"Menschenrechte können auch nicht beliebig exportiert werden"

Lesedauer: 6 Minuten
Gesa Lindemann während des Podiums "Menschenrechte als Kulturimperialismus?".
Foto: Stephan Röhl. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons Lizenz.

 

29. März 2010
Frau Lindemann, wie lässt sich die Universalität von Menschenrechten überzeugend begründen?

Es ist nicht gut möglich, die Universalität von Menschenrechten zu begründen. Dass alle Menschen gleich und frei an Rechten sind, ist eine Auffassung, die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa und im Gebiet der heutigen USA durchgesetzt hat. Selbst da war es noch fraglich, wer genau zu den Menschen gehört, die in dieser Weise gleich und frei sind. Dass sich das durchgesetzt hat, hängt eng mit einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung zusammen.
 
Wir setzen heute voraus, dass jeder individuelles Eigentum hat, dass man problemlos den Ort wechseln kann, um eine neue Arbeitsstelle anzutreten, oder dass jede, wenn sie die Fähigkeiten hat, jeden Beruf ergreifen kann. Wenn jemand trotz angemessener Qualifikation eine Stelle nicht bekommt, liegt immer der Verdacht nahe, dass ein Fall von Diskriminierung vorliegt. Es ist für uns auch selbstverständlich, dass man Grundeigentum verkaufen kann. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Individuen unglaublich mobil zu sein haben. Sie sind nicht an ihren Ort gebunden, sie sollten zumindest auch nicht an ihre familiäre Herkunft gebunden sein, denn sozialer Aufstieg wird sehr positiv bewertet.
Ohne diese Mobilität könnte die moderne Gesellschaft mit ihrer kapitalistischen Wirtschaft nicht funktionieren. Aus diesem Grund braucht die moderne Gesellschaft Institutionen, die die individuelle Freiheit und die Würde des individuellen Menschen schützen. Nur wenn das gewährleistet ist, kann dieses Gesellschaftsmodell funktionieren.

Andere gesellschaftliche Ordnungen benötigen andere normative Institutionen. Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der die Individuen an ihren Ort gebunden sind. Grundeigentum kann nicht frei veräußert werden. Die Herkunft legt weitgehend fest, welchem Stand jemand angehört. In einer solchen Gesellschaft kann es keine Würde geben, die für alle gleichermaßen gilt. Denn Würde und Freiheit unterscheiden sich je nach Stand. Einem Bauern kommt eine andere Würde zu und er hat andere Freiheiten als ein Adliger oder ein Priester. Das christliche Europa hat zwar auch vor dem 18. Jahrhundert die Idee entwickelt, dass alle Menschen gleich seien vor Gott, aber das war beschränkt auf den Jenseitsbezug. Für die Organisation des staatlichen Zusammenlebens war diese Gleichheit nicht so wichtig. Sie war vielmehr sehr gut vereinbar mit Standesunterschieden.
Da die Menschenrechte an eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gebunden sind, die man in der Soziologie als funktionale Differenzierung bezeichnet, können Menschenrechte auch nicht beliebig exportiert werden. Afghanistan ist ein gutes Beispiel. Nach allem, was man aus der Ferne sagen kann, ist dort nicht das Individuum die zentrale Einheit, sondern der Familienzusammenhang. Eine um das Individuum herum aufgebaute gesellschaftliche Ordnung, existiert dort nicht. Um den Menschenrechten gesellschaftlich Geltung zu verschaffen, müsste zugleich diese traditionelle Ordnung zerstört werden. Solange nicht das Individuum als solches im Mittelpunkt der gesellschaftlich gültigen Moralordnung steht, bleibt die Idee der Menschenrechte ein Fremdkörper.

Sie beschäftigen sich unter anderem mit der Frage, inwieweit Kollektivrechte bestimmter sozialer Gruppen, wie zum Beispiel von Religionsgemeinschaften, im Widerspruch zu den Individualrechten von Einzelpersonen stehen.
Wo sehen Sie die größten Probleme bei der Vereinbarkeit dieser unterschiedlichen Rechtsverständnisse?

