichen Freund  kennenlernen durfte, aber auch an überlebenden Antifaschisten wie Wolfgang Abendroth, Willy Huhn oder Fritz Lamm.

Schließlich muss man bedenken, dass generationsprägende historische Einschnitte wie das Kriegende in den verschiedenen Teilen Deutschlands vollkommen anders stattfanden und erlebt wurden. Ich selbst bin in der sowjetischen Besatzungszone am Berliner Stadtrand aufgewachsen, in Hohen Neuendorf, also in der späteren DDR. Wir erlebten, dass alle Nazilehrer entfernt wurden: den Klassenlehrer in brauner Uniform, der uns körperlich gezüchtigt hatte, trafen wir nach dem Mai 1945 als Friedhofsgärtner wieder. Der Bruch mit dem NS war radikaler als in den westlichen Besatzungszonen. Diese politische Differenzierung ist notwendig, bevor man die Auseinandersetzung mit dem NS als generationsspezifisch deutet und  psychologisiert.

Marianne Zepp: Welche Rolle spielte der Systemkonflikt des Kalten Krieges?

Klaus Meschkat: Die Westintegration und die Wiederaufrüstung haben es für die werdende Bundesrepublik mit sich gebracht, dass große Teile des vorher bestehenden Staats übernommen oder sogar wiederbelebt wurden. Die Integration in eine „freie“ Welt, die faschistische Diktaturen wie Spanien und Portugal einschloss,  hat der  Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen ganz anderen Stellenwert verliehen. Ehemalige Reichswirtschaftsführer, belastete Nazijuristen und hohe Offiziere der Hitlerwehmacht wurden rehabilitiert und erhielten hohe Posten im neuen Staat. So hat der Kalte Krieg jedenfalls in Hinblick auf große Teile des Staatsapparats, eine Kontinuität des Naziregime begünstigt. Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit war im Adenauer-Staat auch Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

Marianne Zepp: Was sind die Ursachen für die Abspaltung des SDS von der SPD?

Klaus Meschkat: Polemisch könnte man sagen: die SPD hat sich vom SDS abgespalten, der an den Grundsätzen der alten Sozialdemokratie festhalten wollte, die vor Godesberg immer noch ein marxistisches Programm hatte, eine grundlegende wirtschaftliche Umgestaltung anstrebte und  gegen die Wiederaufrüstung Westdeutschlands aufstand. Dagegen gewannen in der Führung der SPD allmählich die Kräfte die Oberhand, die eine „Westbindung“ samt Eintritt in die NATO und Wiederaufrüstung akzeptierten und bereit waren, alle sozialistischen Ziele einer künftigen  Regierungsfähigkeit zu opfern. Der Konflikt mit den kritischen Studenten war damit unausweichlich. Hinzu kamen Personen wie z. B. Herbert Wehner, dessen Vorstellungen von Parteidisziplin von seiner stalinistischen Vergangenheit geprägt waren. Diese SPDler wollten den aufmüpfigen Studentenverband mit bewährten Methoden gleichschalten. Es war nur ein Vorwand, dass es damals im SDS auch kleine Gruppen gab, die von Ostberlin ferngelenkt waren – die Leute von der Studentenzeitschrift „konkret“ mit Klaus Rainer Röhl haben das ja später selbst zugegeben, was wir damals nur ahnten. Die Mehrheit des SDS, zu den ich als Redaktionsmitglied seines Bundesorgans „Standpunkt“ seit 1955 auch gehörte, stand jedenfalls der damaligen DDR und der Sowjetunion ebenso  kritisch gegenüber wie der kapitalistischen Restauration in Westdeutschland – und das wusste die Parteispitze,  Worum es in Wahrheit ging, lässt sich am Bespiel der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ zeigen, die vom SDS-Mitglied Reinhard Strecker aufgrund seiner Recherchen über Nazis im westdeutschen Justizapparat organisiert wurde und die trotz des Einspruchs des SPD-Vorstands ab November 1959 gezeigt wurde. Solche Enthüllungen widersprachen der Kursänderung der SPD, die schließlich 1966 in der Großen Koalition mit dem Altnazi Kiesinger  als Bundeskanzler und dem Antifaschisten Willy Brandt als Vizekanzler kulminierte.

