Heinrich Bölls "Gruppenbild mit Dame": Summe seines bisherigen Schaffens

Sie befinden sich in "Kapitel 6: Der »Notstand« der Demokratie (1967 - 1972)".

1971 erscheint der "Gruppenbild mit Dame". Der Roman galt bei seiner Veröffentlichung als »Summe des bisherigen Schaffens«.

Heinrich Bölls Roman "Gruppenbild mit Dame", 1971

Auszug aus dem einleitenden Artikel von Karl Korn zum Vorabdruck des Romans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 1971

Böll, jetzt vierundfünfzig Jahre alt, ist im Horizont der deutschen Gegenwartsliteratur der stetigste Autor. Er ist im literarischen Felde der lebendige Gegenbeweis gegen alle noch so gescheiten, düsteren oder zynischen Prognosen vom Ende der Kunst. Sein leicht symbolisch getönter Realismus und seine erstaunliche Produktivität, die sich in immer neuen, überraschenden Abwandlungen an seine Vaterstadt Köln und an die apokalyptische Zeit vor, während und nach Hitler hält, sind auch die Gegeninstanz gegen alles, was heute Kunst mit Computermethoden machen will. [...]

Wäre, was als Vorurteil gelegentlich geäußert wird, Böll der Idylliker des Waschküchenmiefs, dann wären der Rang, der seinen Namen Jahr für Jahr unter die Kandidaten für den literarischen Nobelpreis einreiht, und das ehrenvolle Ärgernis, das er im Lande bei uns ist, ein Rätsel oder ein Versehen. Von literarischen Formdiskussionen, von Versuchen insbesondere, die Kreativität zu rationalisieren, hat sich Böll, eine Handwerkernatur durch und durch, in Distanz gehalten.

Er ist, wie gerade jetzt sein neues großes Buch zeigen wird, auch ein formal hochintelligenter Schriftsteller. »Gruppenbild mit Dame« ist eine große Überraschung. Waren die letzten Bücher, »Ansichten eines Clowns«, »Ende einer Dienstfahrt« zumal, entweder gelegentlich forciert kapriziös oder verspielt, so ist der neue Roman ein großer Wurf, der das gesamte vorangehende schriftstellerische Werk wiederaufnimmt und auf eine höhere Ebene hebt, vermutlich Bölls bedeutendstes Buch.

Wieder spannt Böll im Horizont der Vaterstadt und Metropole den Bogen der Zeitgeschichte von der ausgehenden Wilhelminischen Ära über Spuren der letzten Jahre der Weimarer Republik zu den zwölf Jahren und dem Krieg, darüber hinweg zur phantastischen Surrealität der Nachkriegszeit bis zu unseren Skyline-Jahren, die zugleich als das mögliche Ende von zweitausend Jahren Kölner Stadtgeschichte satirisch angeleuchtet werden. Der Roman hat eine regelrechte Heldin oder, besser gesagt, Mittelpunktfigur. Sie heißt Leni und ist zu Beginn der weitverzweigten, genußvoll komplizierten, personen- und ereignisreichen Geschichte 48 Jahre alt, zwar noch immer erkennbar als ein vor langen Jahren vor Gesundheit strahlendes weibliches Wesen, deutlich in ihren physischen Vorzügen an den Maßstäben derer, die unten leben, gemessen. Um die ironisch im Jahrhundertwendejargon »Dame« bezeichnete Leni versammelt Böll ein, wie es wiederum ironisch heißt, Gruppenbild quer durch die Gesellschaft von oben nach unten und von unten nach oben. [...]

Das ungeheure Geflecht aus Fakten und Reflexionen wird in einer höchst subtil Schritt um Schritt vorangetriebenen Dokumentation vorgelegt, Ein ironisch als »Verf.« eingeführter Autor, mit den journalistischen Handwerksmethoden des Recherchierens, aber auch mit Psychologie, Soziologie, Orts- und Geschichtskenntnis und, was wichtiger ist, mit Spürsinn für Hintergründe samt Vorder- und Abgründen begabt, macht sich ans Werk. Der Leser erlebt den Roman in Aktion. Da werden Auskunftspersonen mühsam gesucht und befragt, da werden hinterlassene Zeugnisse mit andern kombiniert, da wird erwogen und abgewogen.

Dieser Roman liefert zugleich ein schriftstellerisches Instrumentarium mit. Man lernt auch in anderm Betracht einen neuen Böll kennen, den epischen Ironiker von hohen Graden. Der Autor, der sich die distanzierende Funktion der rekonstruierenden Methode zunutze macht, hebt die Gefahr aktenhaft kriminalistischer Dürre durch Ironie auf, wo immer sich der »Verf.« als Gesprächspartner unauffällig einmischen kann. [...] Durch den Kunstgriff der Erstellung einer Dokumentation wird die Spannung keineswegs vermindert, sondern für den anspruchsvolleren Geschmack gesteigert. Der Leser wird zum Mitautor, zum Spurensucher, nimmt an der Kommentierung teil und genießt mit dem Verf. sogar Gags, die unreflektiert Stilbrüche ergeben müßten.

Was Böll alles eingefallen ist, um die Lebensschicksale seiner Gruytens mit allem, was in der Zeit und in den Zeiten lag, zu verknüpfen, das kann man kaum anders als mit dem Jahrmarktswort phänomenal charakterisieren. Das epische Reservoir dieses Erzählers ist offenbar unerschöpflich.[...]

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