Deutschland wird italienischer

Eine Betrachtung der neuen deutschen Farbenlehre

6. Mai 2008
Von Jens König
Von Jens König
 
Die Grenzen zwischen den politischen Lagern verschwimmen. Das neue Fünfparteiensystem macht die Lage für alle Beteiligten unberechenbarer und instabiler. Die Suche nach Koalitionen erfordert in Zukunft mehr Kreativität und spielerische Phantasie. Die ach so ordentliche deutsche Parteipolitik wird italienischer. Das ist nicht das Schlechteste. Es könnte uns allen, der Gesellschaft ebenso wie den Parteien, gut tun.
 
Wie unvorbereitet wir auf diese neue Zeit sind, haben die turbulenten Ereignisse in Hessen nach der Landtagswahl vom 27. Januar 2008 gezeigt. Die wochenlange öffentliche Hysterie war ja nicht nur damit zu erklären, dass die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti ein zentrales Wahlversprechen – keine Kooperation mit der Linkspartei – gebrochen hat. Die Hysterie speiste sich auch aus Ypsilantis Versuch, eine rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden. Eine Minderheitsregierung! Mitten in Deutschland! Da sahen viele schon wieder Weimarer Verhältnisse aufziehen.
 
Auch wenn Ypsilanti ihr Experiment dilettantisch vorbereitet hat und es dadurch zu Recht gescheitert ist – eine rot-grüne Minderheitsregierung war die logische Folge einer verfahrenen Situation in Hessen. Ein geschlagener Ministerpräsident Roland Koch: ein Patt zwischen CDU und SPD im Landtag; ein mutiger, auf Ökologie und soziale Gerechtigkeit zielender Wahlkampf von SPD und Grünen; eine Linkspartei, die nicht gefährlich, aber auch nicht regierungsfähig ist – diesen hessischen Verhältnissen entspricht ein rot-grünes Bündnis am ehesten.
 
Dass hier eine Minderheitsregierung gebildet werden sollte, war keine ideale Lösung, aber auch kein Drama. Niemand muss sich vor Weimarer Verhältnissen fürchten. Die skandinavischen Länder zeigen, dass Minderheitsregierungen nicht in politischer Blockade und im Chaos enden müssen. Sie können sogar Debatten über Sachfragen befördern. Das neue Fünfparteiensystem wird diesen Weg in Zukunft noch öfter weisen. Gemach, gemach, Minderheitsregierungen werden damit nicht gleich zum Normalfall. Aber wir sollten aufhören, sie als Betriebsunfälle der Geschichte zu betrachten.

Klare Programmatik und trotzdem Flexibilität

Was also lehrt Hessen? Das neue politische Spiel gewinnt derjenige, der ein klares politisches Programm hat und trotzdem flexibel ist. Das hat sogar Roland Koch begriffen. Er versucht gerade mit aller Macht, die Grünen in eine Jamaika-Koalition mit CDU und FDP zu locken. In der neuesten Ausgabe der Bunten enthüllt der CDU-Hardliner, dass er schon seit Jahren im Bioladen einkauft. Demnächst wird er bestimmt noch zugeben, dass er in seiner Jugend mal gekifft hat. Der Fortschritt geht eben seltsame Wege.

Und er treibt die Parteien vor sich her. In Hamburg hat er CDU und Ökopartei in einer schwarz-grünen Koalition zusammengeführt. Dieses Bündnis ist von beiden Parteien nicht wirklich gewollt gewesen – es ist ihnen passiert. Weder Christdemokraten noch Grüne und schon gar nicht ihre Wähler haben vor der Wahl auf diese Koalition gesetzt. Jetzt ist sie trotzdem vollzogen, erstaunlich nüchtern und leidenschaftslos. Sie ist damit ein Symbol für die neue Zeit.

Der Abschied vom alten Lagerdenken wird in Deutschland nicht gefeiert. Öffentliche Begeisterung löste Schwarz-Grün in Hamburg allenfalls dadurch aus, dass wir mit diesem politischen Bündnis endlich etwas Neues erleben; was dieses Neue ist, ist da fast schon zweitrangig. Wir sind der ewig gleichen Koalitionen müde. Welche neuen Möglichkeiten und Gefahren Schwarz-Grün mit sich bringt, wissen die Beteiligten ebenso wenig wie ihre Wähler. Gehen christdemokratische Wachstumsgläubigkeit und grüne Verzichtspolitik wirklich zusammen? Ergänzen sich die Kompetenzen der CDU bei Wirtschaft, Finanzen, innerer Sicherheit und die der Grünen bei Ökologie, Bildung, Integration produktiv oder bilden sie doch unüberbrückbare Gegensätze? Das erklärt die Zaghaftigkeit auf beiden Seiten. CDU und Grüne (und alle anderen Parteien) sprengen die Grenzen der bisherigen politischen Lager ja nicht mit Eifer und schon gar nicht mit großer Lust auf. Ihre ersten, vorsichtigen Schritte im neuen Fünfparteiensystem leiten sie lediglich aus einem strategischen Kalkül ab: Sie wollen sich im schwieriger gewordenen Spiel um die Macht neue Optionen eröffnen.

