G20 in Brasilien: Wie der Globale Süden die neue Weltordnung mitgestalten kann

Kommentar

Der G20-Gipfel in Brasilien soll globale Governance verändern: Der Globale Süden will die Zukunft aktiv mitgestalten für mehr soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und digitale Teilhabe. 

16.11.2024 - Abschlussveranstaltung des G20-Sozialgipfels

Die Welt ist geprägt von multipolaren Krisen, Ungleichheiten, schwerwiegenden Konflikten und den Auswirkungen der Klimakrise. Den Herausforderungen dieser Ausgangslage begegnet die brasilianische Präsidentschaft der G20 seit Beginn des Jahres 2024 mit dem Ziel „eine gerechte Welt und einen nachhaltigen Planeten aufzubauen.“ Die Staatschefs des G20-Forums treffen sich vom 18. bis 19. November in Rio de Janeiro, um eine gemeinsame Erklärung und Vereinbarungen zu konkretisieren.

Bei der außerordentlichen Sitzung der Liga der Arabischen Staaten in Kairo im Februar 2024 erklärte der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, dass die Vereinten Nationen und die globale Governance überdacht werden müssen. Er betonte: „Es kann nicht sein, dass die Vereinten Nationen von den Ländern regiert wird, die im Zweiten Weltkrieg gesiegt oder verloren haben. Es ist wichtig zu bedenken, dass sich die Welt verändert hat; die globale Geopolitik hat sich verändert.“

Diese Haltung spiegelt eine wachsende Entschlossenheit des Globalen Südens wider, die Architektur der globalen Governance neu zu gestalten. Brasilien, Indien und Südafrika übernehmen nacheinander die G20 Präsidentschaft (2023, 2024, 2025) und zeigen dadurch den zunehmenden Einfluss des Globalen Südens mit seinen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Prioritäten auf globale Politik.

Die G20 wurde gegründet, um zukünftige Krisen zu verhindern und Konsense zu globalen Finanz- und Wirtschaftsthemen zu bilden. Die G20 hat sich zu einem umfassenden Forum entwickelt, das die 19 reichsten Nationen der Welt sowie die Europäische Union und nun auch die Afrikanische Union vereint. Lateinamerika ist in dem Forum mit Argentinien, Brasilien und Mexiko vertreten, die das Forum 1999 mitgegründet haben. Mit dem Forum der G20 wir deutlich, dass sich die Weltwirtschaft verändert, Schwellenländer gewachsen sind und der Einfluss der G7-Länder abnimmt. 

Ein Schlüsselmerkmal der brasilianischen G20-Präsidentschaft 2024 ist G20 Social, die offizielle Plattform zur Einbindung der Zivilgesellschaft. Im Rahmen der G20 Social sind alle Engagement-Gruppen und weitere nichtstaatliche Akteure eingeladen, ihre Forderungen direkt in das internationale Forum einzubringen. Dafür hat die brasilianische Regierung rund 30 G20-Social-Treffen geplant, die in einem Gipfel unmittelbar vor dem G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs (18. und 19. November 2024) ihren Höhepunkt finden sollen. Trotz dieses Fortschritts bleibt der Zugang zu Finanzverhandlungen, die weiterhin traditionell hinter verschlossenen Türen stattfinden, eine große Herausforderung.

Chancen und Herausforderungen für die Zivilgesellschaft

Die formale Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die G20 ist eine beispiellose Öffnung des Forums. Die Engagement-Gruppen, wie das C20 (Civil Society 20) und das T20 (Think Tanks 20), wollen gesellschaftliche Anliegen in die globale Debatte einbringen, als direkte Brücke von den Bedürfnissen der Bevölkerung zur Gestaltung globaler Politiken.

Auch Partnerorganisationen der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien engagieren sich aktiv in den Engagement-Gruppen. Dank ihrer Mitwirkung an den G20-Kommuniqués erreichen die Perspektiven der Zivilgesellschaft die öffentlichen Diskussionen. Das  G20-Dossier der Stiftung dokumentiert die Eingaben (Englisch und Portugiesisch).