Diese Frage schließt direkt an meine vorherigen Ausführungen an. Wenn man eine Gesellschaft anschaut, muss man sich fragen, wo der Schwerpunkt der institutionellen moralischen Ordnung liegt. Liegt er auf der religiösen Gemeinschaft oder auf der Seite des Individuums. Es gibt Gesellschaften, in denen der Schwerpunkt eindeutig auf der religiösen Gemeinschaft liegt. Im Extremfall ist auch eine religiöse Orientierung für alle verbindlich vorgeschrieben. Das historische Beispiel hierfür ist das katholische Europa vor der Reformation. Es gibt einen verbindlichen Glauben für alle. Wer diesem nicht folgt, oder Abweichungen propagiert, riskiert sein Leben. Es hat lange Zeit gedauert, bis in Europa im Konflikt der Religionen die Freiheit durchgesetzt wurde, dass jeder Mensch sich für die eine oder die andere Religion entscheiden kann. Religions- und Gewissensfreiheit gehören zum Kernbestand der Menschenrechte.
Unter dem Schutz der Menschenrechte steht der diesseitige in einem biologischen Sinn lebendige Mensch. An was dieser glaubt, in welcher Kultur er lebt, wie er sein Liebesleben gestaltet, darf nicht von einer Gruppe gegen seinen Willen bestimmt werden. Dies wäre eine Verletzung der Menschenrechte.

Wenn das Individuum zum unbestrittenen Bezugspunkt der gesellschaftlich verbindlichen moralischen Ordnung geworden ist, stellt sich das Problem wieder anders. Jetzt muss garantiert werden, dass weder das Geschlecht, noch die geschlechtliche Identität noch die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft oder einer ethnischen Gruppe zu einer Diskriminierung führt. Einen Widerspruch zwischen Gruppenrechten und Individualrechten sehe ich nicht. Denn die Individualrechte sind grundsätzlich höher zu bewerten.

Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Gruppenrechte, z.B. zum Schutz von Minderheiten, in einem UN-Menschenrechtssystem einnehmen und wie könnten hier am besten Individual- und Gruppenrechte zu einem besseren Schutz vor Menschenrechtsverletzungen miteinander verbunden werden?

Generell sollten Gruppenrechten nicht über Individualrechten stehen. „Gruppenrechte“ sind nur dann sinnvoll, wenn Individuen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit benachteiligt werden. Dann muss für diese Diskriminierung ein Ausgleich geschaffen werden. Es handelt sich hierbei aber immer um Rechte des Individuums. In keinem Fall darf ein Gruppenrecht ein Individualrecht einschränken.
Es gibt allerdings doch problematische Fälle. Dazu gehören z.B. die kollektiven Rechte indigener Gruppen am eigenen Land und den in diesem Land lebenden Organismen. Warum sollte man hier an der vormodernen Einrichtung des Kollektiveigentums festhalten? Warum sollte man diese Rechte gegen das Recht zur individuellen Aneignung stellen. Das Recht zur individuellen Aneignung wäre aber auch die Voraussetzung dafür, dass das Land und seine genetischen Ressourcen von Agrar- Chemie- und Pharmakonzernen gekauft bzw. genutzt wird. Soll man aus einer menschenrechtlichen Perspektive den kollektiven Landbesitz ermöglichen oder nicht? Die Vereinten Nationen haben sich dafür entschieden in einigen Fällen kollektives Eigentum zu schützen.

Ist so ein Vorgehen sinnvoll und dauerhaft mit dem Menschenrechtsethos zu vereinbaren? Oder handelt es sich um einen Fremdkörper im Menschenrechtsgefüge, der wieder ausgeschieden werden sollte? Wenn man hier weiterkommen möchte, muss man grundsätzlich die Frage nach Gemeingütern in einer menschenrechtlichen Perspektive aufwerfen. Dies ist bislang zu wenig erfolgt. Es gibt Güter, die wir alle brauchen, um überhaupt überleben zu können. Dazu gehören Luft, Wasser und – in Anbetracht der Erderwärmung nicht unwichtig – ein trockener Platz zum leben. Diese Bedingungen zu haben, sind die Voraussetzung dafür, überhaupt leben und damit ein freies menschliches Individuum sein zu können. Man muss sich über ein Minimum an materiellen Voraussetzungen des menschlichen Lebens verständigen, die notwendigen Gemeingüter der Menschheit. Dies wird eine der großen Aufgaben der Zukunft sein. Wenn das Ergebnis ist, dass etwa ein Mindestmaß an Biodiversität zu den notwendigen Gütern der Menschheit gehört, gäbe es gute Gründe es zu unterbinden, dass diese Güter privat angeeignet werden. Im Rahmen so einer Entwicklung könnten indigene Völker, die ein kollektives Rechte an Land und nichtmenschlichem Leben haben, als Treuhänder der Menschheit begriffen werden. Aber auch in diesem Fall handelt es sich nicht um das Recht einer partikularen Gruppe auf Kollektiveigentum. Vielmehr würde diese Gruppe Güter für die Menschheit verwalten, damit sie nicht durch individuelle Aneignung zerstört werden.


Die Fragen stellte Renko Recke, Heinrich-Böll-Stiftung, März 2010.

 
 

Dossier:

» Der Mensch - seine Würde - seine Rechte