Das Interview fühten Gitte Cullmann und Angela Erpel Jara*.
Antonia Orellana, Sie waren als Schülerin und Studentin in verschiedenen Protestbewegungen aktiv, heute bekleiden Sie ein Ministeramt. Warum sind Sie in die Politik gegangen? Gab es einschneidende Erlebnisse oder Erfahrungen?
Ich komme aus einer Familie, die politisch mitte-links einzustufen ist. Demonstrieren war mir also nicht fremd. Ich bin 1989 geboren und kann mich sogar an die Demonstrationen von 1992 erinnern, an denen meine Familie teilnahm. Ich habe auch gegen den Studienkredit CAE des chilenischen Staates protestiert, der zu einer hohen Verschuldung führte. Das alles war aber weniger eine bewusste Entscheidung. Es war eher eine natürliche Entwicklung.
Sie haben sich schon sehr früh der Student*innenbewegung angeschlossen. Wie kam es dazu?
Ende 2006 stand ich auf der Wahlliste meines Gymnasiums, um meine Kommiliton*innen in der Schulverwaltung zu vertreten. Im Gegensatz zu der großen Protestbewegung der Schüler*innen und Studierenden im Jahr 2011 und 2012 war die von 2006 allerdings eher unpolitisch. Von meinen Mitschülerinnen im Gymnasium hat sich danach auch keine mehr engagiert, obwohl sie damals sehr motiviert waren. So kam es, dass ich mich schon früh der Student*innenbewegung angenähert habe. Trotzdem war ich im Grunde eine Schülerin wie alle anderen.
Sie haben dann Journalismus studiert. Welche konkreten Projekte haben Sie an der Uni verfolgt?
Wir haben damals eine Organisation mit dem Namen «Schule für volksnahe Kommunikation» gegründet. Das war noch vor der Zeit, als alles digital wurde. Wir haben im Grunde sehr einfache Social-Media-Taktiken für soziale Bewegungen und Presseorganisationen entwickelt und eingesetzt. Als dann die große Digitalisierung begann, habe ich bei mehreren Organisationen mitgearbeitet. Aber so richtig aktiv wurde ich um 2014, nachdem Melissa Sepúlveda zur Vorsitzenden der Föderation der Student*innen der Universität von Chile (FECH) gewählt worden war. Ich war Teil ihres Wahlkampfteams und später ihres Arbeitsteams und engagierte mich von da an mehr oder weniger im eben beschriebenen Spektrum.
War das der erste Schritt hin zur organisierten Interessensvertretung, zur institutionellen Politik?
Ich denke ja, immerhin handelt es sich um eine Föderation von Student*innen. In der Universität ist genau geregelt, wie, wo und von wem sie repräsentiert werden, zum Beispiel im Universitätsrat, aber auch in der Verwaltung. Ja, ich denke, dass sich hier mein Weg schon angedeutet hat, insbesondere im Hinblick auf mein Engagement im Feminismus.
Welche Rolle spielte denn der Feminismus in dieser Zeit für Sie?
Es war immer eine Art Zwiespalt, denn in jenen Jahren war es nicht sehr üblich, Feministin und gleichzeitig Parteimitglied zu sein. Es gab keine feministischen Gremien in den Parteien. Man musste sich irgendwann zwischen der Bewegung und der Partei entscheiden. Ich habe mich für die Partei entschieden und war dann eine von nur wenigen parteipolitisch engagierten Feministinnen. Es gab natürlich Frauenrechtlerinnen, zum Beispiel im Netzwerk Red Chilena, aber sie waren nicht mehr wirklich aktiv. Oder sie waren, wie manche sagen, «schlafende» Mitglieder der Bewegung der Einheitlichen Volksaktion, MAPU oder der Sozialistischen Partei PS.
Haben Sie wegen dieser Entscheidung Schwierigkeiten bekommen oder wurden Sie auch unterstützt?