Die Diskussionen auf der Göttinger Delegiertenkonferenz von 1959, an die man nach einem halben Jahrhundert im kommenden Jahr einmal erinnern sollte,  waren ein letzter Versuch, den Bruch zwischen SPD und SDS zu kitten. Die Versöhnung hielt nicht lange – der Parteivorstand fasste Anfang 1961 den Beschluss, die Mitgliedschaft in der SPD mit der im SDS für unvereinbar zu erklären, und schuf mit dem SHB (Sozialdemokratischer Hochschulband) einen eigenen Studentenverband – der dann allerdings nach wenigen Jahren ebenfalls auf Konfrontationskurs zur Partei ging.

Der SDS konnte durch eine Förderergesellschaft, zu der prominente Hochschullehrer wie Wolfgang Abendroth, Ossip Flechtheim und Heinz-Joachim Heydorn gehörten, seine Existenz behaupten - die Förderer wurden dann allerdings ebenfalls aus der SPD ausgeschlossen.

Marianne Zepp: Was bedeutete diese Trennung von der SPD für den SDS?

Klaus Meschkat: Es ging um politische Auseinandersetzungen, aber auch um Parteikarrieren, die den Aktivisten politischer Studentenverbände üblicherweise offenstanden und auf die einige der Gründer des SHB keinesfalls verzichten wollten. Auch in meinem Falle: ich war als früherer Vorsitzender des VDS (damals die Gesamtvertretung der bundesdeutschen Studierenden) in den Jugendpolitischen Ausschuss beim Parteivorstand der SPD berufen worden und erhielt von einem Tag auf den anderen keine Einladungen mehr, als ich mich zum SDS bekannte.  Die Trennung von der SPD bedeutete zunächst den Verzicht auf politische Praxis im üblichen Sinne, obwohl viele von uns ihr Engagement  in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit verstärkten. Zugleich, weil Sie nach den Auswirkungen gefragt haben, widmeten sich SDS-Mitglieder einer  intensiven theoretischen Arbeit. Daraus ging das Buch  „Hochschule in der Demokratie“ hervor, das die theoretische Debatte über Hochschulreformen Anfang der 60er Jahre bestimmte. Erst Mitte der 60er Jahren kam dann mit Rudi Dutschke und seinen Freunden ein neues Element in den SDS, mit Neigung zu Aktivismus, die viele der eher kopflastigen älteren GenossInnen zunächst irritierte. Aber die Bedeutung, die der SDS dann in der Studentenbewegung gewann, lässt sich nicht verstehen, wenn man die Vorgeschichte der erfolgreichen Lösung von der SPD ignoriert... 

Marianne Zepp: Rudi Dutschke war seit Mitte der 60er Jahre eine der zentralen Figuren des SDS. Es war u.a. er, der die Bewegung auf  die Straße brachte. Wie lassen sich diese neuen Elemente beschreiben? Welche Einflüsse gab es?

Klaus Meschkat: Die Neue Linke, als deren Teil sich der SDS begriff, hatte eine internationale Orientierung. Die englische Linke mit der Zeitschrift „New Left Review“ und den Kampagnen gegen Atomrüstung ging voran. Besonders wichtig war aber der Einfluss, der aus den USA kam. Einige Aktive, wie Michael Vester, waren ja selbst in den USA gewesen und hatten vom Civil Rights Movement gelernt. Und dann trug natürlich der Vietnamkrieg dazu bei, dass das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges überwunden wurde.

Aber eine internationale Orientierung des SDS reicht weiter zurück. Die erste ungewöhnliche Demonstration, an die ich mich erinnern kann, fand im Juli 1961 statt. Es war ein Protest gegen eine Feier im amerikanischen Harnack-Haus in Dahlem zum 25. Jahrestag des Francoputsches von 1936, die wir störten: durch eine einfallsreiche Verkleidung zweier Genossen, die als Handwerker auftraten, konnte öffentlich die Flagge der spanischen Republik entfaltet werden. Wir wollten klarstellen, in welche Kumpanei die Bundesrepublik und ihre Schutzmacht USA verstrickt waren, und wie die  Diktaturen auf der iberischen Halbinsel vom westlichen Bündnis unterstützt wurden. Daran schlossen sich in den 60er Jahren viele Protestaktionen an, die sich gegen Symbolfiguren des Kolonialismus und Neokolonialismus besonders in Afrika richteten, und die schließlich im Protest gegen den Besuch des Schah von Persien Mitte 1967 kulminierten.

