Nachhaltige Ernährungssysteme in Deutschland: Ökologischen Landbau und Agrarökologie verbinden

Hintergrund

Während der ökologische Landbau in Deutschland eine lange Tradition hat, ist die Agrarökologie noch weniger bekannt. Wie könnte eine Kombination der beiden Ansätze die dringend notwendige Transformation der Ernährungssysteme vorantreiben?

Vorstellung der gesamten Wertschöpfungskette des VORWERTS Projektes bei einer Bildungsveranstaltung im Rahmen des Großraumentdeckerfestes 2024, im Bild die Mühle mit der Weizen mit Brucherbsen sowie reine Erbsen vermahlen wurde.
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Vorstellung der gesamten Wertschöpfungskette des VORWERTS Projektes bei einer Bildungsveranstaltung im Rahmen des Großraumentdeckerfestes 2024.

Der ökologische Landbau hat in Deutschland eine lange Tradition, wird durch ein etabliertes Zertifizierungssystem unterstützt und ist bei Erzeuger*innen und Verbraucher*innen gleichermaßen bekannt. Im Gegensatz dazu ist die Agrarökologie mit ihrem umfassenden, ganzheitlichen Ansatz für Agrar- und Ernährungssysteme in Deutschland noch weniger bekannt. Folglich ist sie noch nicht zu einem grundlegenden Konzept geworden, insbesondere bei landwirtschaftlichen und verarbeitenden Betrieben. Der Praxis fehlt ein klarer Rahmen, um sich an den Leitprinzipien der Agrarökologie zu orientieren, die ökologische, soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen integrieren.

In diesem Artikel untersuchen wir den aktuellen Stand und die praktische Anwendung der Agrarökologie in Deutschland und gehen der Frage nach, wie eine Kombination mit dem ökologischen Landbau die dringend notwendige Transformation der Ernährungssysteme vorantreiben könnte.

Ökologischer Landbau in Deutschland

In Deutschland entwickelte sich der ökologische Landbau im 20. Jahrhundert als Reaktion auf ökologische und wirtschaftliche Krisen. Die ersten Vorreiter*innen verzichteten auf bestimmte landwirtschaftliche Betriebsmittel wie chemische Pestizide. Stattdessen konzentrierten sie sich auf geschlossene Nährstoffkreisläufe mit Düngemitteln aus eigener Produktion und kombinierten Tierhaltung mit Ackerbau und Grünlandnutzung. Auch ethische Überlegungen und ein wachsendes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Natur und den Verbraucher*innen spielten eine wichtige Rolle. 

Bei den Pflanzen handelt es sich um Winterweizen (Sorte Wiwa) und Körnererbsen, die im Gemenge im Rahmen des VORWERTS Projektes angebaut wurden.
Mischanbau von Winterweizen (Sorte Wiwa) und Körnererbsen im Rahmen des VORWERTS Projektes.

Die Kernmotivation der Pionier*innen des ökologischen Landbaus - die enge Verbindung zwischen der Gesundheit des Bodens, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen und des gesamten Ökosystems Erde - spiegelt sich in Praktiken des ökologischen Landbaus, wie Fruchtfolge, Kompostierung und der Verwendung ökologischer Betriebsmittel, wider. Ein umfassendes EU-weites Zertifizierungssystem sowie zusätzliche private Standards von Verbänden des ökologischen Landbaus gewährleisten eine hohe Produktqualität und -sicherheit für Verbraucher*innen. Dieses System garantiert unter anderem, dass im ökologischen Landbau keine synthetischen Düngemittel, chemischen Pestizide oder genetisch veränderten Organismen (GVO) verwendet werden. 

Die immer umfangreicheren Dokumentationspflichten und Kontrollen für landwirtschaftliche Betriebe, Mühlen, Bäckereien, Molkereien und viele andere Hersteller*innen von Bio-Lebensmitteln bringen jedoch auch bürokratische und finanzielle Belastungen mit sich, die besonders für kleinere Betriebe eine Herausforderung darstellen können.

Heute sind der ökologische Landbau sowie die Erzeugung von und der Handel mit ökologischen Lebensmitteln gut etabliert und weithin anerkannt. Deutschland ist sowohl der größte Markt für Bioprodukte in Europa als auch der führende Bioproduzent gemessen an der Gesamtproduktion. Die deutsche Regierung hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, den ökologischen Landbau bis 2030 auf 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche auszuweiten. Im Jahr 2023 lag der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche bei etwa elf Prozent. Trotz stetiger Zuwächse sind das 30-Prozent-Ziel in Deutschland und das 25-Prozent-Ziel der EU für den ökologischen Landbau noch weit entfernt. Selbst wenn Deutschland dieses Ziel erreichen sollte, würden immer noch 70 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche konventionell bewirtschaftet. Um sich an die globalen multiplen Krisen anzupassen, muss auch die konventionelle Landwirtschaft nachhaltiger und damit widerstandsfähiger werden.