Paulina Weber Ubilla hat mich damals an die Hand genommen. Sie selbst war ja eine linke Aktivistin und bis zu ihrem Tod im Jahr 2020 Mitglied von MEMCH, der 1938 gegründeten Emanzipationsbewegung chilenischer Frauen. Sie sagte mir damals, ich solle nicht auf aktive Parteipolitik verzichten. Aber es gab schon Spannungen, vor allem während der Wahlkämpfe. Man brachte mich natürlich mit Red Chilena in Verbindung, was den Mitgliedern des Netzwerkes gar nicht gefiel, allein schon, weil sich dort ja politisch vielfältige Stimmen zusammengefunden hatten. Das heißt, wir mussten sehr vorsichtig sein.
Wie blicken Sie heute auf Ihre Entwicklung: weg von einem eher autonomen Basis-Aktivismus hin zur institutionellen Politik?
Nun, meiner Meinung nach war es kein konventioneller Übergang. Denn tatsächlich sind ich und meine Mitstreiter*innen ja nicht einer traditionellen Partei beigetreten, sondern haben eine neue politische Kraft gegründet, die Partei Convergencia Social (CS). Und wir wollten, dass sich viele Feministinnen beteiligen. Ich habe mich übrigens immer dagegen gesträubt, über das Alter der Politiker*innen und Aktivist*innen des Frente Amplio zu sprechen und überhaupt die ganze Diskussion auf eine Generationenfrage zu reduzieren, was ja immer wieder thematisiert wird. Klar, wir sind ein junges Kabinett, aber wir haben die ganze Gesellschaft im Blick. Unser Hauptansatz besteht darin, den subsidiären Staat zu ändern, also den Staat, der öffentliche Basisdienstleistungen an private Unternehmen auslagert. Und das ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt.
Sie wollten ausdrücklich Feministinnen ins Boot holen. Hat sich beim Verhältnis von Aktivismus und institutioneller Politik jetzt etwas verändert in Chile?
Die sozialen Organisationen waren ja eigentlich immer politisch sehr engagiert. Fast alle Mitglieder der MEMCH-Bewegung und die Suffragetten waren Kommunistinnen. Mit dem «Verdammten Gesetz», wie es genannt wird, das 1948 die KP Chile verbot, begann das berühmte feministische Schweigen zu politischen Themen. Viele MEMCH-Mitglieder blieben zu Hause – nicht, weil es unter feministischen Gesichtspunkten nichts mehr zu kämpfen gab, sondern weil sie während der Pinochet-Diktatur damit rechnen mussten, im Konzentrations- und Folterlager von Pisagua zu landen. Bei der Gelegenheit: Ich glaube, wir begehen in der feministischen Bewegung manchmal den Fehler, unseren Weg als einen sehr außergewöhnlichen zu sehen. Tatsächlich waren alle sozialen Bewegungen auseinandergerissen worden: die Gewerkschaftsbewegung, auch die Studentenbewegung, die sich erst 1997/98 wieder formiert haben.
Sie sind den Weg vom Aktivismus in die institutionelle Politik sehr früh gegangen. Wie würden Sie aus Ihrer Erfahrung heraus jeweils die Grenzen und Chancen beschreiben?
Beides hat sein Gutes. Aktivismus ist natürlich etwas sehr Fließendes, sehr Selbstgesteuertes. Man entscheidet, welche Richtung man einschlägt. Das Gute der politischen Organisation besteht darin, freiwillig die kollektive Entscheidung über die individuelle zu stellen. In diesem Sinne sind Aktivismus und Parteipolitik natürlich unterschiedliche Wege, aber ich denke, sie brauchen einander. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ohne Aktivismus etwas erreicht wird. Aber ich glaube, dass es ohne politische Parteien eben auch nicht geht.
Wie war es für Sie, zur Ministerin ernannt zu werden, auf einmal im Rampenlicht zu stehen, Mitglied eines großen Apparates zu sein?