Marianne Zepp: Es gab zwischen Ihnen und Wolfgang Kraushaar eine Kontroverse über die Haltung zur Gewalt, die sich an dem Begriff der Stadtguerilla festmachte. Kraushaar sieht darin ein eindeutiges Bekenntnis zur Gewalt. Wie sehen Sie das?

Klaus Meschkat: Kraushaar ist ja in letzter Zeit durch eher polemische Artikel hinter früher von ihm vertretene Einsichten zurückgefallen, eine ernsthafte Argumentation, die man noch in seiner Analyse des Organisationsreferats  von Dutschke und Krahl findet, wurde zugunsten des Einstimmens in publikumswirksame Kampagnen verflacht. Einst zeigte Kraushaar noch, dass Rudi Dutschke nicht für eine Übertragung der lateinamerikanischen Methoden des bewaffneten Kampfes auf die Bundesrepublik plädierte, wenn er von Stadtguerilla sprach. Dutschke und wir alle versuchten angesichts des Monopols der Springerpresse, einer gleichgeschalteten öffentliche Meinung, eine andere Art von Öffentlichkeit zu schaffen. Dies konnte nur durch das Auftreten kleiner Gruppen geschehen, die durch phantasievolle Aktionen das Schweigen  etwa über die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam durchbrachen oder das konformistische Denken in wichtigen gesellschaftliche Bereichen in Frage stellten, wie zum Beispiel in den Gewerkschaften. Ob dafür die Benennung „Stadtguerilla“ so glücklich war, darüber kann man in der Tat heute streiten. Jedenfalls ist es für das Gesamtverständnis der Protestbewegung unangemessen, die Frage der Gewalt in den Mittelpunkt zu stellen.

Marianne Zepp: Heute erscheinen einige der politischen Forderungen und Programme utopisch und seltsam weltfremd. Wie beurteilen Sie das heute? Welche Fehler hat die Linke Ihrer Meinung nach gemacht?

Klaus Meschkat: Dieser Vorwurf, wir seien weltfremd, kam ja damals schon von allen Seiten, nicht nur von den Kalten Kriegern des Westens. Die DDR-Ideologen hielten unabhängige Sozialisten im Westen für Abenteurer, die die wahren Kräfteverhältnisse verkannten. Als Reaktion darauf wurde das Wort vom „real existierenden Sozialismus“ erfunden.

Mit dem Abstand von vierzig Jahren darf man heute wohl fragen:  Wer hat in den damals entscheidenden Fragen recht behalten? Eine Lichtgestalt wie Willy Brandt übte absolute Loyalität gegenüber den USA während des Vietnamkrieges, und als Außenminister hat er die Unterstützung des Bundesgenossen Portugal in seinem Kolonialkrieg keineswegs beendet. Daran erinnert sich kaum jemand mehr. Sicher gab es auch bei uns merkwürdige Ideen, die Schaffung einer Räterepublik in Westberlin war zum Beispiel wohl nicht sehr realitätsträchtig. Allerdings scheint mir  die damalige Grundposition der Ablehnung des Vietnamkriegs so richtig wie heute der Protest gegen den Irakkrieg.

Weil Sie nach den Irrtümern fragen: In einem Punkt haben wir uns entscheidend geirrt: Wir haben die UdSSR für reformierbar und lebensfähig gehalten. Gerade weil wir von den Stalinistischen Verbrechen wussten, gingen wir davon aus, dass nach deren Aufdeckung der Weg zu einer besseren Sowjetunion frei sei.  Aber wir standen mit diesem Irrtum nicht allein, zum Bespiel hat auch die damals modische  Konvergenztheorie, die ja  von ganz anderen Leuten vertreten wurde, angenommen, dass es sich beim Sowjetimperium um ein lebensfähiges System handele. Nach dem Verschwinden der Sowjetunion darf man allerdings die Frage aufwerfen, wie es denn mit der Überlebensfähigkeit ihres Gegenparts steht – aber das ist ein anderes Kapitel.

