Herr Beck, wie steht es um die Menschenrechte, 61 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte?
Seit der Verabschiedung der AEMR vor gut 61 Jahren hat sich die Lebenssituation vieler Menschen in vielen Ländern positiv verändert. Die Erklärung wurde zur Basis weltweiter und regionaler Menschenrechtspakte. Sie ist die Basis für Freiheit und Gerechtigkeit und hat die Denk- und Handlungsweisen der Menschen und Gesellschaften nachhaltig verändert. Andererseits treten viele Staaten die Menschenrechte auch heute mit Füßen - nicht nur Sudan oder Simbabwe, sondern auch Freunde des Westens wie Uganda oder Partner der Bundesrepublik wie Usbekistan. Menschenrechtsprobleme gibt es aber auch hier in Europa.
Nur wer an sich selbst und befreundete Staaten die Anforderungen der Menschenrechtspakte konsequent stellt, ist glaubwürdig, wenn er anderorts auf die Einhaltung dieser Standards pocht.
Und wer beim Stichwort „Menschenrechtsverletzung“ nur an Mord und Folter denkt und vergisst, dass etwa die Beschränkung der Glaubensfreiheit ebenso dazu gehört, der hat das Wesen der Menschenrechte nicht erkannt und macht es sich zu einfach! Häufig erlebe ich, dass es sich mit Menschenrechtsverletzungen so zu verhalten scheint, wie mit großen Werbeplakaten oder Kinoleinwänden: Je weiter man weg ist, desto besser kann man sie erkennen. Diese Herangehensweise ist meines Erachtens die größte Gefahr für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte.
Deswegen dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, Menschenrechtsfragen in der politischen Diskussion hintan zu stellen. Insbesondere in wirtschaftlich zunehmend schwieriger werdenden Zeiten dürfen menschenrechtliche Belange deshalb nicht durch puren Pragmatismus verdrängt werden. Die neue Bundesregierung scheint aber genau diesen Weg einzuschlagen. Sie spricht lieber von „Werten“ als von Menschenrechten. Menschenrechte sind aber keine Geste des guten Willens, sondern Rechte, die zu jeder Zeit gewährt werden müssen. Zu jeder Zeit. Auch dann, wenn es schwerfällt.
Warum sind Ihrer Meinung nach die Menschenrechte unteilbar?
Die Menschenrechte sind unteilbar. Nicht weil ich es so meine oder es gute Argumente dafür gibt, sondern dies ist ihr Wesenskern. Klar ist, dass nicht die bürgerlichen und politischen Rechte einerseits gegen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte andererseits ausgespielt werden dürfen, sondern dass sie gleichrangig sind. Diese Unteilbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit wurde auf der Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien 1993 deklariert, sie galt aber selbstverständlich schon zuvor. Für die rechtliche Freiheit – also die Wahrnehmung der bürgerlichen und politischen Rechte – kommt es nämlich entscheidend auf das Vorhandensein bzw. Sich-Verschaffen-Können eines Grundanteils an den sozialen und kulturellen Lebensgütern an. An diesem Unteilbarkeitsgedanken müssen Innen- wie Außenpolitik ausgerichtet sein: Nur wer sich innenpolitisch an den gleichen Standards messen lässt, die er außenpolitisch anlegt, kann in der Menschenrechtspolitik glaubwürdig sein.
In den letzten Jahren wurden immer wieder eklatante Menschenrechtsverletzungen westlicher Regierungen bekannt, was einen großen Vertrauensverlust gegenüber dem UN-Menschenrechtssystem zur Folge hatte. Einige Staaten sehen sich darin bestärkt, dass die universell deklarierten Menschenrechte vielmehr ein Instrument zur Durchsetzung westlichen Machtinteressen sind. Wie bewerten Sie diese Vorwürfe?
Keine der „westlichen“ Nationen – weder die USA, noch Deutschland, noch eine andere – darf bei Fragen nach Menschenrechten selbstgefällig mit dem Finger nur auf andere zeigen. In allen Staaten der Erde finden traurigerweise tagtäglich Menschenrechtsverletzungen statt. Führt man sich dies vor Augen, so relativiert sich auch die Aussage, die Menschenrechte hätten ein „kulturimperialistisches“ oder „westliches“ Wesen. Das halte ich für grundfalsch. Menschenrechte dienen nicht dazu, Interessen einzelner Staaten gegen andere durchzusetzen. Sie sind Forderungen von Menschen an ihren jeweiligen Staat. Leidende Frauen im Sudan können sich ebenso auf sie berufen wie Gefangene in Guantánamo, wie Christen in der Türkei, wie Nicht-Christen in Italien, wie Asylbewerber in Deutschland. Dies ließe sich leider endlos fortsetzen. Wo immer also Menschenrechte als Durchsetzungsinstrument westlicher Machtinteressen denunziert werden, gibt es eigentlich gesellschaftsinterne Konflikte. Und in diesen Konflikten rufen die Schwächeren nach der Einhaltung der Menschenrechte. Die Stärkeren hingegen – meistens die Staaten – verweigern diese Rechte. Wenn sich dann ausländische Akteure wie NGOs, die UN oder eben andere Staaten auf die Seite der Schwächeren stellen, hat dies in meinen Augen nichts mit einem Kulturkampf oder mit Machtinteressen zu tun.
