Mut zur Modernisierung: Die deutsche Industrie kann den Turnaround schaffen

Was Deutschland jetzt braucht, sind Innovationen, starke Partner­schaften und eine kluge Industrie­politik – für eine starke Wirtschaft, die Wohlstand erneuert.

Illustration: Industrie und grüne Energie

Eine starke Industrie entscheidet darüber, ob der Wohlstand in Deutschland erhalten bleibt und ausgewogen verteilt ist. In diesem Sektor wird mit vielen Maschinen gearbeitet und so eine hohe Arbeitsproduktivität erreicht; gleichzeitig herrscht eine hohe Tarifbindung. Dies ermöglicht auch auf unteren und mittleren Qualifikationsstufen stabile und faire Löhne. Die Industrie ist für mehr als 80 Prozent der deutschen Exporte verantwortlich. Sie sichert maßgeblich den Außenwert des Euro und bestimmt damit, wie viel Wohlstand wir in das Land holen können. 

Umso bedrohlicher ist es, dass uns fast wöchentlich Meldungen erreichen, wie schlecht es der deutschen Industrie geht. Die Produktionszahlen sinken, die Auftragsbestände schmelzen dahin. Hinzu kommen Hiobsbotschaften aus einzelnen Unternehmen. Der Volkswagenkonzern – ehemals Aushängeschild des Industriemodells Deutschland – wird in seiner Kernmarke VW einschneidende Kürzungen vornehmen. Traditionsunternehmen wie Miele, BASF oder die Zahnradfabrik Friedrichshafen kündigen einen drastischen Stellenabbau an. 

Ein Blick in die amtliche Statistik fällt bislang weniger dramatisch aus. So liegt die Industriebeschäftigung heute nur wenig unter der im Herbst vor drei Jahren. Hört man allerdings die Industrieverbände und die ihnen nahestehenden Forschungsinstitute, ist der Zustand des Industriestandorts Deutschland mehr als besorgniserregend. Abgaben, Löhne und Energie, alles einfach zu teuer hierzulande. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis das letzte Licht der Industrie ausgeht. 

Ein Blick zurück zeigt Wege zur Stabilisierung auf 

Sucht man nach geeigneten Rezepten, den Niedergang der deutschen Industrie zu verhindern, lohnt zunächst ein Blick zurück. Die (west-)deutsche Industrie schien in der Vergangenheit bereits mindestens zweimal ernsthaft bedroht zu sein. Zu Beginn der 1980er Jahre ging man davon aus, dass die asiatischen Tigerstaaten (Japan, Südkorea und Taiwan) mit ihren geringen Löhnen und agilen Unternehmen die deutsche Industrie von den Weltmärkten fegen würden. Mitte der 2000er Jahre stand die EU-­Osterweiterung an. Für viele führende Ökonomen stand fest: Deutschland verkommt zur Basarökonomie. Hierzulande würden nur noch die Firmenschilder montiert, die eigentliche industrielle Produktion aber finde zu geringen Löhnen und Umweltstandards in den Ländern Mittelosteuropas statt. 

In der Tat haben die gravierenden Änderungen der Rahmenbedingungen durch die neue Konkurrenz deutliche Spuren in der deutschen Unternehmenslandschaft hinterlassen. Tragende Säulen der Nachkriegsindustrie, wie die Herstellung von Bekleidung und Spielwaren, sind nahezu von der Bildfläche verschwunden. Ehemals weltbekannte Unternehmen der Unterhaltungselektronik wie AEG und Telefunken gibt es heute nicht mehr. Und auch große Teile der Produkte, die in deutschen Maschinen und Autos stecken, kommen heutzutage aus Mittel- und Osteuropa. 

