Neben dem Prosawerk bilden Bölls Essays, Artikel, Aufsätze und Glossen sowie die publizierten Reden einen umfangreichen, eigenen Werkteil. Mit ihnen begleitete Böll politische, gesellschaftliche und kulturelle Tagesereignisse. Nicht wenige dieser "Einsprüche" markierten den Beginn öffentlicher Kontroversen um Böll: So etwa sein Brief an einen jungen Katholiken (1958), in dem er die Scheinmoral der katholischen Kirche attackierte, oder seine Wuppertaler Rede über Die Freiheit der Kunst (1966). Eine Protestwelle löste ebenfalls ein zusammen mit dem Fotografen Chargesheimer 1958 publizierter Fotoband Im Ruhrgebiet aus. Böll hatte zu diesem Band ein Vorwort beigesteuert, in dem er die "schwarzen" Seiten der Region, bei aller Würdigung der Aufbau- und Wirtschaftsleistung, nicht verhehlte. Eine wochenlang sich hinziehende Diskussion mit entsprechenden Gesprächsveranstaltungen und zahlreichen Presseberichten über das Pro und Contra dieser Publikation folgte. Die bei weitem bekannteste, auch heftigste und Böll persönlich am schwersten in Mitleidenschaft ziehende Kontroverse datiert jedoch auf das Jahr 1971.
Am 23. Dezember 1971 titelte die Bild-Zeitung auf Seite 1: "Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen. Eine Witwe und zwei kleine Kinder bleiben zurück." Der Artikel berichtete über einen Banküberfall in Kaiserslautern am Vortag. Als im Bericht der Kripo-Chef von Kaiserlautern mit der Aussage zitiert wurde: "Wir haben noch keine konkreten Anhaltspunkte, dass die Baader-Meinhof-Bande für den Überfall verantwortlich ist", war Böll offenbar derart entsetzt über die Diskrepanz zwischen der Titelzeile, die eine klare Mordbezichtigung enthält, und dem tatsächlich noch völlig unklaren Tatbestand, dass er unmittelbar nach der Lektüre des Artikels den Herausgeber des Hamburger Nachrichtenmagazins Spiegel, Rudolf Augstein, anrief, und einen Beitrag über den Bild-Zeitungsbericht ankündigte. Bereits am 26. Dezember übersandte Böll Augstein den Text mit der Bitte, nichts am Wortlaut zu ändern, ohne es mit ihm abgesprochen zu haben: "Ich habs gut überlegt, gründlich überarbeitet, mehrmals neu "gefasst", und ich entdecke nichts zu Beanstandendes mehr – vielleicht aber Sie und ihre Redaktion."
Rudolf Augstein und die Redaktion fanden wohl ebenfalls im Text nichts "Beanstandenswertes". Der ursprüngliche (auf das Weihnachtsfest verwei-sende) Titel Bölls "Soviel Liebe auf einmal?" wurde jedoch, ohne Böll zu fragen, in "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" abgeändert – eine konse-quenzreiche Tilgung des Nachnamens, da der Artikel "gegen" die Bild-Zeitung nun in einen "für" Ulrike Meinhof umgedeutet wurde, insofern "Will Ulrike …" eine persönliche Vertrautheit Bölls mit Ulrike Meinhof suggeriert, die gar nicht gegeben war. Als der Beitrag dann am 10. Januar 1972 erschien, löste er eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Kampagne um und gegen Heinrich Böll aus, die monatelange andauerte. In zahlreichen Artikeln und Fernsehkommentaren wurde Böll als "linker Biedermann" apostrophiert, als "Sympathisant" deklariert, der terroristische Gewalttäter zumindest moralisch unterstütze und so zur Eskalation der Gewalt beitrüge. Gleichzeitig unterstellte man ihm, dass er für verfolgte Kollegen in Osteuropa, besonders der UdSSR, nichts unternehme. Drei Beispiele von vielen:
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Der Schriftsteller Hans Habe forderte Böll in der Welt am Sonntag auf, vom Amt des Präsidenten des Internationalen P.E.N. zurückzutreten.
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In einem Tagesschau-Kommentar nannte Frank Ulrich Planitz (Südwestfunk) Böll einen "Anwalt der anarchistischen Gangster" und "salon-anarchistischen Sympathisanten".
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Im ZDF-Magazin wurde Böll vom Moderator der Sendung, Gerhard Löwenthal, zu einem "Sympathisanten dieses Linksfaschismus" abgestempelt, der "nicht ein Deut besser [sei] als die geistigen Schrittmacher der Nazis".
Die Hetze und ihr Ausmaß überraschten Böll völlig, der sich einem Millionen-Publikum "ausgeliefert" und durch die bewusste Unterschlagung von Informationen diffamiert sah. Böll reagierte darauf mit Artikeln in der Süddeutschen Zeitung und im Spiegel: "Als Hauptargumente gegen den Spiegel-Artikel stellen sich bisher heraus: … ich hätte die Gruppe um Ulrike Meinhof 'verharmlost'. Zweimal habe ich in meinem Artikel ausdrücklich erklärt, Ulrike Meinhof habe dieser Gesellschaft den Krieg erklärt. Ich halte Krieg nicht für ein harmloses Wort." – "Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, daß ich das Ausmaß an Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe."
Die aufgeheizte Stimmung und die damit verbundenen Mutmaßungen um Böll greifen auch auf die Polizei über: Am 1. Juni, dem Tag, an dem bei einer Großfahndung die Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins in Frankfurt verhaftet worden waren, wurde auch Bölls Haus in der Eifel von schwerbewaffneten Polizisten umstellt und nach Terroristen durchsucht.
In einem Brief an Günter Grass – der ebenso wie Böll auch im Bundestag von einem CDU-Abgeordneten als ein Zerstörer des "inneren Friedens" gebrandmarkt worden war – verwies Böll auf die "systematische Hetze", der er ausgeliefert wurde: "Was alles an 'Aufklärung' versucht worden ist seit 45 – geht jetzt in wenigen Wochen vor die Hunde, rasch, schmerzlos, widerstandslos, weil fast die gesamte deutsche Presse durch dieses 'Helfershelfer'-Geschwätz eingeschüchtert ist. " Er kann selbst Bundeskanzler Brandt nicht "einmal raten, noch mehr Verständnis oder gar Solidarität zu zeigen, als er bisher getan hat: es würde ihn immer mehr Wählerstimmen kosten, immer mehr".
Böll wandte sich an Bundesinnenminister Hans Dietrich Genscher mit der Bitte um Aufklärung, "auf Grund welcher Vermutungen, Verdächtigungen, möglicherweise Denunziationen" sein Haus durchsucht worden sei. Einen Durchschlag des Briefes übermittelte Böll an Bundespräsident Gustav Heinemann, der mit seiner Frau Hilda gerade Urlaub in der Schweiz machte. Heinemann antwortete:
"Was wir uns ausmalten, war dieses: wir wären an diesem 1. Juni ebenfalls Ihre Hausgäste gewesen, als die Polizei an- und einrückte! Leider haben Sie uns zu diesem Staatsakt nicht rechtzeitig eingeladen! Das wäre doch großartig gewesen."
Neben einer Vielzahl auch anonym zugesandter Beschimpfungen erreichten Böll unzählige Briefe der Zustimmung. Es wurden Solidarität bekundende Unterschriften-Aktionen durchgeführt, und in der Baseler National Zeitung erscheint am 10. Juli 1972 auf Initiative des Verlags Kiepenheuer & Witsch eine von 156 Persönlichkeiten des kulturellen und öffentlichen Lebens unterzeichnete Solidaritätsadresse:
"Die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof ist zerschlagen. Aber die Treibjagd geht weiter. Nicht auf einen Brandstifter oder Bombenleger, sondern auf den Schriftsteller Heinrich Böll, der es gewagt hat, öffentlich (im 'Spiegel' vom 10. Januar 1972) vor den gefährlichen Folgen der demagogischen Berichterstattung und Panikmache der Springer-Presse zu warnen."
Für Böll wurde die Auseinandersetzung mit den Organen des Springer-Konzerns, die Beschäftigung mit den Grenzen der Pressefreiheit, der Ausübung sprachlicher Gewalt in den Medien – eng verflochten mit der Frage nach der 'Würde' der Menschen – zu einem der Themen, die ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigten.
Heinrich Böll: »Eine deutsche Erinnerung«
- "Schreiben wollte ich immer…" – Briefe aus dem Krieg
- Das Romanwerk 1951-1959 – "Billard um halb zehn"
- "Ansichten eines Clowns" (1963) – "Gruppenbild mit Dame" (1971)
- "Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?" (1972)
- "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1974)
- "Widerstand muß heute darin bestehen, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen"