Indien: Proteste und Debatten nach dem Vergewaltigungsfall

Ein Plakat der Bas Aur Nahi Bewußtsein Kampagne, Quelle: Delhi Police, Copyright: Special Police Unit for Women & Children

17. Januar 2013
Dr. Axel Harneit-Sievers
Der Tod einer 23-jährigen Studentin, die am Abend des 16.12.12 in Süd-Delhi durch eine Gruppe von sechs Männern in einem fahrenden Bus vergewaltigt und dabei so brutal misshandelt wurde, dass sie am 29.12.12 ihren schweren Verletzungen erlag, hat Indien und die ganze Welt bewegt. Delhi und andere Städte Indiens erlebten eine Welle des Protests, die in den ansonsten eher nachrichtenarmen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr auch internationale Schlagzeilen machte.

Gewalt gegen Frauen ist in Indien ein endemisches Problem. Sie wurde dort in der Vergangenheit durchaus immer wieder zum Thema öffentlicher Debatten und auch politischer Initiativen. Doch insgesamt wurde Gewalt gegen Frauen durch die Politik und durch eine von patriarchalischen Werten dominierte Öffentlichkeit viel zu wenig ernst genommen. Das Novum an dem Fall vom 16.12.12 ist die große Aufmerksamkeit, die dieser erhielt. Sie lässt hoffen, dass die indische Gesellschaft entschiedenere politische und institutionelle Schritte unternehmen wird, um die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum zu gewährleisten.

Der Prozess hat begonnen
In der zweiten Januarwoche 2013 begann in Delhi der Prozess gegen fünf der Täter; im sechsten Fall wird noch die Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts geprüft. Die Anklage wirft den Tätern vorsätzlichen Mord vor; damit sind Todesurteile möglich und angesichts öffentlicher Erwartungen auch durchaus wahrscheinlich. Das Verfahren wurde unter Hochdruck eröffnet, basierend auf einer innerhalb weniger Tagen fertig gestellten, angeblich 1000 Seiten umfassenden Anklageschrift. Es ist noch nicht absehbar, wie lange das Verfahren dauern wird. Erwartungen in der Öffentlichkeit nach einer schnellen Aburteilung werden sich vermutlich nicht erfüllen. Momentan zumindest scheinen die berechtigten Forderungen nach einer konsequent und zügig arbeitenden Justiz nicht auf Kosten der rechtsstaatlichen Substanz des Verfahrens zu gehen.

Die Öffentlichkeit ist vom Gerichtssaal ausgeschlossen worden. Derzeit werden nur eher summarische Informationen über den Prozessverlauf bekannt. Dies, und neue Spannungen an der indisch-pakistanischen Grenze, haben den Vergewaltigungsfall inzwischen aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch Mitte Januar 2013, einen Monat nach dem Vorfall, beschäftigen sich die Medien weiterhin intensiv mit dem Thema „Gewalt gegen Frauen“ in seinen verschiedensten Dimensionen. Die gewachsene Aufmerksamkeit für das Problem wird dadurch dokumentiert, dass wesentlich mehr als in der Vergangenheit über aktuelle Fälle von Vergewaltigungen und andere Übergriffe gegen Frauen berichtet wird. Durch das laufende Gerichtsverfahren wird der Fall über die nächsten Monate hinweg weiter große Aufmerksamkeit erhalten und vielfältige Debatten befördern.

Dabei geht es natürlich auch, aber nicht nur allein darum, durch administrative und polizeiliche Maßnahmen die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum in den Städten Indiens zu verbessern. Der Vergewaltigungsfall hat zahlreiche grundsätzlichere Fragen aufgeworfen: zur Alltäglichkeit von Gewalt gegen Frauen in Indien und ihrer Marginalisierung in vielen Lebensbereichen; und zum Spannungsverhältnis zwischen ländlich-traditionellen und urban-modernen Wertvorstellungen und (damit verbunden) Geschlechterbeziehungen in einer sich rasch wandelnden, zunehmend polarisierten Gesellschaft. Er hat auch deutlich gemacht, dass sich neue Formen politischer Mobilisierung in Indien Geltung verschaffen.

