Problematisch ist jedoch, wenn dieser Fehler allein durch intergouvernmentale Verträge wie etwa den Fiskalpakt zu beheben versucht wird. Nötig ist eine vertiefte europäische Integration im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die jedoch unwiederbringlich Fragen der demokratischen Verfasstheit der EU aufwirft. Vertiefte Integration ist nur zu rechtfertigen und durchzusetzen, wenn sie einhergeht mit mehr demokratischer Mitbestimmung und Kontrolle – in den Institutionen der EU wie auch in der europäischen Zivilgesellschaft.
Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung am 23. Mai 2012 eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Europas Demokratie auf dem Prüfstand. Welches Europa wollen wir?“, auf der drei Modelle zur zukünftigen Verfasstheit der EU vorgestellt und diskutiert wurden. Der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß setzte sich im Sinne der mit seinem Kollegen Claudio Franzius verfassten Studie zur Stärkung der Europäischen Demokratie, die im Frühjahr dieses Jahres von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben wurde, für eine „lebendige Demokratie“ in der EU ein, in der der Wettstreit um politische Alternativen im Mittelpunkt steht. Joachim Fritz-Vannahme stritt für die Vereinigten Staaten von Europa, die sich das Europaprogramm der Bertelsmann Stiftung, dessen Direktor Fritz-Vannahme ist, als Zukunftsvision für die EU auf die Fahnen geschrieben hat. Stefan Collignon von der im italienischen Pisa ansässigen Sant'Anna School of Advanced Studies trat für die „Europäische Republik“ ein, während es dem Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen Partei Annalena Baerbock vorbehalten blieb, die vorgestellten Konzepte aus ihrer Praxissicht zu bewerten.
Trotz der unterschiedlichen Modelle, von denen die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern ausgehen, bestand zunächst einmal Einigkeit über die Grundprämisse, dass die derzeitige Krise weit mehr als nur rein ökonomischer Natur ist, sondern dass es sich bei ihr vor allem auch um eine Krise der demokratischen Legitimation handelt. Eine wie auch immer geartete Stärkung der europäischen Demokratie sollte allerdings nicht die Abschaffung der Nationalstaaten zum Ziel haben, die nach wie vor wichtige Legitimationsträger seien, so Ulrich Preuß. Vielmehr gehe es darum, europäische Antworten auf Fragen zu finden, die national nicht adäquat beantwortet werden können, wie Joachim Fritz-Vannahme betonte. In die gleiche Kerbe schlug Stefan Collignon, für den die aktuelle Krise nachdrücklich verdeutlicht, wo die Probleme der EU liegen. Die Europäische Union habe über Jahrzehnte hinweg eine negative Integration vollzogen, die auf Befreiung von (in erster Linie Handels-)Barrieren und der damit einhergehenden Freiheit von Kapital und Waren beruhte. Die politische Dimension sei in der EU jedoch nach wie vor größtenteils unintegriert. Dies mache sich jetzt negativ bemerkbar, wo etwa haushaltspolitische Entscheidungen, die in Griechenland getroffen werden, massiv auf andere EU-Länder zurückschlagen, diese aber keine direkten Kompetenzen in der griechischen Haushaltspolitik haben – und umgekehrt. Für solche Fälle fordert Collignon eine starke europäische Regierung mit europäischen Kompetenzen. Die Europäische Kommission habe zwar Regierungscharakter, sie müsse aber politisiert werden, aus den Wahlen zum Europäischen Parlament hervorgehen und auch nicht nach nationalem Proporz zusammengesetzt sein. Der zentrale Gegenpart der Kommission, der Rat, ist laut Collignon der König, den es nach guter französischer Tradition zu köpfen gilt.