Henrique Frota, Präsident der C20-Gruppe Brasilien und Direktor der Brasilianischen Vereinigung der Nichtregierungsorganisationen (Abong), betont, dass die vollständige Einbeziehung der Zivilgesellschaft auch in die finanziellen Dialoge des G20 noch verhandelt würde. Erstmals seit der Gründung des C20 Forums im Jahr 2008 gab es unter der brasilianischen Präsidentschaft eine vorsichtige Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft auch in den Finanzsektor. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft wurden erstmals in den Arbeitsgruppen der Finanzminister empfangen und konnten an den Diskussionen mit den Entscheidungsträger*innen teilnehmen.

Inklusive digitale Governance

Ein weiterer zentraler Punkt der brasilianischen G20-Agenda ist die Digitalisierung: Künstliche Intelligenz (KI), Datenschutz und -management und Zugang zu digitalen öffentlichen Infrastrukturen (DPI) stehen im Mittelpunkt der Diskussionen.

Vertreter*innen der Zivilgesellschaft fordern antirassistische und dekoloniale Ansätze bei der Entwicklung dieser Technologien und bei der Verarbeitung der gesammelten Daten. Zudem müssen sich die Betreiber sozialer Netzwerke an die Regulierungen und Gesetze des jeweiligen Landes halten. Die Arbeitsgruppen des C20 und die Task Force des T20 erarbeiteten eine Agenda, die Digitalisierung zugänglich und gerecht gestaltet und verhindert, dass technologische Ungleichheiten vertieft werden.

Ein Beispiel dafür ist der Dialog zwischen der Arbeitsgruppe für inklusive digitale Transformation der C20 mit der Task Force für Digitalisierung und Technologie des T20. Beide Gruppen konzentrieren sich auf die Demokratisierung neuer Technologien und schlagen regulatorische Maßnahmen vor, um den gleichberechtigten Zugang zum Internet, Datenschutz und Maßnahmen gegen Desinformation sicherzustellen – Themen, die an Bedeutung gewonnen haben, da die KI in Brasilien und anderen Ländern ohne angemessene Regulierung voranschreitet.

Arbeitsgruppen zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit

Im Bereich der sozialen Gerechtigkeit soll vor allem eine Vielfalt an Stimmen Gehör bekommen. Die brasilianische G20-Präsidentschaft möchte Frauen, Afrobrasilianer*innen, LGBTQIA+ und junge Menschen in globale Dialoge einbeziehen. Ihre Repräsentanz in den G 20 Prozessen soll sicherstellen, dass globale Politik die Perspektiven historisch marginalisierter Bevölkerungsgruppen widerspiegeln kann. Bewegungen wie die der Zentralen Union der Favelas (CUFA) und die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter*innen (MTST) waren bei den Debatten vertreten. Sie forderten soziale Gerechtigkeit in globaler Politik aufzugreifen und soziale-, ethnische- und Geschlechterungleichheiten auch in Klimapolitik und Politik für Energiewende einzubeziehen.

Umweltgerechtigkeit und der Weg zur COP30

Brasilien ist auch Gastgeber der nächsten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention (COP30) im Jahr 2025. Dort hat es die Chance Agrarökologie, kleinbäuerliche Landwirtschaft und klimafokussierte Technologien in den Fokus zu rücken. Gemeinsam unterstreichen ein Jahr vorher schon im Rahmen der G20 die Arbeitsgruppe Umwelt und Klimagerechtigkeit des C20 und die Task Force für gerechte Energietransition des T20 die Dringlichkeit ambitionierter Maßnahmen, um die Auswirkungen des Klimawandels zu bekämpfen, insbesondere zum Schutz der am stärksten gefährdeten Länder.

Die Öffnung für den Globalen Süden

Neben den G20-Präsidentschaften der BRICS Länder Brasilien, Indien und Südafrika signalisiert auch der Beitritt der Afrikanischen Union zur G20 im September 2023 auf Einladung Indiens die zunehmende Bedeutung des Globalen Südens. Die Aufnahme der AU zeigt, dass die Interessen und Perspektiven des afrikanischen Kontinents ernst genommen werden.

Der G20-Gipfel in Brasilien steht symbolisch für einen Wandel der globalen Governance. Mit dem Fokus auf soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und digitale Inklusion zeigt sich, dass der Globale Süden bereit ist, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Dabei bleibt entscheidend, wie die neuen Strukturen die Stimmen der Zivilgesellschaft berücksichtigen und ob die gesetzten Ziele langfristig in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden.


Unser englischsprachiges Webdossier zur #G20 in Brasilien findet ihr hier.