Technologische Souveränität braucht Mut – und Europa

In einer zunehmend unsicheren Welt wird Unabhängigkeit zur Grundlage von Wohlstand, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit. Doch ein rein nationaler Ansatz greift zu kurz. Nur durch klare politische Entscheidungen, europäische Integration und globale Partnerschaften kann Europa seine Unabhängigkeit stärken und den globalen Herausforderungen begegnen. 

Eine Agri-PV-Anlage steht über Apfelbäumen auf dem Obsthof Bernhard in Kressbronn am Bodensee.

Europa, Nordamerika und Asien verfolgen zunehmend das Ziel, bei der Verwendung wichtiger Technologien unabhängiger von anderen Wirtschaftsräumen zu werden. Verständlich, denn wer könnte das angesichts der gegenwärtigen und zunehmenden globalen Unwägbarkeiten nicht wollen? Mir scheint jedoch, dass diese Ambition zu wenig auf die dafür notwendigen politischen und wirtschaftlichen Voraus­setzungen schaut. Zudem könnte sie im nationalen wie globalen Kontext zu Überreaktionen führen, was Autarkie und Protektionismus betrifft. Ein ehrlicher Blick auf das Thema technologische Souveränität scheint deswegen erforderlich. 

Technologien gezielt priorisieren 

Vier Punkte erscheinen mir dabei essenziell: Erstens ist es notwendig, die Reichweite des Konzeptes zu verinnerlichen. In unserem Verständnis am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung meint technologische Souveränität die Fähigkeit eines Staates oder Staatenbundes, die Technologien, die er für sich als kritisch in Bezug auf Wohlfahrt, Wettbewerbsfähigkeit und staatliche Handlungsfähigkeit definiert, selbst vorzuhalten und weiterentwickeln zu können – oder sie ohne einseitige strukturelle Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsräumen beziehen zu können. Technologiesouveränität ist damit nicht nur eine notwendige Voraussetzung für zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, sondern dient auch dazu, unsere gesellschaftlichen Ziele zu erreichen und die staatlichen Hoheitsfunktionen sicherzustellen, insbesondere die innere und äußere Sicherheit. Sie ist also keine rein ökonomische Kategorie, sondern eine generelle Voraussetzung für selbstbestimmtes gesellschaftliches und staatliches Handeln, welches unseren eigenen ethischen Prinzipien entspricht. 

Eine Politik für technologische Souveränität ist damit, zweitens, eine Politik bewusster Entschei­dungen. Das bedeutet nicht, dass der Staat dirigistisch lenkt. Aber es müssen bestimmte Technologien prio­risiert und dementsprechende Anreize gesetzt und notwendige Rahmenbedingungen verbessert werden. Dazu bedarf es partizipativer Foresight-Prozesse bezüglich der zukünftigen Rolle einzelner Technologien sowie systematischer Analysen der eigenen Fähigkeit, diese bereitzustellen beziehungsweise Zugang zu ihnen zu garantieren. Eine breit verstandene Technologieoffenheit, die solche Entscheidungen allein dem Markt oder rein ökonomischen Verhandlungs- und Lobbyprozessen überlässt, wird keine Souveränität schaffen, die dem Gesamtsystem wirklich dient. 

Arbeitsteilig zusammenarbeiten 

Drittens ist angesichts der beschränkten Möglichkeiten einzelner Nationalstaaten eine Souveränitäts­politik nur mit einem europäisch integrierten Ansatz denkbar und sinnvoll. Die unterschiedlichen nationalen technologischen Profile und das Vertrauen innerhalb des Binnenmarktes sind dabei sehr wertvolle Voraussetzungen. Allerdings stimmt die Politik fast aller Mitgliedsstaaten der EU in den vergangenen Jahren in Bezug auf integrierte Ansätze hier nicht unbedingt optimistisch. Zudem zeigen Analysen, dass das Verständnis hinsichtlich europäischer Souveränität in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist. Für eine integrierte Souveränitätspolitik bedarf es daher eines Paradigmen­wechsels hinsichtlich der Bereitschaft, Europa als eigenen Handlungsraum zu verstehen und zwischen den Mitglieds­staaten vertrauensvoll arbeitsteilig vorzugehen. Dies würde zudem die Effizienz und Produktivität des Binnenmarktes erhöhen. 

Globale Partnerschaften klug nutzen 

Viertens müssen auch Länder außerhalb der EU systematisch mit einbezogen werden. Hier kann eine Art kooperative Souveränitätspolitik bedeuten, mit Wertepartnern Interdependenzen und Redundanzen auszubauen, die für beide Seiten Souveränitätsgewinne versprechen und gleichzeitig dazu dienen, protektionistischen Tendenzen entgegenzutreten. 

Als Fazit bleibt: Die geopolitischen und geoökonomischen Entwicklungen in den nächsten Jahren werden die Fähigkeit zur technologischen Souveränität im hier definierten Sinne zwingend notwendig machen. Diese umfassend geteilte Forderung in Politik und Wirtschaft wird jedoch wohlfeil bleiben, solange wir nicht verstehen, dass sie eines pro­­aktiven staatlichen Handelns mit mutigen Entscheidungen bedarf. Dies umfasst auch ein radikales Umdenken in Bezug darauf, wie wir in Deutschland und Europa technologische Priorisierung und Arbeitsteilung verstehen. Europa hat die Chance, den Imperativ der technologischen Souveränität als Katalysator für europäische Handlungsfähigkeit generell zu nutzen. Lange aber wird das Fenster für diese Gelegenheit nicht offenbleiben. Zu handeln ist jetzt. 


Jakob Edler ist seit Oktober 2018 geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI. Er ist Sprecher des Fraunhofer-Verbunds Innovationsforschung, gewähltes Mitglied des Deutschen Wissenschaftsrats, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) sowie Mitglied der Royal Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce (UK).

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