Als Journalistin und Angestellte im Rektorat der Universität von Chile hatte ich schon vorher mit den Behörden zusammengearbeitet. Es war also nicht mein erster Kontakt mit der öffentlichen Verwaltung. Auch kannte ich das Problem, der öffentlichen Meinung ausgesetzt zu sein. Aber es gibt etwas, was man vielleicht nicht richtig abwägt, und das sind die Auswirkungen auf die Familie. Denn es ist etwas anderes, wenn man so jung ist wie ich. Mit 35 Jahren bin ich zwar nicht so jung, aber alle meine Schwestern und Cousins und Cousinen sind natürlich mehr oder weniger in meinem Alter. Sie stehen mitten im Berufsleben und haben noch keine gesicherten Karrieren.
Was konkret hat denn Ihre Familie als Folge Ihres Ministerpostens erlebt?
Zum Beispiel, dass meine Schwester, die Filmproduzentin ist, von Gesetz wegen als enge Verwandte einer Amsträgerin keinen Zugang zu öffentlichen Mitteln hat. Bevor ich das Amt annahm, hatte ich auch an meinen Sohn gedacht und daran, was die gesteigerte Aufmerksamkeit mit ihm macht, aber mit dieser Art von Folgen für die anderen Menschen in meinem direkten Umfeld hatte ich nicht gerechnet.
Mit Blick auf den Präsidentschaftswahlkampf, auf die gesellschaftlichen Umwälzungen, die Verfassungsreform, auf Ihre nicht einfache Arbeit in der Regierung: Was motiviert Sie im heutigen Chile, weiter Politik zu machen?
In der Politik gibt es Dinge, die motivieren, und andere, die sehr demotivierend sind. Ermutigt hat zum Beispiel der erste Kongress zur nicht-sexistischen Erziehung und Bildung, den ich 2014 gemeinsam mit Kommilitoninnen an der Universität von Concepción organisiert habe. Mit nur rund 50 Euro, also fast ohne Geld. Das zeigt, dass es eine öffentliche Form gibt, die Konflikte im offenen Austausch zu lösen. Toll waren auch die landesweiten Tagungen zur nicht-sexistischen Erziehung und Bildung, die in weit über 70 Prozent der Schulen ab der 7. Klasse stattfanden. All das zeigt, dass es Gründe gibt, weiterzukämpfen. Außerdem bin ich nicht allein. Auch wenn ich diejenige in der Regierung bin, die man kennt: Wir sind eine ganze Generation. Ich meine damit nicht, dass wir das gleiche Alter haben, sondern einen gemeinsamen Nenner. Wir alle arbeiten daran, dass der Frente Amplio Erfolg hat. Dazu gehört auch, die feministische Frage in den Vordergrund zu rücken.
Was war während Ihres Lernprozesses als Ministerin das Wichtigste? Was würden Sie besonders hervorheben?
Ich denke, dass zwei Dinge relevant sind. Zum einen sollte man nicht so tun, als wäre alles neu und würde zum ersten Mal geschehen. Es wird oft gesagt, dass diese Regierung mit noch nie dagewesenen Hindernissen oder noch nie dagewesener Feindseligkeit seitens der Presse konfrontiert ist. Ich weiß nicht, ob unsere Regierung und unser Präsident besser oder schlechter behandelt werden als andere. Oder ob es nicht auch andere Regierungen gab, die einen solchen Anstoß zum Wandel erlebten und sich einer so starken Opposition gegenübersahen. Darauf würde ich nicht wetten. Ich denke, der Unterschied ist, dass wir jedes Jahr Wahlen hatten. Das war schon großes Pech. Aber es war eine wichtige Erfahrung, aus der wir gelernt haben.
Und der zweite Punkt?
Der hat mit dem Altersunterschied und Vielfältigkeit zu tun. Es ist wichtig, andere Erfahrungen und Hintergründe miteinzubeziehen. Nicht alle haben einen feministischen Hintergrund, was meiner Meinung nach eine gute Sache ist. Das klingt jetzt vielleicht wie Managementgerede, aber ich denke, dass die Bandbreite beziehungsweise Vielfalt innerhalb der Teams sehr wichtig ist.
Vor Ihnen liegen noch zwei Jahre Regierungszeit. Wie werden die aussehen?
