Die Menschen wollen das Märchen glauben

Herr Morozov, kann das Internet die Welt retten?

Nicht, dass ich wüsste.

Aber ist nicht spätestens seit der Arabellion allenthalben die Rede von Facebook- und Twitter-Revolutionen, mit deren Hilfe sich geknechtete Völker befreien können?

Das habe ich auch mal geglaubt. Ich habe nicht nur daran geglaubt, dass das Internet die Welt verbessern kann, ich habe für diese Idee aktiv geworben. Ich habe Non-Profit-Arbeit in einer NGO geleistet und bin dafür durch Zentralasien, den Kaukasus und Weißrussland gereist, habe Netzaktivisten, Blogger und Oppositionspolitiker getroffen und für Neue Medien missioniert. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie Blogs und Soziale Netzwerke und Wikis für ihre Zwecke nutzen können.

Heute sagen Sie, dieser Ansatz sei falsch. Durch Ihre Arbeit als Blogger, Essayist und Dozent für Netzpolitik, aber vor allem durch Ihr Buch über die «dunkle Seite des Internets» haben Sie einen weltweiten Ruf als skeptischer Internet- Experte erlangt. Wie kam es zu Ihrem Sinneswandel um 180 Grad?

Nachdem ich drei Jahre lang in diesen Projekten gearbeitet hatte, fiel mir auf, dass all das nicht den erhofften Effekt hatte. Anstatt robuste, geheime Strukturen in den Neuen Medien aufzubauen, haben wir sie tatsächlich zerstört. Denn wir haben die Netzaktivisten dabei ausgebremst, nach funktionierenden und profitablen Projekten zu suchen, indem wir ihnen ein NGO-Gehalt gezahlt haben und sie an Projekte banden, die zum Scheitern verurteilt waren: Immer drei Jahre warten, bis die Gelder bewilligt sind, und nach weiteren fünf Jahren läuft die Projektförderung aus. So funktioniert Unternehmertum in Neuen Medien nicht. Was wir wollten, war ja «Capacity building», also Hilfe beim Aufbau von Wissen, Strukturen, Expertenkreisen. Aber parallel betrieben die Regierungen ihren eigenen Kapazitätsaufbau – und weil sie mehr Ressourcen hatten, wurden sie viel schneller viel schlauer als wir.

Woran haben Sie das gemerkt?

Sie fingen sehr bald an mit Online-Überwachung, Zensur und Propaganda im Internet, mit Cyberattacken und damit, Blogger übers Netz zurückzuverfolgen und auszuspähen, indem sie alle erdenklichen weitentwickelten Überwachungsinstrumente des Internets benutzt haben. So wurde mir klar, dass unsere Arbeit im Vergleich dazu fast nichts erreichen konnte. Und so wurde ich zum Kritiker des Ansatzes «Schult sie einfach – und die Demokratisierung wird kommen». Denn ich denke, das ist zu flach gedacht.

Wie kann der Westen tatsächlich unabhängige Oppositionsgruppen unterstützen?

Zum Beispiel musst du versuchen, etwas zu ändern an den Verkäufen von Überwachungstechnologie durch westliche Firmen an Regierungen. Du musst erreichen, dass Facebook und Google ihre Praktiken so ändern, dass sie anonyme Blogger nicht länger bestrafen – wie es zurzeit der Fall ist. Aktivismus ist weniger vor Ort nötig als hier im Westen. Man muss eben nicht in Peking oder Moskau aktiv werden, sondern zum Beispiel in Washington und Brüssel. Denn viele der Überwachungstechnologien und viele der Datenschutzregulierungen, denen Google und Facebook unterliegen, werden vom Westen bestimmt.

Gab es einen Schlüsselmoment, in dem Ihnen das klar wurde?

Meine Meinung hat sich nicht über Nacht geändert. Natürlich brachten mich einige politische Ereignisse zum Nachdenken, vor allem der Russisch-Georgische Krieg 2008. Da wurden einige der Anweisungen für dezentrale Cyberattacken von russischen Nationalisten und verschiedenen russischen Bloggern verbreitet. Ich weiß noch: Ich recherchierte für einen Artikel, da stieß ich in den verschiedensten russischen Blogs auf Anweisungen, wie ich Software auf meinen Computer installieren kann, um die Webseiten der georgischen Regierung anzugreifen. Ich habe diese Software testweise heruntergeladen, und tatsächlich konnte man damit helfen, georgische Websites zum Schweigen zu bringen. Ich wurde quasi Soldat im georgisch-russischen Cyberkrieg.

Warum hat Sie das so beeindruckt?

Das war viel ausgefeilter als das, was wir üblicherweise von autokratischen Regierungen erwarten. Vor sechs, sieben Jahren haben sie einfach ganz stupide missliebige Websites blockiert. Aber dann holten sie schnell auf, vor allem China und Iran. Sie planten clevere Propaganda-Kampagnen, jede Menge ausgefeilter Überwachungs- und Spionage-Technologie, sie infiltrierten Chatrooms, in denen sich Oppositionelle austauschten. Alles sehr schlau – sie waren eindeutig im Vorsprung gegenüber den Netzaktivisten.

Aber nicht nur Diktaturen nutzen da Netz für ihre Zwecke.

Sicher. Auch westliche Staaten investieren in Überwachungstechnologie und entwickeln sie. Aber wir gehen ja davon aus, dass diese Technologie nur gemäß geltender Gesetze angewendet wird. Auch westliche Regierungen erstellen Malware, aber diese Malware wird dann auch reguliert.

Nicht immer: In Deutschland wurde im Oktober aufgedeckt, dass der Staat fragwürdige «Bundestrojaner» einsetzt.