Am sinnvollsten ist es meines Erachtens, wenn die einzelnen Staaten durch eigene Organe die Einhaltung der Menschenrechte selbst überprüfen. Wichtig sind daher funktionierende und unabhängige Verfassungsgerichte oder regionale Menschenrechtsgerichtshöfe. Man sieht dies aktuell etwa an der Verurteilung Italiens durch den EGMR: Zwar kommt auch hier der Aufschrei der angeblich übergestülpten Werte, doch hat an der Entscheidung des Gerichtshof ein italienischer Richter maßgeblich mitgewirkt. Dieser Umstand regt viele Italiener zum Nachdenken an. Deshalb liegt auch der Schlüssel zu einer umfassenden Durchsetzung der Menschenrechte in der Stärkung unabhängiger Gerichtshöfe.
Wie kann das internationale Menschenrechtssystem gestärkt werden, sodass es in Zukunft nicht mehr von Regierungen folgenlos missachtet werden kann?
Die Defizite der Menschenrechtspolitik in den UN-Mechanismen sind offensichtlich. Ein Blick in den Menschenrechtsrat in Genf reicht aus, um zu erkennen, wie schwierig es ist, mit einer Mehrheit von Unrechtsregimes im UN-Zusammenhang die Menschenrechte zu stärken und das Unrecht auf der Welt zu reduzieren oder es wenigstens offen und objektiv anzusprechen. Hier kann sich nur etwas ändern, wenn Genf zu einer außenpolitischen Priorität Deutschlands und Europas wird.
Wichtig ist nämlich, die Menschenrechte in den Köpfen der Menschen zu verankern. Weltweite Aufklärung ist die beste Prävention gegen Menschenrechtsverletzungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber, dass die vorhandenen und künftigen Menschenrechtscharten so ausgelegt und verfasst werden, dass sie keinerlei kulturalistische Abstriche machen!
Zweitens muss man sich für jene Fälle wappnen, in denen die Einhaltung der Menschenrechte nicht allein durch Aufklärung und Prävention gelingt: Bei dem westlichen Unternehmen, das Kinder für sich arbeiten lässt oder etwa bei dem Staat, der Entwicklungshilfe bekommt und dennoch Minderheiten diskriminiert. Hier müssen wir als Staat und Gesellschaft Abkommen treffen, die es uns erlauben, die Zusammenarbeit notfalls aufzukündigen. Ein solcher Druck kann notwendig sein.
Zuletzt muss es für jene Fälle, in denen trotz aller Aufklärung und trotz allen Drucks dennoch Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, effektive Rechtsschutzmöglichkeiten bereit gestellt werden. Die Betroffenen und Verletzten müssen weltweit die Chance auf Rehabilitation sowie auf Schadenersatz haben. Am besten vor Gerichten in ihrem eigenen Land, ansonsten vor einem regionalen oder internationalen Menschenrechtsgerichtshof. Dieses Weltrechtsprinzip muss aber seinem Namen auch endlich Ehre machen und tatsächlich weltweit durchgesetzt werden. Die Bundesrepublik spielt hier alles andere als eine rühmliche Rolle.
Die Fragen stellte Renko Recke, Heinrich-Böll-Stiftung, März 2010.
Vita: Volker Beck
Erster Parlamentarischer Geschäftsführer, Sprecher für Menschenrechtspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die GrünenStudium: Kunstgeschichte, Geschichte, Germanistik
Politische Vita:
- seit 1985 Mitglied der Grünen
- 1987-1990 Schwulenreferent der Bundestagsfraktion der Grünen
- seit 1994 Mitglied des Bundestages
- 1994-2002 rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion
- 1998-2002 AK III-Koordinator im Fraktionsvorstand
- 1991-2004 Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland
- seit 2002 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion
- 2005-2009 in der 16. WP Sprecher für Menschenrechtspolitik und Mitglied in den Ausschüssen für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (O+M), für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (M), im Innenausschuss (stM) und im Vermittlungsausschuss (stM)
- Mitglied des Parteirates von Bündnis 90/Die Grünen
- Vorsitzender des Beirates des Härtefonds zur Entschädigung für NS-Verfolgte der Hessischen Landesregierung
- Mitglied im steering committee des International Network of Lesbian and Gay Officials INLGO, Internationales Netzwerk von lesbischen und schwulen Mandatsträgern und Wahlbeamten
- Mitglied des Kuratoriums der Bundesstiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas"
- Mitglied des Kuratoriums der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"
- Weitere Mitgliedschaften: AIDS-Hilfe Köln, Arbeitskreis der Opferhilfen in der Bundesrepublik Deutschland e.V., Berlin, (Mitglied des Beirates), Informations- und Dokumentationszentrum für Anti-rassismusarbeit e.V. IDA (Mitglied des Beirats), Stiftung Deutsches Holocaust-Museum, Berlin, (Mit-glied des Kuratoriums), Humanistische Union, Bundesverband Informationund Beratung für NS-Verfolgte e.V