Der Stand der Agrarökologie in Deutschland

Im deutschen Kontext basiert die Agrarökologie auf ökologischen Grundsätzen und teilt mit dem ökologischen Landbau ein grundlegendes Verständnis von Kulturland als Ökosystem. Es zielt darauf ab, externe industrielle Inputs zu reduzieren, die Umweltbelastung zu minimieren und die Biodiversität sowie die Gesundheit von Tieren und Böden zu verbessern. 

Die Kernelemente der Agrarökologie, definiert als "Wissenschaft, Bewegung und Praxis"1, gehen jedoch über die ökologische Dimension des ökologischen Landbaus hinaus. Agrarökologie ist kein starres Modell, sondern ein dynamischer Prozess, der die sozialökologische Transformation von Ernährungssystemen vorantreibt und sich an den 13 Prinzipien der Agrarökologie orientiert, die von der UN-Expertengruppe für Ernährungssicherheit und Ernährung in Rom (HLPE) definiert wurden. Dazu gehören die Schaffung eines sozial gerechten Systems mit fairen Löhnen für Arbeitnehmer*innen und fairen Preisen für Landwirt*innen sowie verarbeitende Betriebe, Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette auf lokaler Ebene und partizipative Entscheidungsfindung.

Die Agrarökologie setzt auf Vertrauen und lokale Beziehungen, die auf sozialer und ökologischer Verantwortung beruhen, sowie auf die Selbstregulierung durch die Erzeuger*innen. Durch die Förderung enger Verbindungen zwischen Landwirt*innen, Lebensmittelhandwerk und Verbraucher*innen stärkt die Agrarökologie häufig die lokalen und regionalen Märkte. Als ganzheitlicher Ansatz umfasst die Agrarökologie nicht nur landwirtschaftliche Praktiken, sondern auch die nachgelagerten Stufen der Lebensmittelproduktion und das breitere Lebensmittelsystem.

"Saatgut-Tour" durch Deutschland und Österreich. Hier: Müller, BäckerInnen, WissenschafterInnen, Bauern, Menschen aus der Zivilgesellschaft bei einem Workshop auf dem Dottenfelder Hof zum Thema "Biologische Getreidezüchtung und Verarbeitung".
Müller, Bäcker*innen, Wissenschafter*innen, Bauern, Menschen aus der Zivilgesellschaft bei einem Workshop auf dem Dottenfelder Hof zum Thema "Biologische Getreidezüchtung und Verarbeitung".

Die Agrarökologie bietet somit Orientierung und Prinzipien für ein Ernährungssystem, das auf Vielfalt, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aller Beteiligten beruht - mit dem Ziel, Ernährungssouveränität zu erreichen und das Menschenrecht auf angemessene Nahrung zu verwirklichen. Zu den wichtigsten Prinzipien bei der Entwicklung agrarökologischer Strukturen in Deutschland gehören:

  • Berücksichtigung der Produktivität des gesamten Ernährungssystems, anstatt sich nur auf die Hektarerträge einzelner Sorten zu konzentrieren
  • Diversifizierung der Produktion und Förderung positiver Wechselwirkungen und Synergien zwischen Pflanzen, Tieren, Boden, Wasser und Menschen, die zu einer größeren Vielfalt in der Ernährung sowie zu einer größeren Stabilität der Produktion gegenüber äußeren Einflüssen oder Stressfaktoren wie extremen Wetterbedingungen führen
  • Kombination von traditionellem, lokalem Wissen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
  • Erweiterung und Austausch von Wissen und Erfahrungen über die verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette - von der Züchtung bis zum Endprodukt
  • Vermeidung des Einsatzes externer Betriebsmittel wie Agrochemikalien oder GVO, da dies die biologische Vielfalt und die Ökosysteme bedroht, traditionelle Arten verdrängt, den Herbizideinsatz erhöht und Abhängigkeiten von großen Biotech-Unternehmen schafft, was im Widerspruch zu den Werten der Agrarökologie (Unabhängigkeit und Selbstbestimmung) steht

Agrarökologie als ganzheitliches Konzept ist in Deutschland noch relativ unbekannt. Selbst diejenigen Betriebe, die verschiedene Prinzipien der Agrarökologie in ihre Arbeit einfließen lassen, sind mit dem Begriff und dem zugrunde liegenden Konzept oft nicht vertraut. Anders als in Ländern wie Brasilien oder Indien gibt es in Deutschland derzeit keine sichtbare und weit verbreitete soziale Bewegung für Agrarökologie. Oft wird das Konzept vor allem als relevant für den Globalen Süden oder als akademische Disziplin angesehen. Einzelne Projekte und Akteure aus Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft wenden jedoch bereits agrarökologische Praktiken an, meist ohne den Begriff explizit zu verwenden. 

