«Fachkräftemangel ist kein Schicksal»

Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Reformen im Steuersystem und auf dem Arbeitsmarkt würden viel bewegen. Ein genauer Blick zeigt, wie das Potenzial von Frauen, Müttern und Menschen mit Migrationshintergrund stärker gefördert werden kann.

Illustration zum Fachkräftemangel

Das Thema wird inzwischen breiter diskutiert als noch vor einigen Jahren: der demografische Wandel und der damit verbundene Übergang der Babyboomer in den Ruhestand. In Deutschland wird das Erwerbspersonenpotenzial zurückgehen – eine Entwicklung, die sich in kommenden Jahre noch verstärken wird. Je nach Annahmen über die Bevölkerungsentwicklung könnte die Zahl der Menschen im Erwerbsalter bis Ende der 2050er Jahre um 14 bis 29 Prozent abnehmen. In anderen europäischen Nachbarstaaten waren die Jahrgänge der Babyboomer – relativ betrachtet – nicht so stark, sodass der Einschnitt nicht so gravierend ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird die Debatte um fehlende Fach- und Arbeitskräfte immer wichtiger. Welche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es? Welche weiteren bisher ungenutzten Potenziale können erschlossen werden? 

Mütter in Vollzeitstellen holen 

Ein wichtiges Potenzial liegt darin, die Erwerbsquote von Frauen und insbesondere deren Erwerbsvolumen zu erhöhen. Zwar ist ihre Erwerbstätigenquote in den vergangenen Jahren angestiegen, jedoch mit einer im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen Teilzeitarbeit verbunden. Der Vergleich mit EU-Ländern zeigt, dass die Teilzeitquote im Jahr 2022 in Deutschland mit 47 Prozent weit über dem EU-Durchschnitt von 28 Prozent lag. 

Dies liegt unter anderem an der ungleichen Verteilung von familiären Sorgearbeiten und an fehlenden außerfamilialen Bildungs- und Betreuungsangeboten wie Kita-Plätzen, insbesondere für Kinder unter drei Jahren, und auch fehlenden ganztägigen Angeboten für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter. Die Potenziale könnten gehoben werden, wenn die Familien- und Erwerbsarbeit besser miteinander zu vereinbaren wäre und auch Väter sich stärker an Sorgearbeit beteiligen würden. Vielfach wird jedoch argumentiert, dass die Einstellungen der Bevölkerung in Hinblick auf eine Mütter­erwerbstätigkeit dem entgegenstehen. Dies ist so allerdings nicht richtig. Neuere Analyse zeigen, dass für Mütter mit jungen Kindern zwar eine Teilzeiterwerbstätigkeit bevorzugt wird, mit zunehmendem Alter des Kindes jedoch vermehrt eine Vollzeiterwerbstätigkeit: Ab dem Alter der Kinder von 12 Jahren hält die Mehrheit der in Westdeutschland Geborenen (18 bis 50 Jahre) eine Vollzeiterwerbstätigkeit für Mütter erstrebenswerter als eine Teilzeiterwerbstätigkeit. Die ostdeutsche Bevölkerung zeigt ohnehin eine größere Akzeptanz für vollzeiterwerbstätige Mütter. 

Bedarf an Kitas decken 

Einstellungen stehen einer Ausdehnung des Erwerbsvolumens also nicht per se entgegen, sondern es fehlen nach wie vor Bildungs- und Betreuungsplätze. Schätzungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zufolge könnte die Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kindern im Alter von ein bis zwei Jahren je nach Szenario um sieben bzw. fast elf Prozentpunkte gesteigert werden, wenn ihr Kita-Bedarf gedeckt wäre und sie ihre Wunscharbeitszeit realisieren könnten. Bemerkenswert ist, dass insbesondere die Erwerbstätigenquote von Müttern steigen würde, für die eine Erwerbstätigkeit auch aus sozialpolitischer Perspektive von hoher Bedeutung ist: Dies sind Frauen, die zu Hause kein Deutsch sprechen, Frauen aus armutsgefährdeten Haushalten und Alleinerziehende. Hinzu kommt, dass vielfach Mütter mit Kindern in dieser Altersgruppe und auch mit älteren Kita-Kindern nicht in dem Umfang erwerbstätig sein können, wie sie es sich wünschen – ganz einfach, weil Plätze in den Kitas fehlen Wir konnten zeigen, dass mit dem Ausbau der Kita-Betreuung der Anteil der ganztägig betreuten Kinder zwar stark angestiegen ist, es gibt allerdings nach wie vor eine signifikante Diskrepanz zwischen den gewünschten und den genutzten Betreuungsstunden: Der Anteil der Familien mit einem ungedeckten Bedarf – definiert als die Differenz zwischen gewünschtem und genutztem Betreuungsumfang von mindestens fünf Stunden pro Woche – liegt bei 29 Prozent für Kinder unter drei Jahren und bei knapp 37 Prozent für Kinder von drei Jahren bis zum Schuleintrittsalter. 

Betreuungsangebote am Nachmittag ausbauen

Doch auch Mütter mit Kindern im Grundschulalter können ihre Wünsche aufgrund mangelnder Betreuungsangebote für ihre Kinder am Nachmittag nicht realisieren. Im Jahr 2026 soll der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung im Grundschulalter eingeführt werden. Im Vorfeld dieses Rechtanspruchs wurde die zu erwartende Veränderung im Arbeitsangebot auf der Basis von unterschiedlichen Szenarien simuliert: Je nach Szenario steigt die Erwerbsquote von Müttern um zwei bis sechs Prozentpunkte. Aber auch Mütter, die bereits erwerbstätig sind, erhöhen ihre Arbeitszeit um durchschnittlich 1 bis 2,6 Stunden pro Woche. Insgesamt entsprechen diese Veränderungen einer Erhöhung des derzeitigen Arbeitsvolumens von Müttern mit Grundschulkindern um etwa drei bis sieben Prozent bzw. etwa 40 000 bis 100 000 Vollzeit-Äquivalente. 