Marianne Zepp: Ich will nochmals auf die Tatsache zurück, dass es sich um ein globales Geschehen handelte. Welche Einflüsse lassen sich auf die deutsche Situation nachweisen?

Klaus Meschkat: Na ja, auf die USA habe ich bereits hingewiesen. Wir haben vielleicht die sogenannten Spaziergängerdemonstration erfunden, ansonsten wurden fast alle neuen Protestformen aus  den USA kopiert: teach-ins, sit-ins etc. Wir haben es uns allerdings nicht leicht gemacht mit der Stellungnahme gegen die  offizielle US-Politik. Wir gehörten ja einer Generation an, die auch von Amerikanern befreit worden war, auch amerikanische Truppen hatten den deutschen Faschismus niedergekämpft. Hier kam für uns ganz entscheidend die Antikriegsbewegung aus den USA ins Spiel, die uns Orientierung bot und eine große Ermutigung für uns war. Hierin liegt auch die Infamie der derzeitigen Darstellungen von Renegaten wie Götz Aly, die mit dem modischen Vorwurf des Antiamerikanismus jonglieren und einfach in Abrede stellen, dass damals die täglichen Nachrichten über die US-Greuel in Vietnam für uns die entscheidende Motivation zur Stellungnahme und zum Handeln waren, kein billiger Vorwand für Krawalle.

Marianne Zepp: Wie erklären Sie es, dass die Proteste weltweit auch über Systemgrenzen hinweg  gleichzeitig ausbrachen?

Klaus Meschkat: Eine eindeutige Antwort habe ich dafür immer noch nicht. Es wird zum Bespiel gesagt,  dass es  nur in den postfaschistischen Ländern Deutschland, Italien und Japan zur Bildung gewaltbereiter bewaffneter Gruppen kam, aber auch das erklärt noch nicht viel.  Was sich da gegenseitig auf welche Weise beeinflusste, muss noch analysiert werden. Sicher gab es einem gemeinsamen Antrieb der Neuen Linken, sich aus den Erstarrungen des Kalten Krieges zu befreien, um handlungsfähig zu werden. Außerdem erlebten wir die letzte Phase der antikolonialen Kämpfe und die Herausbildung neokolonialer Herrschaftsformen. Solidarität mit Befreiungsbewegungen war ein starker Antrieb, schon seit dem Algerienkrieg. Der Protest gegen den Vietnamkrieg führte verschiedenartige Bewegungen  zusammen, sichtbar im Westberliner Vietnamkongress vor vierzig Jahren,  im Februar 1968. Rudi Dutschke fuhr danach nach Prag, wir hatten Sympathien für den dortigen Reformkommunismus, der im August 1968 niedergeschlagen wurde. Auch dagegen haben wir protestiert.  Bald danach begann der Zerfall der Protestbewegungen,  aber das ist schon ein anderes Thema.

Das Interview wurde am 26.02.2008 von Dr. Marianne Zepp, Referentin für Zeitgeschichte und Demokratieentwicklung der Heinrich Böll Stiftung e.V., geführt.

Zur Person:

Klaus Meschkat war beim Ende des zweiten Weltkriegs zehn Jahre alt.  Er gehört einer Zwischengeneration an, nicht Flakhelfer, aber älter als die meisten 68er. Als prägend für seine Sozialisation sieht er die ersten Nachkriegjahre in der sowjetischen Besatzungszone an. Durch den Besuch einer Westberliner Oberschule, bei Wohnsitz in der DDR am Berliner Stadtrand, war er 1950-54  buchstäblich ein täglicher Grenzgänger zwischen den Systemen. Mit der Studienaufnahme an der FU wurde er 1954 gleich Mitglied des SDS. Wichtig war für ihn die frühe Auseinandersetzung mit der SPD, an der er als Mitglied der Redaktion der SDS-Zeitschrift „Standpunkt“ aktiv mitbeteiligt war. Nach einer Studentenvertreter-Zeit (Asta-Vorsitzender der FU, dann Vorsitzender des VDS in Bonn) promovierte er und war seit 1965 Assistent an der FU. Mitbegründer und erster Vorsitzender des Republikanischen Clubs, seit 1967 das wichtigste Zentrum der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin.