Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer verbreitete am 8. März in der Berliner Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung bei seiner Präsentation der neuesten Ergebnisse des Forschungsprojekts Deutsche Zustände kaum Optimismus: Die Finanzkrise des letzten Jahres hat die sozialen Abstiegsängste in Deutschland noch einmal erheblich verstärkt. Immer mehr sind davon überzeugt, dass wir uns Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness für alle nicht länger leisten können. Die Vorstellung von der Gleichwertigkeit der Menschen ist offenbar keine Selbstverständlichkeit mehr.
Die Verunsicherung wächst
In der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" beobachtet das von Wilhelm Heitmeyer geleitete Soziologen-Team des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld seit 2002 die Entwicklung von Vorurteilen gegen schwache Gruppen. Die Ergebnisse der repräsentativen Umfragen sind keineswegs immer negativ: In der Vergangenheit beobachteten die Wissenschaftler z.B. einen leichten Rückgang von Fremdenfeindlichkeit und Sexismus. Auch diesmal hatte Wilhelm Heitmeyer nicht nur schlechte Nachrichten. So sei der Antisemitismus in der Bevölkerung nicht gestiegen, obwohl es seit der Finanzkrise neue Vorurteile gegen "jüdische Banker der amerikanischen Ostküste" gebe.
Der Abschwächung einzelner Vorurteile sollte nach Überzeugung von Heitmeyer aber nicht darüber hinweg täuschen, dass seit Jahren ein Besorgnis erregender Anstieg der Verunsicherung und Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu beobachten sei. Die Weltwirtschaftskrise habe diesen Trend noch einmal verstärkt, obwohl deren konkrete Folgen bisher nur eine Minderheit direkt betreffen. Die Wut auf die Verantwortlichen mische sich dabei mit wachsender Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg.
Viele Menschen reagieren auf die Krise, indem sie Heitmeyer zufolge eine pessimistische Erwartungshaltung gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung einnehmen und zugleich auf der Vorstellung eines vermeintlich intakten privaten Umfelds beharren. Durch diese Differenzierung werde die gesellschaftliche Krise in Deutschland gewissermaßen "privatisiert". Die aktuelle Studie hat ergeben, dass über 90 Prozent der Befragten in Zukunft mehr soziale Abstiege und Armut fürchten. Drei Viertel der Bevölkerung glaubt, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit Schwachen verringert. Ein Drittel meint, dass wir es uns in der Wirtschaftskrise nicht mehr leisten können, allen Menschen gleiche Rechte zuzugestehen. 61 Prozent sind der Ansicht, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden müssen. Gerade in der verunsicherten Mittelschicht gibt es offenbar zunehmend ein Bedürfnis nach Abgrenzung. Schwache soziale Gruppen, z. B. Langzeitarbeitslose, werden für ihr eigenes Schicksal verantwortlich gemacht, auch um die Möglichkeit des eigenen Scheiterns von sich zu weisen.
Die ernüchternden Umfragewerte lassen nach Ansicht von Wilhelm Heitmeyer den Schluss zu, dass die Kernnormen Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness in der Mitte der Gesellschaft immer weniger Anklang finden. Es drohe eine zunehmende Erosion der demokratischen Basis. Sollte sich eine "Ideologie der Ungleichwertigkeit" ausbreiten, sei ein starker Anstieg der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu befürchten.
Aufstieg der neuen Rechtspopulisten
Die Entsolidarisierung der Gesellschaft wird Wilhelm Heitmeyer zufolge immer stärker von einem Gefühl politischer Machtlosigkeit begleitet. Auch hier hatte der Soziologe zunächst eine positive Botschaft: Die Wut bleibe in Deutschland vorerst privat und führe nicht zu gewalttätigen Unruhen oder vermehrter offener Gewalt gegen schwache Gruppen. Der Wille zur Konfrontation der politisch Verantwortlichen sei allerdings ebenfalls nur gering ausgeprägt. Gerade bei Menschen aus der unteren Soziallage sei die Bereitschaft stark gesunken, sich überhaupt noch aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Stattdessen habe sich eine "wutgetränkte politische Apathie" ausgebreitet, von der vor allem der neue Rechtspopulismus profitiere. Heitmeyer berichtete von einer Dortmunder Veranstaltung, auf der Angehörige der Autonomen Nationalisten durch diszipliniertes und geschlossenes Auftreten beeindruckt hätten. Die gefährliche Überzeugungskraft der neuen Rechten entspringe nicht zuletzt einer Beschreibung gesellschaftlicher Realität, die auch er "jederzeit unterschreiben" könne, so Heitmeyer.