Das ist viel komplizierter als vor 25 Jahren, da hat Joschka Fischer Recht. Der alte grüne Übervater bezeichnet den Übergang vom Vier- zum Fünfparteiensystem als einen „fundamentalen Bruch“ – im Gegensatz zum Übergang vom Drei- zum Vierparteiensystem. Der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 habe das vorhandene Parteiensystem lediglich in zwei Lager transformiert, die zuvor bereits bestanden hatten. Die Etablierung der Linkspartei heute ändere die Grundparameter der Koalitionsbildung und der politischen Machtverteilung jedoch sehr grundsätzlich. Die Entstehung des Fünfparteiensystems komme daher, so Fischer, einer „kleinen politischen Revolution“ gleich.

Sie stellt alle Parteien und ihr Spitzenpersonal vor ungeahnte Herausforderungen. Die CDU reagiert darauf bislang mit einem kühlen Pragmatismus der Macht. Die Grünen zeigen sich erstaunlich beweglich, sie sind froh, der Bevormundung durch die SPD endlich einmal entkommen zu können. Die Linke beharrt trotzig auf ihrem Status als Oppositionspartei. Die FDP hat sich verbal zwar von der Union gelöst, aber noch nicht gedanklich; sie guckt dem neuen Treiben einigermaßen entgeistert zu. Und die SPD fesselt sich selbst. Das Entstehen der Linkspartei hat sie bis heute nicht verkraftet. Nichts macht das deutlicher als das Hin und Her von Parteichef Kurt Beck: Erst ein überflüssiger Unvereinbarkeitsbeschluss, der jede Zusammenarbeit mit der Linken im Westen ausschloss, vor ein paar Wochen dann das Kommando zurück – ein ohnehin riskantes Manöver, das vollends schief ging, weil Beck es noch dilettantischer einfädelte als Ypsilanti ihr Koalitionsexperiment in Hessen.

Dabei hat die SPD die strategisch beste Ausgangsposition von allen. Sie ist die einzige Partei, die sowohl mit CDU, FDP, Grünen als auch mit der Linken Koalitionen bilden kann. Für eine Partei, die in einer schweren Identitätskrise steckt, stellt diese Situation offenbar aber eine Überforderung dar. Abzulesen ist das an dem hilflosen Gejammer der SPD über die Grünen. „Verrat“ rufen die Sozialdemokraten, nur weil die Grünen mit der CDU in Hamburg gemeinsame Sache machen.

Der neue politische Zeitgeist

Alle Parteien müssen sich bewegen, die neuen Zeiten verlangen das. Bewegen heißt: das Lagerdenken überwinden. Ideologische Blockaden abbauen. Nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten suchen. Sollen Dreierbündnisse der Normalfall werden, weil große Koalitionen die Ausnahme bleiben müssen, kommt es entscheidend auf die Grünen und die FDP an. Ohne eine Verständigung der beiden so gegensätzlichen Parteien keine Ampel- und keine Jamaikakoalitionen. Aber auch die Linkspartei muss über ihren Schatten springen. Sie darf die SPD nicht länger als ihren Feind ansehen, sondern muss gezielt nach Gemeinsamkeiten mit Sozialdemokraten und Grünen suchen. Nur wenn sie sich vollends auf die komplizierte Wirklichkeit einlässt, hat sie die Chance regierungsfähig zu werden. Auch eine Reformkoalition aus SPD, Grünen und Linkspartei ist wünschenswert – solange SPD und Grüne solche rot-rot-grüne Bündnisse nicht als Zementierung des alten linken Lagers betrachten, sondern als eine von vielen Varianten im neuen Spiel der Möglichkeiten.

Überhaupt sollten alle fünf Parteien beherzigen, dass es bei alldem nicht um Strategie, sondern um Politik geht. Sie sollten sich gerade angesichts der Herausforderungen des Fünfparteiensystems zuallererst mit inhaltlichen Fragen beschäftigen. Damit haben sie genug zu tun. Kann die Union erklären, was der Leipziger Parteitag 2003 mit ihrer Politik von 2008 zu tun hat? Weiß die SPD, für wen sie Politik macht: für neue Mitte und alte Unterschicht oder für alte Mitte und neue Unterschicht? Hat die FDP eine Vorstellung davon, wie eine liberale Bürgerrechtspolitik angesichts weltweiter Terrorgefahr aussehen kann? Können die Grünen ihren Wählern plausibel machen, wie das zusammengeht: das Selbstverständnis einer linken Partei und ein Bündnis mit der CDU? Will die Linke eine moderne linke Partei werden, oder reicht es ihr, eine andere, ideologisch reine, vermeintlich bessere SPD zu sein?

Für alle Parteien geht es um den Kern ihrer Politik. Wenn sie diesen Kern nicht deutlicher als bisher herausarbeiten, dann nützt ihnen am Ende die ganze neue Flexibilität auch nichts.

Jens König ist Reporter im Hauptstadtbüro des stern. Zuvor arbeitete er viele Jahre als Leiter des Parlamentsbüros der taz.