Protest und Mobilisierung
Wenige Tage nach dem Verbrechen begannen Mahnwachen und Protestversammlungen, zum Beispiel auch vor dem Safdarjung-Krankenhaus in Delhi, in das das Opfer eingeliefert worden war. Anfangs waren es vor allem junge Leute, viele von ihnen aus Delhis Universitäten, die mithilfe von SMS und Facebook die Kampagne organisieren. Aber schon bald wurden die Proteste und die Indien-weite Empörung über den Fall vor allem durch eine intensive Berichterstattung des Fernsehens vorangetrieben – und zwar in einer Intensität, die für das Thema „Gewalt gegen Frauen“ wohl nicht nur in Indien beispiellos ist.

Empörung und Wut der Demonstranten – darunter viele junge Leute und Angehörige der urbanen Mittelschicht – entzündeten sich zum einen an der Brutalität der Tat, über die immer mehr bekannt wurde, weil die junge Frau zwar äußerst schwer verletzt, aber bei Bewusstsein war und gegenüber der Polizei aussagen konnte, Tatsächlich konnten die Täter aufgrund ihrer Aussagen und der ihres Freundes, der ebenfalls verletzt worden war, in kurzer Zeit verhaftet werden.

Zum anderen drückten die Demonstrationen den Protest gegen die verbreitete generelle Unsicherheit und sexualisierte Gewalt aus, denen sich Frauen gerade in Nord-Indien seit langem ausgesetzt sehen. Sie richteten sich insbesondere gegen die unzureichenden Reaktionen staatlicher Stellen, die zahllosen verbalen und tätlichen Übergriffen (verharmlosend „Eve-teasing“ genannt) nicht entgegenwirken und selbst Fälle manifester sexualisierter Gewalt oft nicht ernst nehmen. Verbreitete patriarchalische Geisteshaltungen machen es für Vergewaltigungsopfer schwierig, Unterstützung der Polizei zu erhalten; Gerichtsverfahren sind schwerfällig und Verurteilungen selten. Auch legen solche patriarchalische Geisteshaltungen dem Opfer oft selbst die Verantwortung für das Verbrechen zur Last, und dies wirkt in staatliche Institutionen hinein, selbst wenn die Gesetzeslage in Indien anderes vorschreibt.

Die mangelnde Sensibilität und Reaktion, die staatliche Stellen und manche Kommentare gerade in den ersten Tagen zeigten, und das kontinuierliche Bekanntwerden neuer grausamer Details des Verbrechens führten zur Eskalation der Proteste. Sie kulminierten in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei am 23.12.12 im Regierungsviertel, in deren Folge auch ein Polizist starb.
Die Regierung hatte ganz offenkundig die Dynamik der Protest wesentlich unterschätzt. Am folgenden Tag gab Premierminister Manmohan Singh eine Erklärung ab, in der er seiner Betroffenheit Ausdruck gab und zur Ruhe mahnte. Die Stadtregierung von Delhi unter Chief Minister Sheila Dikshit kündigte ein Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Frauen auf den Straßen der Hauptstadt an. Außerdem wurden Untersuchungen zur Frage polizeilichen und juristischen Versagens in Vergewaltigungsfällen eingeleitet.

Als sich der Gesundheitszustand des Vergewaltigungsopfers am 26.12.12 dramatisch verschlechterte, ließ die Regierung die junge Frau in eine Spezialklinik nach Singapur ausfliegen, wo sie drei Tage später starb. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren offenkundig weniger medizinische Gründe als die Furcht vor weiter eskalierenden Protesten im Falle ihres Todes. (1) Die Einäscherung in Delhi erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter starken Sicherheitsvorkehrungen.

Mobilisierungsmuster
Der Fall erhielt eine enorme Aufmerksamkeit, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er in mancher Hinsicht untypisch war.
Wie in anderen Teilen der Welt, so werden auch in Indien die große Mehrzahl von Vergewaltigungen in der familiären oder nachbarschaftlichen Sphäre begangen. In diesem Fall jedoch traf es eine junge Frau als beinahe zufälliges Opfer im öffentlichen Raum, und zwar in Süd-Delhi, einem Teil der Stadt, in dem sich moderne und urbane Lebensweisen in Indien vielleicht am ehesten leben lassen.
Dass die Tat um neun Uhr abends stattfand – in einem auf einer Hauptstraße fahrenden Bus, der offenbar mehrere Straßensperren der Polizei durchquerte – trug ebenfalls zum Eindruck bei, dass es „jeden von uns“ hätte treffen können.