Berufsabschlüsse schneller anerkennen 

Eine weitere Möglichkeit, um den Fachkräftemangel zu verringern, besteht in der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland. In diesem Kontext sollte es aber auch darum gehen, die Erwerbs­potenziale von Menschen mit Migrationshintergrund, die bereits in Deutschland leben, zu nutzen und zu entwickeln. Frauen mit Zuwanderungsgeschichte haben eine besonders niedrige Erwerbsquote: Im Jahr 2021 waren nur 56 Prozent der Mütter von Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig, bei Müttern ohne Zuwanderungsgeschichte lag die Erwerbstätigkeitsquote bei 84 Prozent. Wie bereits erörtert, sind davon insbesondere auch Frauen mit Kindern im Kita-Alter betroffen. Aber auch andere Faktoren haben hier eine Bedeutung: Die schnellere und transparente Anerkennung von Berufsabschlüssen wäre zentral. So hat beispielsweise das Bundesanerkennungsgesetz aus dem Jahr 2012 dazu geführt, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Zuwanderungsgeschichte um sieben Prozentpunkte gestiegen ist, bei Müttern dieser Gruppe um drei Prozentpunkte. 

Steuer- und Transfersystem reformieren 

Allerdings sind nicht nur Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern sehr häufig teilzeiterwerbstätig. Das hat mit dem deutschen Steuer- und Transfersystem, insbesondere dem Ehegattensplitting zu tun: Dies macht es attraktiv, dass beide Partner nicht im gleichem Umfang erwerbstätig sind. Auch Mini-Jobs, in denen vielfach Frauen erwerbstätig sind, erhöhen die Anreize dafür, dass sie ein geringeres Erwerbsvolumen haben. In einer neuen Berechnung aus dem Jahr 2023 zeigt sich, dass das Nettoeinkommen pro geleisteter Arbeitsstunde bei Paarhaushalten im sogenannten Zuverdiener­modell am höchsten ist, insbesondere dann, wenn die Frau einen MiniJob hat und der Mann vollzeiterwerbstätig ist. Wenn beide bei sonst gleichen Merkmalen in Vollzeit erwerbstätig sind, ist das Netto­einkommen pro Arbeitsstunde geringer. Hier können also auch durch Veränderungen in der Anreizstruktur Potenziale freigesetzt werden. 

Bildung und Qualifizierung fördern 

Ferner kann dem Arbeitskräftemangel mittel- und langfristig begegnet werden, indem die Potenziale von Bildung und Qualifizierung besser genutzt werden. Da eine frühe Förderung aus einer bildungsökonomischen Perspektive besonders effizient und effektiv ist, lohnen sich Investitionen in gute Kitas und eine gute Ganztagsbetreuung an Grundschulen auch aus dieser Perspektive besonders. Hier gilt es, auch die Gruppen im Blick zu haben, die bisher in Kitas unterrepräsentiert sind und die künftig noch an Bedeutung gewinnen werden. 

Dies sind zum Beispiel die Kinder mit Migrationshintergrund. Bereits im Jahr 2021 hatten etwa 40 Prozent der Fünfjährigen einen Migrationshintergrund, im Jahr 2005 waren es mit 29 Prozent noch deutlich weniger. Sie haben insgesamt eine höhere Wahrscheinlichkeit, keinen Schul- oder Berufsabschluss zu erzielen. Das muss geändert werden. Insgesamt bekommt in Deutschland jede fünfte Familie mit Kindern im Alter zwischen einem Jahr und unter drei Jahren keinen Kita-Platz, obwohl ein Bedarf besteht. Bei Familien, die zu Hause kein Deutsch sprechen, sind es 39 Prozent und bei armutsgefährdeten Familien 33 Prozent. Zugänge dieser Gruppen zu Kitas mit einer guten pädagogischen Qualität sind also besonders wichtig. 

Außerdem bestehen weitere Potenziale bei älteren Erwerbstätigen. Es wird diskutiert, dass die Altersgrenze für den Ruhestand angehoben werden sollte. Allerdings können nicht alle Erwerbstätigen bis ins höhere Alter im Job bleiben. Das könnte verbessert werden, wenn Tätigkeitswechsel und eine erwerbsbegleitende Fort- und Weiterbildung ermöglicht und gefördert werden. Eine stärker präventiv orientierte Gesundheitspolitik könnte das Ihrige dazu beitragen. 

Alles in allem zeigt sich, dass der Fach- und Arbeitskräftemangel kein Schicksal ist, dem nicht begegnet werden könnte. Vielmehr bietet er die Chance, viele schon länger angemahnte Reformen anzugehen, die auch aus familien-, bildungs-, integrations-, arbeitsmarkt- und sozialversicherungspolitischer Perspektive von großem Nutzen wären. 


C. Katharina Spieß ist Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) sowie Professorin für Bevölkerungsökonomie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist Mitglied in unterschiedlichsten Beiräten und Expert:innengruppen, wie z.B. dem wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ oder im Beirat des OECD Centers for Population Dynamics.

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