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György Konrád, derzeit sehen wir erschrocken nach Ungarn. Wie konnte es zu dieser Entwicklung seit der friedlichen Revolution kommen?
Die vergangenen Jahre waren eine demokratische und manchmal konfuse Zeit, laut an Konflikten - man hat schöne und unschöne Wörter gewechselt und ging hart miteinander ins Gericht. Alle Seiten haben hässliche Kampagnen geführt, nicht nur die Partei Fidesz von Viktor Orbán, auch die Sozialistische Partei, die Gegenseite, war kein Engel.Aber die politische Sprache war gemäßigt, es gab keine Gewaltausbrüche, niemand wollte die Spielregeln des Grundgesetzes ändern. Wir hatten eine demokratische Verfassung, vielleicht nicht die schönste, aber sie garantierte die Unabhängigkeit verschiedener Instanzen von der Regierung, darunter die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs oder die Unabhängigkeit der Presse. Es gab keine Probleme, die man mit einer revolutionären Rhetorik hätte lösen müssen.
Dieses neue Mediengesetz ist ein später Treppenwitz von Herrn Orbán, als er schon längst gewonnen und etwas mehr als die Hälfte der Wähler ihm ihre Stimme gegeben hatten. Aber die Beteiligung bei den letzten Wahlen war eher gering. Nicht Zweidrittel der Wähler, sondern nur Zweidrittel aller Abgeordneten stehen entsprechend unseres Wahlgesetzes zur Verteilung der Sitze von Abgeordneten nach einer Wahl hinter Orbán.
Welche Wirkungen zeigt das neue Mediengesetz schon jetzt in Ungarn?
Dieses Gesetz ist schlau formuliert. Im Gesetzestext findet sich ein Paragraf, der besagt, dass die Strafmaßnahmen erst ab der zweiten Jahreshälfte greifen werden. Also erst ab Juli 2011, nach Ende der EU-Ratspräsidentschaft.
Wie reagieren die Menschen, insbesondere Medienschaffende und Intellektuelle, darauf?
Die Intellektuellen, Medienleute, Künstler und Schriftsteller sind unglücklich und einige auch verängstigt, weil die Regierung seit dem Wahlsieg neben dem Mediengesetz auch zahlreiche weitere Gesetze verabschiedet hat. Darunter ein Gesetz, wonach alle Staatsbediensteten ohne weitere Begründung mit einer Kündigungsfrist von nur zwei Monaten entlassen werden können. Das bedeutet, dass Menschen von einem auf den anderen Tag einen Brief bekommen und ihre persönlichen Sachen packen und gehen müssen. Viele Menschen im Staatsdienst, deren Familien von nur einem Gehalt abhängig sind, denken jetzt sorgfältig darüber nach, was sie sich erlauben dürfen, weil sie im nächsten Monat arbeitslos sein könnten.
Diese Regierung geht nicht großzügig mit den Verlierern um, also mit den Menschen, die entlassen werden. Sie dürfen, und das ist unausgesprochener Konsens, keinen anderen guten Job mehr bekommen. Abseits des Staatsdienstes sollen sie kein nettes Leben mehr führen, kein Unternehmen würde diese Leute nehmen, weil die Unternehmen ganz genau wissen, dass sie Nachteile davon haben werden.
Wohin steuert die Orbán-Regierung Ihr Land?
Herr Orbán ist ein noch relativ junger Mann, von der Universität ging er direkt in die Politik und dachte und denkt, dass er innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der politischen Demokratie einen Einparteienstaat, einen Fidesz-Parteienstaat, aufbauen und dabei einige demokratische Institutionen als Kulisse bewahren kann.
Zum Beispiel den ungarischen Staatspräsidenten Pál Schmitt, der das Mediengesetz unterzeichnet hat. Ständig ist er Gegenstand von Spott und Satire. Pál Schmitt war ein guter Sportler, er spricht mehrere Sprachen und ist ein netter Herr mit guten Manieren. Er redet gerne davon, dass man die ungarische Sprache verteidigen sollte, aber seine Texte sind voller Rechtschreibfehler, deswegen lächelt man höflich darüber.
Aber Pál Schmitt hat keine eigene Substanz, er ist ein Parteisoldat von Fidesz - und Fidesz ist eine Organisation, bei der alle gehorsam sein müssen, sonst verlieren sie von einen auf den anderen Tag ihre Position. Fidesz ist eine One-Man-Show, Herr Orbán dirigiert sie und die anderen sind gezwungen, zu denken, dass es sich bei seinen Ideen, die meistens Schnapsideen sind, um geschichtsphilosophische oder wirtschaftsphilosophische Wahrheiten handelt.
Bislang fanden nur wenige größere Demonstrationen ungarischer Bürgerinnen und Bürger gegen die Maßnahmen der Orbán-Regierung statt. Trügt der Eindruck?
So ist es und so wird es noch eine Weile bleiben. Die älteren Leute, die schon einen Job haben, können nicht so einfach protestieren, weil sie wissen, dass sie dann morgen vielleicht arbeitslos sein könnten. So wurden die Menschen in den staatssozialistischen Jahren sozialisiert.
Aber es gibt noch eine weitere Haltung: Man denkt, wenn Herr Orbán so viel Unterstützung erhalten hat, dann sollte man ihm als Wahlsieger in einem demokratischen System auch Vertrauen schenken. Wenn wir eine Demokratie haben, sollten wir sie ernst nehmen und die Folgen respektieren.