Die extreme Brutalität der Tat schockierte ebenso wie die Tatsache, dass die Täter aus einem kleinen Slum in einem ansonsten respektablen Viertel stammten; all dies schien verbreitete Stereotypen über die Unberechenbarkeit und Neigung zur Gewalttätigkeit zu bestätigen, die weithin aus der Unterschicht stammenden Männern aus dem Umland Delhis nachgesagt werden.

Die moralische Bewertung des Falls zumindest in der englischsprachigen Öffentlichkeit war praktisch einmütig; reaktionäre Stimmen, die dem Opfer eine Teilschuld zuzuschreiben oder die Proteste herabzuwürdigen suchten, wurden von allen Seiten vehement angegriffen.
Das Opfer der Vergewaltigung wurde zu einem nationalen Symbol. Die junge Frau wurde als „Braveheart“ gefeiert, die sich verzweifelt, wenn auch letztlich erfolglos zunächst gegen die Vergewaltigung und dann gegen ihr Sterben wehrte. Nach ihrem Tod wurde sie als „Tochter Indiens“ betrauert. Ihr Schicksal hat das Land in einer Weise bewegt, wie es die zahllosen Fälle von Vergewaltigung von Frauen aus ländlichen Unterschichten nie geschafft haben.

Die enorme Aufmerksamkeit und Mobilisierung durch den Vergewaltigungsfall überraschten nicht nur die anfangs offenkundig überforderten staatlichen Stellen, sondern auch die organisierte Zivilgesellschaft. Offenkundig bildete die oft als eher apolitisch gescholtene neue Mittelschicht den Kern des Protests: Sie kritisiert Korruption und das Versagen staatlicher Institutionen und Politiken in Indien und verfolgt zugleich neue Lebensentwürfe, wenn auch oft eher vorsichtig und mit manchen Widersprüchen, etwa wenn es um die verbreitete Präferenz von Söhnen über Töchter geht.

Die junge Frau – das Opfer – wurde für viele junge Leute und die wachsenden Mittelklasse generell zur Identifikationsfigur. Sie stammte aus einer eher armen Gemeinschaft in Uttar Pradesh. Durch ihre Familie nach Kräften unterstützt, war sie nach Delhi gekommen, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen. Dass sie an einem Sonntagabend nach einem Kinobesuch mit ihrem Freund einen Bus nach Hause nehmen wollte, stellt zumindest in diesem sozialen Milieu keinen Skandal mehr dar.

Dass jetzt plötzlich Gewalt gegen Frauen zum Gegenstand einer solch breiten Mobilisierung wurde, ist tatsächlich ein Novum in der indischen Politik. Aber es ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte des Landes, dass sich die Mittel-klasse politisch deutlich zu Wort meldet und medial und mit Straßenprotesten breitenwirksam mobilisiert.

2006 kam es zu vielleicht erstmals zu diesem neuen Typ von Protest, als nach einem sich über sieben Jahren hinschleppendem Ermittlungs- und Gerichtsverfahren der Mörder von Jessica Lal freigesprochen wurde. Der Mörder war Sohn eines einflussreichen Politikers. Nach den Protesten, mit Mahnwachen am India Gate und Medienkampagnen, wurde das Urteil revidiert, und der Mörder erhielt eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Der damalige Fall enthielt kein Element sexualisierter Gewalt; der Protest richtete sich primär gegen Korruption im juristischen System.

Dies war auch das Thema der Kampagne Anna Hazares im Jahr 2011, der mit einem Hungerstreik das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zur Einrichtung einer Antikorruptionsbehörde („Lokpal“) zwingen wollte und dabei – medial unterstützt – seine Breitenwirkung gerade auch durch Mobilisierung der neuen städtischen Mittelklasse erzielte. Am Ende scheiterte die entsprechende Gesetzgebung Ende 2011 im Parlament, doch bleibt das Thema weiter aktuell.