Ihre Polizei nutzte Malware, um die Computer von Verdächtigen zu durchsuchen. Aber das ist ja auch ihre Aufgabe. Nur war die Malware so programmiert, dass man auch Beweise auf dem Computer des Verdächtigen platzieren konnte – was gegen die Verfassung verstoßen würde. Dennoch: Im Westen gibt es Mechanismen, die Missbrauch durch Regierungen verhindern. Aber sobald Firmen, die diese Malware programmieren, die Technologie in Länder wie Syrien, Weißrussland oder Kasachastan exportieren, gelten alle diese Regeln nicht mehr. Die setzen sie ein, wie sie wollen. Sehr viel von der Überwachungsausrüstung in autoritären Staaten wurde hergestellt, weil jemand in den USA oder Großbritannien oder Deutschland die Firmen damit beauftragt hat. Und wenn sie einmal da ist, gelangt sie eben leicht in die falschen Hände.

Bekanntlich hat Präsident Obama den Virenangriff auf die iranischen Atomanlagen aktiv beschleunigt. Besser als ein Bombenangriff, oder?

Sicher, das kann man so sehen. Ich fordere ja auch nicht, dass all diese Werkzeuge im Westen verboten sein sollten. Es gibt durchaus legitime Sorgen bei den westlichen Behörden. Und natürlich halten sie am digitalen Instrumentarium fest. Das FBI hat erst vor kurzem angekündigt, dass es Internet-Firmen wie Skype und Facebook noch mehr unter Druck setzen will, damit diese «Hintertüren» einbauen, die es erlauben würden, jeden User bei seinen Aktivitäten zu überwachen. Das hieße, die bräuchten dann gar nicht darauf zu warten, bis Facebook ihnen nach drei Monaten Daten liefert – sie könnten einfach in Echtzeit mithören.

Sollten Demokratien so etwas ganz klar verbieten?

Das will ich gar nicht sagen. Aber wir sollten doch wenigstens darüber Bescheid wissen. Denken Sie nur mal daran, dass wir alle unsere Handys mit uns herumtragen, die unseren Standort jederzeit orten. Kombiniert man das mit all den Daten, die wir freiwillig auf Facebook oder sonst wo posten, erhalten die Behörden weit mehr Informationen, als sie noch vor wenigen Jahren zu träumen wagten. Wenn du Facebook-Kunde bist – was ich persönlich nicht bin – haben andere permanent Zugriff auf deine Freunde. Insofern braucht es durchaus mehr Regeln. Denn wenn es nach dem FBI und Co. ginge, würde man Überwachungskameras in unseren Köpfen platzieren. Ich bin nicht sicher, ob ich das gut fände.

Warum weiß nur eine Minderheit der User von dieser dunklen Seite des Netzes? Und warum stören sich noch weniger daran?

Wenn du ein komfortables Leben im Westen führst und dich nicht ständig mit der politischen Lage in China oder sonst wo befasst, bekommst du nicht mit, welche zweifelhaften Möglichkeiten das Netz neben seinen Vorteilen eröffnet. Die erkennt ja nicht mal die Das Problem in Amerika ist aber, dass die meisten Politiker und Politikwissenschaftler noch immer in Kategorien des Kalten Krieges denken, wenn sie China, Iran oder Russland analysieren. Früher hieß es, wer unfreie Gesellschaften hegt, kann auch wirtschaftlich nicht erblühen. Aber heute haben diese Regime ihren Handel längst liberalisiert und in Politik und Wirtschaftsleben viele Schranken abgebaut. Es ist aber ein dummes, altes Vorurteil, dass autoritäre Staaten von Idioten gelenkt werden, die Dinge wie das Internet nicht verstehen und das ganze Volk gegen sich haben. Tatsächlich werden einige dieser Staaten von intelligenten Leuten regiert, die zum Teil große Unterstützung in der Bevölkerung genießen und von denen manche sogar gewählt wurden. Und diese Leute haben sehr gute Berater, oft aus dem Westen. Sie kaufen westliche Technologien und wissen oft bestens, wie sie das Internet für ihre Zwecke nutzen können.

Die US-Soziologin Sherry Turkle argumentiert in ihrem Buch «Alone Together», dass das Netz unseren sozialen Zusammenhalt schwächt. Hat sie recht?

Ich bin da längst nicht so pessimistisch. Ich bin ohnehin immer skeptisch, wenn irgendjemand sagt, das Netz ist so oder das Netz tut dies und jenes.

Sie schreiben in Ihrem Buch selbst, das Netz trage die Saat zur Depolitisierung und Dedemokratisierung in sich.

Nein, ich spreche in meinem Buch nicht so verallgemeinernd vom Internet. In einem meiner Kapitel erkläre ich meine Sicht auf Facebook und die «Sozialen Netzwerke». Aber die sind für mich nicht «das Internet», sondern Privatfirmen, für die ihr technologisches Angebot nichts als ein Geschäftsmodell ist. Meine Kritik ist eine andere: Ich möchte Aktivisten davor warnen, zu viel Hoffnung in Facebook und Co. zu setzen. Ihre Ziele lassen sich auf digitalem Weg oft sogar schlechter umsetzen, als wenn sie ganz altmodisch Flyer drucken und sich in Hinterzimmern persönlich treffen würden.

 

Dieses Interview ist ein Auszug eines Interviews, das die Autoren für die Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau geführt haben.



Evgeny Morozov ist Fellow der New American Foundation, zurzeit arbeitet er als Gastwissenschaftler an der Stanford University. In seinem Buch «The Net Delusion» (2011) belegte er, dass es westliche Regierungen waren, die autoritäre Regime erst technologisch hochgerüstet haben. Sein zweites Buch – Arbeitstitel « Silicon Democracy » – wird voraussichtlich im kommenden Frühjahr erscheinen.