Der Aufstieg der neuen Rechtspopulisten in Deutschland ist Teil eines europäischen Phänomens, wie Wilhelm Heitmeyer unter Verweis auf eine aktuelle Vergleichsstudie feststellte. Rechtspopulistische Parteien seien z.B. in den Niederlanden oder in Ungarn auch an den Wahlurnen sehr erfolgreich. In Deutschland fehle den Rechtspopulisten bisher "glücklicherweise" ein charismatischer Anführer, so Heitmeyer. Albrecht von Lucke, Redakteur der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, stellte daraufhin die Frage, ob ein derartiger "Mobilisierungsexperte" für den politischen Siegeszug rechtspopulistischer Überzeugungen überhaupt notwendig sei. Während sich Heitmeyer nur zurückhaltend zu der von FDP-Chef Guido Westerwelle angestoßenen Debatte über den deutschen Sozialstaat äußerte, wies von Lucke auf Parallelen zwischen der Rhetorik Westerwelles und der des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders hin. Westerwelles Antwort auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz-IV-Gesetz sei ein Ausdruck von "Demokratieverachtung". Westerwelles Äußerungen seien Teil eines Versuchs, soziale Ungleichheit gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Wie sehr sich die Debatte in Deutschland bereits verschoben habe, sei daran abzulesen, dass sich sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch ZEIT-Chefredakteur di Lorenzo vor allem von der Rhetorik, nicht aber vom Inhalt der Aussagen Westerwelles distanziert hätten.
Politische Verantwortungslosigkeit
Wilhelm Heitmeyer wies darauf hin, dass auch Politiker, die inhaltlich nicht mit Westerwelle übereinstimmen, bisher weitgehend desinteressiert auf die wachsenden sozialen Abstiegsängste in der Mitte der Gesellschaft reagieren. Ein Grund sei, dass die Betroffenen der Krise dank ihrer individuellen Anpassungsstrategien den politischen Betrieb nicht wirklich stören. Der Rückgang der politischen Partizipation, der z. B. in der schwindenden Wahlbeteiligung von Menschen aus unteren Soziallagen zum Ausdruck komme, werde nicht als Problem erkannt. Heitmeyer berichtete, dass Politiker seine Analysen lieber entrüstet zurückgewiesen hätten, als das Ausmaß der sozialen Desintegration anzuerkennen. ("In einigen Bundesländern haben wir keine Freunde mehr") Bei der Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen werde dies besonders deutlich: "Politische Eliten haben keinen blassen Schimmer, wie zerstörerisch Arbeitslosigkeit ist."
Wege aus dem Dilemma
Wilhelm Heitmeyer versuchte immer wieder, den insgesamt durchaus pessimistischen Grundton seiner Ausführungen zu konterkarieren, indem er auf Möglichkeiten zum Gegensteuern hinwies. Er selbst sei zum Beispiel dazu übergegangen, Politikern vermehrt Sozialraumanalysen für ihren konkreten Verantwortungsbereich vorzulegen, um Ausflüchte zu erschweren. Auf zivilgesellschaftlicher und kommunalpolitischer Ebene sei es wichtig, den Kampf gegen den neuen Rechtspopulismus nicht auf die Jugendarbeit zu reduzieren. Gefährliche Wertmuster würden oft gerade von Angehörigen der älteren Generation reproduziert, so Heitmeyer. Es sei auch falsch, Rechte kategorisch auszugrenzen, ohne sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Eine weitere Entsolidarisierung der Gesellschaft werde allerdings kaum aufzuhalten sein, wenn die strukturellen Ursachen der Krise nicht verstanden werden, fürchtet Heitmeyer. Die internationale Ökonomisierung gehe seit Jahren mit einem politischen Kontrollverlust einher, der die soziale Integrationsleistung der Politik immer schwieriger werden lässt. Die Fiskalkrise des Staates habe sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise des letzten Jahres noch einmal erheblich verschärft. Der soziale Frieden in Deutschland werde sich nicht mehr lange durch ein Staatsdefizit erkaufen lassen. Die "leere Regulationsrhetorik" der Politik ließ Heitmeyer allerdings befürchten, dass das Platzen einer neuen Finanzblase nur eine Frage der Zeit sei.