Die jüngsten Proteste reihen sich damit in eine Reihe von Bewegungen ein, die wesentlich außerhalb des etablierten Spektrums politischer Parteien oder sozialer Bewegungen in Indien stattfinden. Ihnen gemeinsam ist ihre soziale Basis in der Mittelschicht sowie ein starkes Element medialer Vermittlung. Die Beispiele folgen ansonsten durchaus unterschiedlichen Mustern: Die Kongresspartei sah hinter Anna Hazares Kampagne eine geheime Agenda der konservativen Opposition; nicht wenige Stimmen aus der indischen Linken denunzierten die Kampagne als bloß mittelklassenbasiert und damit nicht wirklich progressiv. Solche parteipolitische Instrumentalisierung ist bei den Protesten gegen die Vergewaltigung bislang weitgehend ausgeblieben.

Die aktuellen Proteste sollten nicht als indische Version des „arabischen Frühlings“ missverstanden werden, wie dies in Teilen der internationalen Presse geschehen ist. Bei aller Kritik an Fehlleistungen staatlicher Institutionen und der Politik stellen sie die grundsätzliche Legitimität des indischen politischen Systems nicht infrage. Stattdessen präsentieren sie sich als exemplarische, innovative Ausdrucksform der indischen Demokratie, die die Regierung und die politischen Parteien zu ihren Themen „vor sich her treiben“, ohne dabei die Machtfrage zu stellen.

Debatten und Konsequenzen
Rufe nach rascher und radikaler Aburteilung der Täter – zum Beispiel die Forderungen nach schnellen Todesurteilen gegen die Mörder vom 16.12.12 oder nach „chemischer Kastration“ von Vergewaltigern generell – dominierten die öffentliche Diskussion im Dezember. Solche Rufe nach Rachejustiz kamen von der Straße ebenso wie von politischen Parteien. Angesichts der Tatsache, dass der (vermutlich) einzige Minderjährige unter den Tätern mit der größten Brutalität vorgegangen sein soll, wurde sogar die Herabsetzung des Alters, ab dem ein Gericht Todesurteile verhängen darf, auf 16 Jahre gefordert. Es gab nur sehr vereinzelt öffentliche Rufe, die sich grundsätzlich gegen die Todesstrafe aussprachen, unter anderem auch deshalb, weil ihre Abschreckungsfunktion nicht nachweisbar sei, etwa von der bekannten Anti-Nuklear-Aktivistin Lalita Ramdas (2) oder von der EU-Kommission in Delhi (3).

Mit der Einrichtung von „Fast Track Courts“, die sich ausschließlich mit Vergewaltigungsfällen befassen, hat die Regierung schnell auf öffentlichen Druck nach einer Beschleunigung von Gerichtsverfahren reagiert. Allerdings scheinen sie vor allem durch Umschichtung vorhandener Ressourcen im Gerichtswesen geschaffen worden zu sein, wodurch es zur weiteren Verlängerung bei anderen Straftaten zu kommen droht (4).

Am 15.1.13 verhängte eines dieser neuen Gerichte in Delhi ein erstes Todesurteil für einen knapp zwei Jahre zurückliegenden Vergewaltigungs- und Mordfall.(5) Es bleibt abzuwarten, ob solche Todesurteile juristisch Bestand haben werden. In den letzten Jahren jedenfalls hat die juristische Praxis in Indien Todesurteile auf extreme Einzelfälle („rarest of rare“) zurückgedrängt, und in fast allen Fällen wurden ergangene Todesurteile später in lebenslängliche Gefängnisstrafen umgewandelt. Als einziger bekannter Fall der letzten Jahre war am 21.11.12 der einzige überlebende Täter des Terror-Angriffs auf Mumbai im November 2008 hingerichtet worden.

Derweil unternimmt die Administration in Delhi verschiedenste Schritte, die die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum und vor allem in öffentlichen Transportmitteln verbessern sollen bzw. hat solche Schritte angekündigt. Das Spektrum reicht von verschärften Kontrollen im Straßenverkehr und verbesserte Überwachung öffentlicher Verkehrsmittel über die Einrichtung von Notruftelefonnummern bis hin zur verstärkten Präsenz weiblicher Sicherheitskräfte im öffentlichen Raum und auf Polizeistationen, was es betroffenen Frauen zukünftig leichter machen soll, sich an die Polizei um Hilfe zu wenden. Ob die gewachsene Aufmerksamkeit für Fragen der Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum und die gestiegene Sensibilität für das Problem verbaler oder tätlicher Belästigung von Frauen sich tatsächlich in dauerhafte Verbesserung umsetzt, bleibt abzuwarten.