VORWERTS-Projekt: Nachhaltige Landwirtschaft durch Mischkulturen

Workshop im Rahmen des VORWERTS Projektes. BäckerInnen, Bauern und WissenschaftlerInnen bei der sensorischen Bewertung von Broten, gebacken aus Weizenmehl mit unterschiedlichen Anteilen von Körnererbsen.
Workshop im Rahmen des VORWERTS Projektes.

Ein konkretes Beispiel für Agrarökologie in der Praxis ist das deutsche Projekt VORWERTS, das sich mit der Produktion und Verarbeitung von Backweizen beschäftigt, der zusammen mit Erbsen angebaut wird. Dieses Reallabor bringt landwirtschaftliche Biobetriebe, Mühlen, Bäckereien, Verbraucher*innen und Wissenschaftler*innen zusammen, um in einem offenen, ko-kreativen Prozess innovative Lösungen für die landwirtschaftlichen Herausforderungen im Kontext des Klimawandels zu entwickeln.

Das Projekt bewertet die agronomische Leistung und die Backqualität der Mischkulturen im Vergleich zu konventionellem Weizen und konzentriert sich dabei auf die Optimierung der Korntrennung, Reinigung, Vermahlung und Verarbeitung. Während das Hauptziel darin besteht, die Weizenproduktion für das Backen zu verbessern, besteht auch ein großes Interesse an der Verwendung von Hülsenfruchtmehl. Die Bäckereien experimentieren mit verschiedenen Anteilen von Erbsenmehl in ihren Rezepten, danach werden die Ergebnisse sensorisch bewertet. Um Potenziale zur Prozessoptimierung zu identifizieren, wird der Weizen aus dem Mischanbau in zwei Backkampagnen von den Bäckereien verarbeitet und vermarktet. Darüber hinaus werden Verkaufstests und Befragungen durchgeführt, um Erkenntnisse über die Akzeptanz des "Brotes aus dem Mischanbau" bei den Verbraucher*innen zu gewinnen.

Workshop für Kinder auf einem Hof, der Praxispartner des VORWERTS Reallabors ist. Im Bild erneut die Mühle, die zur Vermahlung des Gemenges eingesetzt wird
Workshop für Kinder auf einem Hof, der Praxispartner des VORWERTS Reallabors ist.

Synergien bei der Gestaltung von nachhaltigen Ernährungssystemen nutzen

In einer Zeit, in der die industrielle Landwirtschaft zu Umweltzerstörung, Verlust der biologischen Vielfalt und sozialen Ungleichheiten geführt hat, bieten Agrarökologie und ökologischer Landbau zwei sich ergänzende Wege in eine nachhaltigere Zukunft. Agrarökologische Grundsätze können den ökologischen Landbau bereichern, indem sie eine ganzheitlichere Sichtweise fördern, soziale und politische Überlegungen einbeziehen und den Blickwinkel auf Auswirkungen erweitern, die über den landwirtschaftlichen Betrieb hinaus auf die Umwelt und die Gesellschaft reichen. 

Das System des Vertrauens und der lokalen Beziehungen mit sozialer und ökologischer Verantwortung schließt auch kleinere Lebensmittelproduzent*innen ein, die sich eine Zertifizierung nicht leisten können, denen der bürokratische Aufwand zu hoch ist oder die sich nicht mit dem Image des ökologischen Landbaus identifizieren wollen. Daher hat die Agrarökologie das Potenzial, die Umstellung auf nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken auf mehr als den angestrebten 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland zu beschleunigen. Gleichzeitig kann die Öko-Zertifizierung agrarökologischen Betrieben einen Marktvorteil verschaffen, da sie so Verbraucher*innen erreichen können, die zertifizierte Öko-Produkte bevorzugen. 

Beiden Ansätzen gemeinsam ist das Engagement für Nachhaltigkeit, Umweltschutz und die Reduzierung externer Betriebsmittel in der Landwirtschaft. Indem sie die Stärken beider Systeme kombinieren, können Landwirt*innen widerstandsfähige, an die lokalen Bedingungen angepasste Agrarlandschaften schaffen, die den Planeten und seine Bevölkerung ernähren. 

Fußnoten