Dafür ist vor allem eine Regelung verantwortlich, die den nationalen Parlamenten die Möglichkeit einer Subsidiaritätsprüfung sowie einer Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an die Hand gibt. Sind die nationalen Parlamente der Überzeugung, dass ein Gesetzesentwurf der EU das Subsidiaritätsprinzip verletzt, so können sie nun Klage dagegen einreichen. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein zentrales Element in der Gesetzgebung der Europäischen Union, das besagt, dass die EU nur dann gesetzgeberisch tätig wird, wenn auf nationalstaatlicher, regionaler oder lokaler Ebene keine adäquate Lösung gefunden werden kann.
In Deutschland wurde die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte nationaler Parlamente durch den Lissabon-Vertrag flankiert durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In seinem so genannten Lissabon-Urteil verpflichtete das höchste deutsche Gericht den Deutschen Gesetzgeber darauf, Bundestag und Bundesrat künftig stärker an der deutschen Europapolitik zu beteiligen. Daraufhin wurde das „Integrationsverantwortungsgesetz“ verabschiedet, das eine Zustimmungspflicht des deutschen Parlaments bei Änderungen des EU-Vertragsrechtes und der Ausweitung europäischer Gesetzgebungskompetenzen vorschreibt.
Was bedeuten diese ausgeweiteten Kompetenzen der nationalen Parlamente in der EU? Können sie diese überhaupt nutzen? Kann das deutsche Parlament aufgrund der gerichtlich festgeschriebenen besonderen Mitbestimmungsrechte als Vorbild für die Beteiligung nationaler Parlamente in der Europapolitik dienen? Diese und weitere Fragen diskutierte die Heinrich-Böll-Stiftung in einem Fachgespräch am 20. September 2010 in Berlin, an dem zahlreiche Expert/innen aus Wissenschaft und Politik teilnahmen. Grundlage für das Gespräch waren die Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) „Zwischen Brüssel, Berlin und Karlsruhe: Bundestag und Bundesrat als Vorzeigemodell parlamentarischer Mitwirkung in der Europapolitik?“ sowie Vergleichsstudien über die Parlamente in Polen, Tschechien und der Slowakei des Institute of Public Affairs in Warschau und des Europeums in Prag.
Die Ergebnisse der Studien wurden im Rahmen des Fachgespräches vorgestellt. Während die deutsche und die tschechische Untersuchung zu dem Schluss kamen, dass die jeweiligen Parlamente durchaus über die entsprechenden Ressourcen verfügen, um die zugebilligten erweiterten Kompetenzen nutzen zu können, wird dies für die Parlamente Polens und der Slowakei bestritten. Dort sind die einzelnen Abgeordneten oftmals überwiegend auf sich allein gestellt und können etwa nicht auf ein Büro mit wissenschaftlichen Mitarbeitern zurückgreifen, wie das bei deutschen Bundestagsmitgliedern der Fall ist.
In einem anderen Punkt waren sich die Verfasser/innen aller Studien jedoch einig: Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen bezweifelten sie, dass die nationalen Parlamente von ihren neuen Rechten häufig Gebrauch machen werden. Dies liege vor allem an den hohen Hürden, die für die Einreichung einer Subsidiaritätsklage genommen werden müssten. Zudem sei die tatsächliche Wirkung des Instruments gemessen an dem zu betreibenden Aufwand relativ gering. Daher sollten die neuen Mitwirkungsrechte nationaler Parlamente nicht überbewertet werden. Allerdings strichen alle Autor/innen die präventive Bedeutung der neuen Rechte heraus: Die Möglichkeit einer drohenden Subsidiaritätsklage im Hinterkopf, wird die Kommission von nun an noch intensiver prüfen, ob ihre Gesetzesentwürfe das Subsidiaritätsprinzip einhalten.
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Auch wenn die Subsidiaritätsprüfung in der Praxis wahrscheinlich wenig Bedeutung haben wird, so könnte die Verankerung dieses Rechts dennoch eine Debatte in Europa darüber auslösen, was Subsidiarität eigentlich bedeutet – spätestens dann, wenn der EuGH tatsächlich einmal über eine Subsidiaritätsklage zu entscheiden hat. Und diese Debatte ist längst überfällig angesichts der Tatsache, dass dieses Prinzip fundamental ist für die Zukunft der Europäischen Union, sowohl was die eigene Handlungsfähigkeit als auch die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung anbelangt. Zudem bietet der Zwang zur Zusammenarbeit zwischen nationalen Parlamenten verschiedener EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen einer Subsidiaritätsklage die Chance, dass nationale Parteien über Landesgrenzen hinweg miteinander kommunizieren und somit die Legitimationsgrundlage der EU erhöhen. Daher könnten die neuen Regelungen auf indirektem Wege dazu führen, eine weitere Lücke in der Legitimationskette zu schließen.
- Download der tschechischen und slowakischen Studie (Englisch, PDF, 878 KB)
- Download der polnischen Studie (Englisch, PDF, 255 KB)
- Download der deutschen Studie (Deutsch, PDF, 449 KB)