Es wäre schon etwas gewonnen, wenn das Risiko für Frauen im öffentlichen Raum in Delhi und ihre seit dem Verbrechen vom 16.12.12 weiter gewachsene Furcht durch sichtbare Sicherheitsmaßnahmen effektiv gemindert wird – und wenn in den Köpfen der zahlreichen Männer, für die „Eve-teasing“ bislang eine beinahe selbstverständliche Freizeitbeschäftigung darstellt, ein Umdenken einsetzt.
Manche Stimmen leiten aus dem Fall Forderungen nach weitergehenden gesetzlichen oder politischen Reformen ab.

Die relevanten Straftatbestände werden in Indien durch Gesetze erfasst, die noch aus der Kolonialzeit stammen. Neben dem relativ eng definierten Straftatbestand der Vergewaltigung gibt es die breitere, aber geringer strafbewehrte Kategorie der sexuellen Belästigung bzw. des sexualisierten Übergriffs, die unter der archaischen Begrifflichkeit „outraging the modesty of women“ durch ein Gesetz von 1860 erfasst wird. Zwar hat die Rechtsprechung der letzten Jahre diese juristischen Kategorien aktuellen Entwicklungen anzupassen versucht, aber das Verbrechen vom 16.12.12 verleiht Forderungen nach einer umfassenden Modernisierung der Gesetzeslage über sexualisierte Gewalt in Indien neues Gewicht.

Der renommierte Historiker Ramachandra Guha hat vor dem Hintergrund des Verbrechens den Vorschlag gemacht, die seit Jahren im Entwurf vorliegende „Women’s Reservation Bill“ endlich zu verabschieden. (6) Dadurch würde, analog zu seit Jahrzehnten bestehenden Quotenregelungen für benachteiligte soziale, ethnische und Kastengruppen, zwingend ein Drittel aller Parlamentssitze mit Frauen besetzt. Das Prinzip Quotenregelung ist somit im politischen System Indiens wohlbekannt. Eine Frauenquote funktioniert bereits auf der lokalen Ebene des Panchayati Raj und zeigt zumindest mancherorts positive Ergebnisse, was die politische Mobilisierung von Frauen und ihrer Interessen betrifft.

Auf der Ebene des nationalen Parlaments könnte eine solche Änderung eine breite Wirkung entfalten. Bislang gibt es zwar durchaus einzelne mächtige Frauen in der indischen Politik; neben Sonia Gandhi als Vorsitzende der Kongresspartei sind dies vor allem die Ministerpräsidentinnen der drei wichtigen Bundesstaaten Delhi, Westbengalen und Tamil Nadu. In den Ereignissen seit Mitte Dezember zeigten sie allerdings kein über andere Politiker hinausreichendes Engagement für das Recht von Frauen auf Sicherheit und Unversehrtheit. Eine parlamentarische Frauenquote könnte eine Klimaänderung bewirken, allerdings würde ihre Einführung die Funktionsweise des bestehenden Mehrheitswahlrechts modifizieren und wäre daher in ihren Auswirkungen für Partei- und Wahlstrategen schwer kalkulierbar.

Konservative Reaktionen
Die öffentliche Diskussion nach dem Verbrechen vom 16.12.12 hat natürlich nicht nur vorwärtsweisende Stimmen und Ideen hervorgebracht. Rechtsradikale Politiker in Maharashtra machten das städtische Indien generell und alternativ Einwanderer aus dem Bundesstaat Bihar für Vergewaltigungen verantwortlich. Dies ließ sich prompt durch Kriminalstatistiken widerlegen, die zeigen, dass rund 90% aller Vergewaltigungen in Indien im ländlichen Raum geschehen, aber dass innerhalb dieses Gesamtbilds gerade Bihar eine vergleichsweise niedrige Zahl von Verbrechen gegen Frauen aufweist. (7)

Jenseits solcher extremistischer Positionen taten sich mehrere Politiker – vor allem aus dem konservativen Spektrum – und einzelne religiöse Führer durch Äußerungen hervor, die die Vergewaltigung als eine Folge loser Sitten, der unschicklichen Kleidung von Frauen oder ihrer unkontrollierten Bewegung im städtischen Umfeld beschrieben.