Die Abschaffung des Rates ist für Ulrich Preuß dagegen keine Option, da er eine wichtige Rolle im Institutionengefüge spiele. Preuß hält die Forderung Collignons nach einer starken europäischen Regierung für einen politischen Fehler: Es könne keine einheitliche Regierung für Europa geben, da die europäischen Gesellschaften zu vielseitig seien. Bei europäischer Demokratie gebe es keine Standardlösungen für alle Gesellschaften, deren unterschiedliche Lebenswelten und Identitäten stets berücksichtigt werden müssten. So stellt auch der Rat in Preuß‘ Modell ein wichtiges nationalstaatliches Gegengewicht dar zur gleichwohl notwendigen Europäisierung der Demokratie, die sich etwa durch die Einführung transnationaler Listen bei den Europawahlen oder die Stärkung des finanziellen und rechtlichen Status der Europäischen Parteien erreichen lasse.
Für Annalena Baerbock ist nicht das Modell oder der Begriff entscheidend, sondern die Richtung, in die es gehen soll: Diese müsse heißen „mehr Europa“. Sie kritisierte, dass die europäische Integration lange Zeit von den Entscheidungsträgerinnen und -trägern betrieben wurde, ohne dies offen zu kommunizieren oder darüber zu diskutieren. Dieses Versäumnis ist ihrer Meinung nach mitverantwortlich für die derzeitige Vertrauenskrise der EU. Der Fiskalpakt sei das beste Beispiel dafür: Wenn eine solch weitreichende Entscheidung, die eine Budgetkontrolle durch die EU zur Folge hat, nur hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rates und ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments getroffen würde, dann sei es nicht verwunderlich, dass die Bürgerinnen und Bürger kein Vertrauen in die europäische Demokratie haben und dass solche Durchgriffsrechte in den betroffenen Gesellschaften als nicht legitim erachtet werden. Darüber hinaus betonte Baerbock, dass die Narrative des Friedens oder der Reisefreiheit, über die sich die Europäische Union lange Zeit definieren konnte, heutzutage – insbesondere für die jüngere Generation – nicht mehr als Legitimationsgrundlage ausreichten.
Eine neue Erzählung für Europa zu finden, die den Weg in eine erfolgreiche Zukunft leitet, die sinn- und identitätsstiftend für die europäischen Bürgerinnen und Bürger ist – dies ist die zentrale Aufgabe, die es über die Lösung der aktuellen Schuldenkrise hinaus zu bewältigen gilt. Wie eine solche Erzählung aussehen kann, kann sicher nicht allein auf einer zweistündigen Podiumsdiskussion beantworten werden. Dazu ist eine transnationale europäische Debatte notwendig, in der die Zukunft Europas gemeinsam diskutiert wird. Dabei, so Joachim Fritz-Vannahme, ist es auch wichtig, die emotionale Ebene anzusprechen, die nicht bloß den Skeptikern und Populisten überlassen werden dürfe. Wichtig ist, dass über politische Alternativen in Europa gestritten wird und die Politik der angeblichen Alternativlosigkeit ein Ende findet. Dann kann auch die europäische Idee wiederbelebt werden, aus der, wie der Regisseur Wim Wenders kürzlich treffend sagte, über die Jahre die Verwaltung wurde, mit dem Ergebnis, dass die Menschen die Verwaltung heute als die Idee betrachten. Ehe wir die Idee ganz aufgeben, sollten wir die Verwaltung schnellstmöglich ändern.
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Christian Schwöbel ist Projektmanager im EU / Nordamerika-Referat der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.
Audiomitschnitt der Veranstaltung
Weiterführende Links
Schriften zu Europa, Band 7
Die Zukunft der Europäischen Demokratie
Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU umzuschlagen. Vor diesem Hintergrund hat die Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie zur Zukunft der europäischen Demokratie in Auftrag gegeben. Die Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß und Claudio Franzius zeigen auf, wie eine lebendige Demokratie in der Europäischen Union entstehen kann.Dossier: Europas gemeinsame Zukunft
Die EU steckt nicht nur in einer Schuldenkrise, sondern auch in einer Vertrauens- und Demokratiekrise. Gerade jetzt ist eine breite öffentliche Debatte über alternative Vorschläge zur Zukunft Europas gefragt. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte mit dem Webdossier zu dieser Debatte beitragen.Dossier
Zur Zukunft der EU
Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.