Am Sonntagnachmittag war es soweit. „Kosovo ist eine Republik - ein unabhängiger, demokratischer und freier Staat", erklärte der kosovarische Parlamentspräsident Jakup Krasniqi. Ministerpräsident Hashim Thaçi versprach die Umsetzung des Ahtisaari-Plans und hieß die am Freitag in Brüssel beschlossene EU-Mission (EULEX) willkommen. Die Anerkennung des siebten - aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Staates - gilt in Washington, London, Paris und Berlin als sicher. Doch der diplomatische Widerstand Belgrads und die Blockadehaltung Moskaus auf UN-Ebene werden sich fortsetzen. So forderte Russland bereits am Sonntag eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates und verlangte, dass die Vereinten Nationen die Unabhängigkeitserklärung für ungültig erklären.
Gewinner und Verlierer des Kosovo-Spiels
Die Amerikaner und die Westeuropäer haben den von der Veto-Macht Russland blockierten völkerrechtlichen Weg umschifft und Tatsachen geschaffen. Wer sind also die Gewinner und wer die Verlierer des langjährigen Kosovo-Spiels?
Auf der einen Seite steht die albanische Bevölkerungsmehrheit. In mehreren jugoslawischen Staatsformen im 20. Jahrhundert waren sie unterprivilegiert und wurden – mit Ausnahme des letzten Abschnitts der Tito-Ära – als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt. Miloševics nationalistischer Aufstieg begann Mitte der 80er mit dem Versprechen, die immer deutlicher werdende demografische Dominanz der Albaner durch die Aufhebung der Kosovo-Autonomie und letztendlich durch drakonische staatliche Gewalt zu dämpfen. Er war es, der aus dem Kosovo ein serbisch okkupiertes Gebiet machte. Die einzige Klammer zwischen Albanern und Nichtalbanern blieb nach Miloševics Machtübernahme sein repressiver Apparat.
Spätestens nach dem Dayton-Abkommen 1995 sahen aber auch die radikalisierten Gruppen der Kosovo-Albaner, dass eine brutale militärische Gewalt auf internationaler Ebene mehr argumentatives Gewicht besitzt als der gewaltlose Widerstand des Albaner-Führers Ibrahim Rugova. Sie betrachteten aufmerksam, wie die inneren Grenzen Bosnien-Herzegowinas mit Feuer und Blut gezeichnet wurden. Vor allem Serbenführer Radovan Karadÿic – mit aktivem Dazutun seiner ebenso chauvinistisch verblendeten Kriegsfeinde – machte die multiethnische Republik Bosnien-Herzegowina zu einem permanenten Krisenfall. Am Ende des Krieges wurde diese Krisensituation in der Dayton-Verfassung als Normalfall festgeschrieben. In den ethnisch gesäuberten Siedlungsgebieten dieses geteilten Landes blieben die multikulturellen Elemente nur eine Erinnerung.
Solche Zeichen der Zeit verstanden die albanischen Guerilla-Kämpfer der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) nur allzu gut. Ohne ihre bewaffnete Rebellion hätte es keine Gelegenheit gegeben für eine so offene und unverhältnismäßige Gewaltanwendung Miloševics – und damit auch keine NATO-Intervention. Die Angst, durch Untätigkeit ein neues Srebrenica auf dem Kosovo mitzuverschulden, war 1999 im Westen groß. Zu lange hatte Miloševic die westlichen Politiker an der Nase herumgeführt. Es stand die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem Spiel. So kehrte die Gewalt in Form nächtlicher Bombardements 1999 zurück nach Belgrad. Mit der Kapitulation Serbiens endete dann de facto die Herrschaft Belgrads auf dem Kosovo. Das Sagen hatten seitdem die NATO und die UN-Mission.