Angesichts der nach wie vor großen Bedeutung traditioneller Gesellschaftsstrukturen und Wertevorstellungen und des vergleichsweise geringen Urbanisierungsgrads Indiens (ca. 30%) überraschten solche Äußerungen nicht wirklich. Immerhin hatten ihrer Urheber in den Medien einen schweren Stand und wurden in den Englisch-sprachigen Medien durchweg der Lächerlichkeit preisgegeben.

Dennoch muss man davon ausgehen, dass es sich bei solchen Äußerungen nicht bloß um verbale Ausrutscher verwirrter Konservativer handelt, sondern auch um zielgerichtete Appelle an die eigene konservative Basis auf dem Lande. Tatsächlich gibt es immer wieder Fälle, in denen ländliche Ratsversammlungen außerordentlich konservatives Denken dokumentieren, indem sie Ehen zwischen verschiedenen Kasten verbieten oder Frauen untersagen, Röcke zu tragen oder Mobiltelefone zu besitzen – all dies, um Frauen vor Risiken oder Fehlverhalten zu schützen, wie sie sagen.

Dies sind extreme Fälle des Versuchs einer patriarchalischen Kontrolle über Frauen, und die ländliche Welt Indiens ist nicht in ihrer Gesamtheit so homogen und extrem konservativ, wie solche Fälle es suggerieren könnten.

Dennoch ist die konservative Idee, angeblich wohlgeordnete Geschlechterbeziehungen würden erst durch das städtische Leben oder die moderne (Medien)Kultur gestört, weit verbreitet und reicht bis weit in die städtische Welt selbst hinein.

Sie findet eine vielleicht überraschende Parallele in der linken bzw. feministischen Kritik am Bollywood-Kino, das nicht zu Unrecht für eine sexistische Darstellung von Geschlechterrollen kritisiert wird, dem im Kontext der jüngsten Ereignisse aber sogar vorgeworfen wird, durch die Darstellung aggressiver Männlichkeit, der gegenüber Frauen am Ende dann willig nachgeben, Vergewaltigungen Vorschub zu leisten.

Schluss
Der brutale Vergewaltigungsfall in Delhi hat Staat und Gesellschaft Indiens zu Jahresende 2012 in unerwarteter Weise erschüttert. Es besteht eine realistische Chance, dass in der Folge dieser Ereignisse polizeiliche, administrative und technische Maßnahmen die Sicherheit von Frauen in den Städten Indiens erhöhen werden. Es besteht zumindest die Hoffnung, dass die traumatische Erfahrung dieses medial intensiv vermittelten Ereignisses auch zu Änderungen im Verhalten einer substanziellen Zahl von Männern gegenüber Frauen führt. Darüber hinaus geben die Ereignisse dem Land eine Chance, produktiv breitere Debatten zu führen, um Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und ihre Marginalisierung in vielen Aspekten der gesellschaftlichen Realität des Landes zu ergreifen.


Dr. Axel Harneit-Sievers
ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi, Indien

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Anmerkungen:
(1„In India, questions over decision to treat rape victim overseas“, Reuters, 8.1.13.

(2) Lalita Ramdas, „No baying for blood”, Economic and Political Weekly, 5.1.13.

(3) João Cravinho, „Death has no appeal”, Indian Express, 1.1.13. 

(4) Jity Kattakayam, „Fast-tracking justice for women”, The Hindu, 13.1.13.

(5„Death penalty for man who raped and murdered three-year-old”, The Hindu, 15.1.13.

(6) Ramachandra Guha, „Parliament and Patriarchy”, The Hindu, 31.12.12,

(7„Raj, Bhagwat wrong: Bihar low on crimes against women, rural India high”, IBN Live, 8.1.13.

Mehr Informationen aus indischen Nachrichtenmagazinen:

  • Einen guten Überblick zur Diversität der Sichtweisen von Gewalt gegen Frauen in Indien gibt die ausführliche Titelgeschichte von „Tehelka“ vom 10.1.13,„Rape. And how men see it“,

  • Mehrere Artikel mit Informationen zur Lage von Frauen in Indien und zu sozialen, juristischen und politischen Dimensionen und Folgen des Vergewaltigungsfall finden sich in der Ausgabe des Magazins „Frontline“ vom 12.-25.1.12,

  • Eine Bericht über indische Kritik an Teilen der westlichen Berichterstattung findet sich bei Hasan Saroor, „From ‘incredible India’ to ‘area of darkness’”, The Hindu, 11.1.13,