Herausforderungen des Strukturwandels bewältigen 

Dennoch zählt Deutschland heute zu den wenigen traditionellen Industrieländern, die sich trotz des Aufstiegs zunächst Japans und dann Chinas stabile Anteile an der Weltindustrieproduktion sichern konnten. Entscheidender Grund für diesen Erfolg war nicht die Senkung von Löhnen oder Umweltstandards, sondern die Spezialisierung auf hochwertige, flexible und kundenorientierte Industrieprodukte, also auf Innovation und Modernisierung. Wie sieht es heute aus? Kann die deutsche Industrie wieder einen Turnaround schaffen? Was ist nötig für die Modernisierung des Indus­trie­standortes? Antworten könnte der Blick auf die Herausforderungen für die Industrie geben, die eben überwiegend nicht national, sondern europaweit beziehungsweise global anstehen. Da ist zuvorderst der Klima­wandel, der eine Dekarbonisierung der industriellen Produktion nötig macht; und da sind die Veränderungen in der geopolitischen Lage, die Anpassungen der regionalen Produktionsstrukturen erfordern, um die Produktionsketten krisenfester und die industrielle Produktion widerstandsfähiger zu machen. 

Investitionen in grüne Technologien versprechen gute Erträge 

Ein solcher Strukturwandel stellt große Anforderungen an Innovationen und Investitionen. Den Löwenanteil davon werden die Unternehmen erbringen (müssen und wollen). Die Gewinnerwartungen an längerfristige Investitionen in alte (fossile) Technologien sinken tendenziell immer mehr. Die Ertragspotenziale von Investitionen in grüne Technologien sind dagegen hoch, gerade wenn sie mit Energieeinsparungen verbunden sind. Die systemischen Risiken allerdings sind bei Letzterem wegen der teils grundlegenden neuen Technologiepfade ebenfalls groß. 

In zentralen Innovationsfeldern wie der Elektromobilität oder der Wasserstofftechnologie hängt der Innovationserfolg eines einzelnen Unternehmens entscheidend davon ab, ob auch andere Unternehmen erfolgreich in die neuen Wertschöpfungsketten investieren: Ohne Ladeinfrastrukturen und Batterie­recycling keine erfolgreichen Elektroautos; ohne effiziente Wasserstoffaufbereitung und sichere Transportwege keine klimaneutrale Stahlproduktion. Derartige systemische Risiken können selbst große Unternehmen nicht allein tragen. Es kommt dann zu Innovations- und Investitionsblockaden, sprich zu Marktversagen. 

Ein ähnliches Phänomen tritt bei den Bemühungen auf, die Resilienz der industriellen Wertschöpfungsketten zu stärken. Mit der Risikovorsorge – wie Lagerhaltung, Diversifizierung und Rückgriff auf regionale Zulieferer – steigen die Kosten der global tätigen Unternehmen. Potenzielle Vorteile, die Unternehmen durch Direktzulieferungen in die Produktion (Just-in-time-Fertigung) und hohe Produktionsmengen (Skalenvorteile) haben, werden verschenkt. Im internationalen Wettbewerb können aber nur diejenigen Unternehmen bestehen, die die geringsten Kosten zu tragen haben. Kurzfristig wären dann immer die Unternehmen im Vorteil, die keine Risikovorsorge einpreisen. 

Europa kann seine industrielle Stärke durch Zusammenarbeit sichern 

Der derzeitige Investitionsstau, ausgelöst durch Marktversagen, kann nur durch einen starken Koordinator – den Staat – behoben werden. Er muss durch Absprachen und Kostenübernahmen die systemischen Risiken der Einführung grüner Technologie senken und Teile der Versicherungsprämie übernehmen, die die Resilienz industrieller Lieferketten stärken. Dabei geht es explizit nicht um eine generelle Investitionsförderung, egal ob über Zuschüsse oder Steuererleichterungen. Gefordert ist vielmehr eine aktive Rolle des Staates, der Grundsatzentscheidungen über technologische und ökonomische Entwicklungsrichtungen treffen muss.

Die Modelle dafür, wie die Politik (der Staat) ein solches Konzept umsetzen kann, sind unterschiedlich. Die USA setzen im Rahmen des Inflation Reduction Acts (IRA) auf Steueranreize, um die Unternehmen zu Innovationen und Investitionen in grüne Technologien zu bewegen. Gleichzeitig wird die Förderung an bestimmte Anteile heimischer Produktion geknüpft, um die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferfirmen zu verringern. China forciert die entsprechenden Technologieschübe über direkte Einflussnahme auf die großen Staatsunternehmen oder über hohe Einzelsubventionen wie im Fall der Elektromobilität.