Explosive demografische und soziale Mischung
Die Bilanz des achtjährigen internationalen Protektorats ist alles andere als rosig. Im Jahr 2004 entlud sich die albanische Unzufriedenheit an der schlecht geschützten serbischen Minderheit: Menschen wurden getötet, Kirchen angezündet. Die internationale Schutzmacht versagte. Zurück blieb eine gewisse Ratlosigkeit der UN-Verwaltung: Was tun? Die wirtschaftliche Misere des Kosovo nahm dramatische Ausmaße an: Gemessen an seiner demografischen Struktur hat das Kosovo die jüngste Bevölkerung Europas, seine Arbeitslosenrate zählt zu den höchsten auf dem Kontinent. UN-Schätzungen besagen, dass sich auf dem Kosovo an die Hunderdtausend illegale Schusswaffen in Privatbesitz befinden. Eine explosive Mischung. Die Schlussfolgerung der desillusionierten Protektoren: Die angestrebten Demokratiestandards konnten warten, die Lösung der Statusfrage erhielt Vorrang.
Mehr als drei Jahre und einige erfolglose serbisch-albanische Verhandlungsrunden später ist die Unabhängigkeitserklärung nun Realität. Die Anerkennung wird sicherlich die emotionellen Bedürfnisse der albanischen Mehrheit befriedigen. Die Europäer, die als Bewacher dieser Unabhängigkeit die größte Mission in der Geschichte der EU in den Kosovo entsenden werden, übernehmen aber eine große Verantwortung. Denn die geschilderten Probleme werden im kosovarischen Alltag auch dann sichtbar sein, wenn der Widerhall der Freudenschüsse in Prishtina abgeklungen ist. Die Erwartungen sind groß, sie können nur durch schnelle wirtschaftliche Erholung und Demokratisierung des Kosovo erfüllt werden. Wahrscheinlicher ist aber eine langsame Vorwärtsbewegung.
Regionale Turbulenzen auf dem Balkan könnten folgen
In Belgrad wandten sich - unmittelbar nach der Ausrufung der Unabhängigkeit - erwartungsgemäß Ministerpräsident Vojislav Koštunica und Staatspräsident Boris Tadic mit der Botschaft an die Nation, dass Serbien diese Unabhängigkeit nie anerkennen werde. Im Verlauf des Sonntagabends schlugen Demonstranten das Schaufenster der McDonalds-Filiale im Zentrum Belgrads sowie einige Scheiben der Slowenischen Botschaft und der Zentrale der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) ein. Die ersten Verletzen liegen bereits in Belgrader Krankenhäusern. Das ursprüngliche Ziel der Demonstranten, die US-Amerikanische Botschaft, konnten sie wegen des großen Polizeiaufgebots nicht erreichen. Doch die ersten Proteste von rechts außen könnten Vorboten einer turbulenten Zeit in Serbien sein. Zu Beginn der Arbeitswoche ist eine Kosovo-Sitzung des serbischen Parlaments einberufen worden. Ministerpräsident Koštunica, ebenso wie Staatspräsident Tadic, kooperieren mit der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS): Zusammen mit SRS-Führer Tomislav Nikolic werden sie für Mitte der Woche zu Großdemonstrationen gegen die Unabhängigkeit des Kosovo aufrufen.
Ob die Kosovo-Frustration in Serbien mehr wiegt als der Wunsch nach einem besseren Leben innerhalb der EU, wird sich erst zeigen. Die regionale Dimension der aktuellen Entwicklung wird deutlich in einer Reaktion in Bosnien-Herzegowina: Im serbisch dominierten Teil, in der Republik Srpska, bildete sich ein alle Parteien übergreifender Konsensus gegen die Unabhängigkeit des Kosovo. Erste Stimmen werden laut, dass die Republik Srpska ein Sezessionsrecht nach dem Kosovo-Muster für sich beanspruchen sollte. Die große Frage lautet: Befinden wir uns in einem Nachbeben des jugoslawischen Desasters oder sind neue regionale Turbulenzen in Sicht? Das hängt diesmal nicht nur von den lokalen Akteuren ab. Die Abstimmung zwischen Brüssel, Washington und Moskau sowie eine klare EU-Strategie könnten das Restrisiko minimieren.