Was glauben Sie würde die Menschen auf die Straße treiben?
Es gibt eine neue Welle des Widerstands, sie entwickelt sich langsam und kommt aus anderen, neuen Schichten: Sie geht von den Jüngeren aus, die sich schon an ihre Freiheiten gewöhnt haben. Sie wird in der zweiten Jahreshälfte stärker werden, wenn es infolge des neuen Mediengesetzes zu Bestrafungen kommt, die die Existenzgrundlage von Redaktionen zerstören können.
Wenn Leute ihren Beruf behalten möchten, etwa Journalisten, dann sind sie vorsichtig. Der Moderator Attila Mong hatte eine Schweigeminute im staatlichen Radioprogramm aus Protest gegen das Mediengesetz abgehalten und ist dafür entlassen worden. Viele Tageszeitungen erschienen mit leeren Titelblättern, die größte ungarische Tageszeitung erklärte auf ihrer Titelseite: „In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben“.
Die EU wird also in unser Land kommen und das neue Gesetz diskutieren wollen, aber die ungarischen Behörden werden sagen: „Lesen sie dieses Gesetz bitte sorgfältig durch, bis in die Details.“ Es sind 180 Seiten Gesetzestext. Ich schätze alle Personen sehr, die diesen Text vollständig durchlesen werden.
Wie sollten Ihrer Meinung nach die EU-Partner reagieren?
Ich denke, dass es – um es mit den Worten von Peter Frey, Chefredakteur des ZDF, zu sagen – ungewöhnlich grob wäre und keinen Konsens dafür gäbe, Ungarn das Ritual der EU-Ratspräsidentschaft zu entziehen. Aber man muss sich nicht zusammen fotografieren lassen, man muss kein süßes Lächeln austauschen und nicht still halten angesichts dieser Probleme. Man muss nicht alle „schlauen“ Erklärungen sofort akzeptieren.
Kürzlich hat beispielsweise ein früherer ungarischer Botschafter in Berlin gesagt, dass es notwendig gewesen sei, dieses Gesetz zu verabschieden, weil man keine antisemitischen Texte in den Medien dulden könne. Am selben Tag veröffentlichte der Chefredakteur der Zeitung Magyar Hírlap einen Artikel voll mit gemeinem, antisemitischem Vokabular. Diese Zeitung steht Fidesz nahe, und der Chefredakteur ist ein guter Freund von Herrn Orbán.
Der Westen tut gut daran, wenn er nicht alles glaubt und daran denkt, dass jedes Wort immer auch eine zweite Bedeutung hat.
Auch während der EU-Ratspräsidentschaft plant Orbán weitere Schritte: Im Frühjahr soll eine neue Verfassung verabschiedet werden.
Das könnte sehr schwer werden für dieses Land. Ich denke, man wird die Verfassung als „Parteiverfassung“ instrumentalisieren – es werden nur Fidesz-Leute die neue Verfassung formulieren, keine ernstzunehmenden Juristen werden sich daran beteiligen. Die Verfassung wird den Zwecken der Partei dienen.
Welche politischen Gestaltungsmöglichkeiten sehen Sie für die demokratische Opposition in Ungarn?
Das weiß ich noch nicht. Es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit. Aber die jungen Leute fangen langsam an, sich zu bewegen. Bislang galten rechte Ideen unter Jugendlichen als modisch, sogar rechtsextremistisches Gedankengut - aber jetzt geht das Pendel in die andere Richtung. Das Mediengesetz verärgert die jungen Leute, weil es für Langeweile und blöde, falsche Texte steht.
Was erwarten Sie von der grünen Partei LMP („Lehet Más a Politika“ / „Politik kann anders sein“)?
Relativ wenig. Bislang waren sie sehr vorsichtig. Aber bei der Diskussion zum Mediengesetz haben sie eine gute Rolle gespielt. Auch die Sozialisten tun das, und sogar die rechtsextremistische Partei Jobbik ist in der Opposition. Manchmal ist Jobbik dazu gezwungen, relativ demokratische Argumente gegen die Fidesz-Vollmacht zu benutzen.
Wie sollte Ihrer Meinung nach die demokratische Öffentlichkeit außerhalb Ungarns agieren?
Sie sollte ihre Augen offen behalten, nicht blauäugig sein. Sie sollte aber auch keine Pauschalurteile haben gegen unser Land. Ein Großteil der Gesellschaft war nicht unter den Orbán-Unterstützern, und ich glaube, dass man viel lernen kann von unserem Fall. Er ist eine Art „Fallstudie“, weil es diesen unterschwelligen Populismus überall in Europa gibt, auch in Deutschland oder Frankreich. Vielleicht ist er jetzt erst mal nach Ungarn gekommen.
Herr Konrád, herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Karoline Hutter.
Der ungarische Schriftsteller György Konrád wurde 1933 als Sohn einer jüdischen Familie in Ungarn geboren. Im Jahr 1944 entging er nur knapp seiner Verhaftung durch Nationalsozialisten und ungarische Pfeilkreuzler, die ihn ins Konzentrationslager Auschwitz deportieren wollten. Gemeinsam mit seinen Geschwistern tauchte er bei Verwandten in Budapest unter. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs studierte er Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie und wurde in Ungarn zu einem der intellektuellen Wortführer. Seit 1969 erscheinen Romane und Essays. 1991 wurde György Konrád mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, er hat außerdem u.a. den Karlspreis 2001 und den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis erhalten. Von 1997 bis 2003 war er Präsident der Akademie der Künste in Berlin.