In Europa sind für beide Strategien weder die ordnungspolitischen noch die rechtlichen Voraussetzungen vorhanden. In der EU fehlt es an einheitlichen staatlichen Finanzstrukturen, um einfache steuerliche Förderinstrumente einzusetzen. Die Zugriffsrechte auf Einzelunternehmen – selbst wenn sie einer staatlichen Beteiligung unterliegen – sind eng begrenzt. Deutschland allein wiederum fehlen die finanziellen und produktionstechnischen Kapazitäten, um grünen Technologien den Durchbruch zu ermöglichen. Was die EU-Staaten dagegen viel besser als die USA und China können, ist die Förderung von länderübergreifenden Verbundprojekten und von an den jeweiligen regionalen Ausgangslagen angepassten Infrastrukturprogrammen. Zudem kann die Einbindung des noch immer starken Mittelstands dafür sorgen, neue Wertschöpfung breit aufzustellen und tief zu verankern. 

Infrastruktur- und Industriepolitik müssen Hand in Hand gehen 

Ein in den letzten Jahren entwickeltes In­stru­ment strategischer Industriepolitik auf europäischer Ebene ist das der «Important Projects of Common European Interest» (IPCEI). Mit dem Instrument werden jeweils Vorhaben in mehreren Mitgliedsstaaten gefördert, die auf die industrielle Nutzung neuer Technologien zielen. Die Art und die Bedingung der Förderung werden für jedes IPCEI vom jeweiligen Mitgliedsstaat festgelegt. Neu ist, dass sich die Förderung bis unmittelbar vor die kommerzielle Nutzung im Rahmen einer Massenproduktion erstrecken kann und die europäischen Beihilfe­regeln für die Projekte gelockert wurden. Damit soll der Aufbau von Produktionskapazitäten über die gesamte Wertschöpfungskette ermöglicht werden. Im Fokus der bisherigen Verbundprojekte stehen neben der Mikroelektronik die Batteriezellenproduktion und die Wasserstoffnutzung. Soll dieses Instrument allerdings tatsächlich die Transformation und Resilienz der Industrie befeuern, ist es nicht nur breiter aufzustellen und finanziell um ein Vielfaches aufzustocken, sondern auch in seiner Umsetzung effizienter und transparenter zu organisieren – echter Bürokratieabbau also. Zentrale Aufgabe eines Infrastrukturprogramms ist es, die Erzeugungskapazitäten erneuerbarer Energien auszubauen. Dieser Ausbau ist in Deutschland zumindest angeschoben; so gibt es endlich mehr Solar- und Windanlagen. Erneuerbare Energie ist aber für die Industrie erst dann eine ernst zu nehmende Alternative, wenn auch die Infrastruktur für den Transport und die Speicherung von Wind- und Solarenergie massiv ausgebaut wird. Eine wesentliche Komponente sind dabei Ladeinfrastrukturen, damit sich beispielsweise Investitionen in die Elektromobilität lohnen.

Eine solche Doppelstrategie – von Industrie- und Infrastrukturpolitik – verlangt von der Politik nicht nur den Mut, wirtschaftliche Entwicklungspfade mitzubestimmen, sondern auch entsprechende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Der Ausbau der Infrastruktur wie der Umbau des industriellen Kapitalstocks erfordern erhebliche staatliche Investitionsfördermittel. Diese Strategie verspricht aber auch die baldige Aussicht auf hohe Erträge in Form sicherer und gut bezahlter Arbeitsplätze sowie hoher Steuereinnahmen für alle Gebietskörperschaften in Deutschland. Noch wichtiger ist, dass der erfolgreiche Wechsel zu erneuerbaren Energien und grünen Technologien in der Industrie hierzulande diese auch weltweit im Vergleich zu fossilen Methoden günstiger macht. Dies wiederum eröffnet Spielräume für klimaneutrales Wohlstandswachstum gerade in den Ländern des globalen Südens.


Martin Gornig ist Volkswirt und Stadtplaner und seit mehr als 30 Jahren in der Forschung und wissenschaftlichen Politikberatung tätig. Er ist Forschungsdirektor für Industriepolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und lehrt Stadt- und Regionalökonomie an der Technischen Universität Berlin. 

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