Das Romanwerk 1951-1959 – »Billard um halb zehn«

Lesedauer: 5 Minuten

Nachdrücklich hat Böll auf der Eigenständigkeit und einer der Kunst eigenen Erkenntnisleistung bestanden. So markierte er 1977 in seiner Laudatio auf den Georg-Büchner-Preisträger Reiner Kunze das Verhältnis von "Kunst" und "Wirklichkeit" mit den Worten: "Was wirklich ist, bestimmt der Autor, der Maler, der Bildhauer, der Tänzer, der da ›seine‹ Wirklichkeit schafft". Bereits zuvor hatte er in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1964 das Verhältnis von literarischer und nichtliterarischer ›Wirklichkeit‹ in Anlehnung an einen Satz von Paul Klee "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar« formuliert:

Ein Autor nimmt nicht Wirklichkeit, er hat sie, schafft sie, und die komplizierte Dämonie auch eines vergleichsweise realistischen Romans besteht darin, daß es ganz und gar unwichtig ist, was an Wirklichem in ihn hineingeraten, in ihm verarbeitet, zusammengesetzt, verwandelt sein mag. Wichtig ist, was aus ihm an geschaffener Wirklichkeit herauskommt und wirksam wird.


In diesem Verständnis und Glauben an die Wirksamkeit der Literatur bewegte sich Böll, nachdem er die inhaltlichen Traditionsbefangenheiten der frühen Nachkriegszeit hinter sich gelassen hat, die thematisch und stilistisch noch die Erzählungen wie Der Zug war pünktlich (1949) und auch seinen ersten Roman, Wo warst du, Adam? (1951) prägen: Szenen der Sinnlosigkeit des Krieges und des Sterbens im Krieg in der Perspektive des ›einfachen‹ Soldaten, episodisch gereiht, untereinander verbunden, auf eine vergleichsweise konventionelle Weise, durch eine omnipräsente Erzählinstanz. Einen diese Abhängigkeiten abstreifenden Schritt erbrachten die folgenden Romane, Und sagte kein einziges Wort (1953) und Haus ohne Hüter (1954).

Mit ihnen ließ Böll das stoffliche Terrain hinter sich, auf dem seine frühe Prosa angesiedelt war. Er wandte sich der Nachkriegszeit zu: der Trümmerwirklichkeit und dem Nachkriegselend, den restaurativen Tendenzen in der jungen Bundesrepublik Deutschland und der problematischen Beteiligung der katholische Kirche an den entstehenden politischen und ökonomischen Machtkartellen, den Hoffnungen und Widersprüchen der ›Wirtschaftswunder‹-Welt, erzählerisch bisweilen mit einer Tendenz zu avantgardistisch inspirierten Erzähltechniken, wie sie schließlich in Billard um halb zehn (1959) dominant werden. Mit diesem Roman erschreibt sich Böll Ende der 1950er Jahre ein literarisch progressives, ästhetisch ambitioniertes Profil im Kontext moderner Romankonzeptionen.

»Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen«, äußerte Böll 1964 im Rahmen seiner an der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt unter dem Titel Ästhetik des Humanen gehaltenen Poetik-Vorlesungen, in denen er anhand literarischer Werke, in denen das Thema Wohnen, Liebe, Nachbarschaft, Heimat behandelt wird, versuchte, den Zustand des Humanen, die Würde des Einzelnen und ihre Missachtung in der Gegenwartsgesellschaft darzustellen. Eine Gesellschaft jedoch, die sich der Erinnerung ihrer Vergangenheit verweigert, d.h. ihre Gegenwart nicht im Bewusstsein von dieser gestaltet, ist, so Bölls Fazit, in ihrer moralischen Existenz nicht vorhanden. Die Suche nach einer »bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land« nach der Zerstörung von Nachbarschaft, Heimat und Sprache durch die NS-Zeit bleibt eine Aufgabe, die vermiedene Auseinandersetzung mit ihr in der Nachkriegszeit ein Mentekel. Seine Überzeugung, die Gegenwartsliteratur habe gegenüber dieser Entwicklung für die Präsenz des ›Vergessenen‹ zu arbeiten, hat Böll seinem Roman Billard um halb zehn eingeschrieben. ›Schuld‹, ›Erinnerung‹ und ›Trauer‹ bildet dabei die Begriffstrias, deren Substanz den Kern der im Roman erzählten Geschichte der Architektenfamilie Fähmel ausmacht, um die entgegen jedem Verdrängungsversuch untilgbare ›Anwesenheit‹ des gesellschaftlich ›Abwesenden‹ zu zeigen.

»Schreibt er den großen Roman? Erwartungen an den Schriftsteller Heinrich Böll« titelte ein Bericht der Ruhr-Nachrichten vom 26./27. Oktober 1957 und gibt damit einen ersten Hinweis darauf, dass Heinrich Böll ein weiteres größeres erzählerisches Projekt angegangen sei. Der neue Roman sollte, so Böll, »die Geschichte eines fünfzigjährigen Mannes werden und die Zeit von 1900 bis heute filtrieren«. Durch Schreibpausen zunächst nur diskontinuierlich betrieben und über verschiedene Arbeitstitel wie »Stationen« und »Weide meine Lämmer« geführt, fand das Projekt im Frühjahr 1959 seinen endgültigen Titel: Billard um halb zehn.

Am Beispiel der in Rückblenden und inneren Monologen über drei Generationen hinweg geführten Geschichte der Architektenfamilie Fähmel entfaltet Billard um halb zehn ein Panorama deutscher Realität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gegenwartshandlung des Romans konzentriert sich auf einen Tag, den 6. September 1958, auf den der 80. Geburtstag von Heinrich Fähmel fällt. Heinrichs Hauptarbeit als Architekt war die Errichtung der Abtei St. Anton, die durch seinen Sohn Robert im Krieg zerstört, von seinem Enkel Joseph wieder aufgebaut wird. - »Ja, ja, Kind, das alles betrifft die Abtei Sankt Anton; das zieht sich durch Jahre, Leonore, Jahrzehnte, bis auf heute; Reparaturen, Erweiterungsbauten und nach fünfundvierzig der Aufbau nach den alten Plänen«, heißt es im Roman. Dabei bildet die Wendung »Aufbau nach den alten Plänen« eine Art Formel für die restaurative Tendenz der Bundesrepublik, das Bild schlechthin für die gesellschaftlichen, aus der NS-Zeit, aber auch bereits der Zeit davor wirksamen Kontinuitäten.

Der Roman ist Bölls wohl symbolträchtigster: Nicht nur steht die Abtei für Destruktion und »Restauration«. Böll stellt in Billard um halb zehn zwei Gruppen gegenüber, die gewalttätigen »Büffel« und die friedfertigen und wehrlosen »Lämmer«. Die einen, die Machtmenschen, während des Dritten Reiches NS-Anhänger, besetzen bald wieder hohe Regierungsämter, während die anderen durch Folter, Flucht und andere Leiden »gebrochene« Menschen geworden sind.

Billard um halb zehn erschien im Herbst 1959 fast gleichzeitig mit zwei weiteren Romanen, Günter Grass’ Die Blechtrommel und Uwe Johnsons Mut-maßungen über Jakob. Alle drei Romane wurden in der Kritik als »Höhepunkte« der Nachkriegsliteratur gefeiert mit denen der »neuen« deutschen Literatur der Anschluss an die Weltliteratur gelungen sei.

Heinrich Böll: »Eine deutsche Erinnerung«

Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung über Heinrich Böll