Das Thema Pflege ist uns derzeit besonders wichtig, es soll ein Schwerpunkt der Regierung von Präsident Gabriel Boric werden. Wir möchten einen neuen Blick werfen, was Wohlstand bedeutet. Wir stellen uns dieser Diskussion bisher nicht so wie die Europäer*innen. Warum nicht? Weil sie in Wohlfahrtsstaaten leben und wir nicht. Schon allein deshalb gibt es hier eine andere Vorstellung davon, was soziale Sicherheit bedeutet. Ich glaube, dass die Linken heute einen großen Fehler machen, wenn sie in eine Welt zurückkehren wollen, die nicht mehr existiert – mit der Idee im Kopf, dass ein Arbeitsvertrag der Weg zu sozialem Wohlstand ist.
Was ist Ihre Antwort darauf?
Mit unserem Entwurf für ein chilenisches Gesetz zur Unterstützung und Pflege wollen wir zeigen, dass die Pflege ein gesellschaftliches Anliegen ist und nicht ein durch Geldzahlungen lösbares individuelles Problem. Das wird nicht einfach werden und Zeit brauchen. Ich glaube aber, dass dies für die Länder, die nie eine Sozialfürsorge hatten, eine Gelegenheit ist, diese Idee neu zu diskutieren. Wir können auch die Kritik am subsidiären Staat neu debattieren. Der Frente Amplio und die Ministerin für Entwicklung und Familie, Javiera Toro Cáceres, zeigen, dass es einen anderen, einen chilenischen Weg zur Fürsorge und zum Wohlfahrtsstaat gibt.
Neben der Pflege ist auch das Thema Schwangerschaftsabbruch ein zentrales Anliegen feministischer Politik und derzeit wieder hochumkämpft. Was hat sich bisher getan, wo steht die Debatte heute?
Ich glaube, dass die gesellschaftliche Entkriminalisierung in den letzten Jahren stark an Fahrt aufgenommen hat. Als ich anfing, aktiv in der Linken mitzuarbeiten, wurde ich beinahe aus einer Organisation ausgeschlossen, weil ich einen Workshop abgehalten habe, in dem über Schwangerschaftsabbruch diskutiert wurde. Das Recht auf einen selbstbestimmten und freien Schwangerschaftsabbruch war und ist in ganz Lateinamerika sehr wichtig und wir werden deshalb unsere Strategie der sozialen Entkriminalisierung beharrlich weiterverfolgen. Im Kongress wird das eine schwierige Debatte werden. Wie aber andere Erfahrungen, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung um das Scheidungsrecht, gezeigt haben, helfen nur die offenen Debatten wirklich weiter, wenn wir einen Wandel im gesellschaftlichen Denken erreichen wollen.
Wie sehen Sie die Rolle der internationalen Organisationen als politische Akteure bei Ihren Themen?
Wir haben uns sehr stark für den interamerikanischen Zusammenschluss eingesetzt, zum Beispiel mit der Konvention von Belém do Pará zur Verhinderung, Bestrafung und Eliminierung von Gewalt gegen Frauen. Andere lateinamerikanische Linke haben sich entschieden, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu verlassen, weil sie mit Teilen des Führungspersonals nicht einverstanden waren. Dieses Vakuum haben nun antidemokratische Gruppen gefüllt. Gerade für die chilenischen Frauen war das interamerikanische Menschenrechtssystem immer wichtig, um Fortschritte bei der Konvention von Belém do Pará zu erzielen. Wir haben uns sehr stark für eine Mitgliedschaft in der OAS eingesetzt, mit allem, was sie mit sich bringt und was nicht immer positiv ist.
Können Sie ein Beispiel nennen für diesen Einsatz?
Für Lidia Casas, eine chilenische Juristin, die für die Interamerikanische Menschenrechtskommission kandidiert hatte, war es eine sehr undankbare Erfahrung, dass lokale antidemokratische Gruppen Kampagnen gegen sie in Washington gefahren haben. Durch die Süd-Süd-Kooperation und mit 144 Stimmen hauptsächlich von Ländern mittleren Einkommens haben wir jetzt erreicht, dass Patsilí Toledo, auch eine chilenische Juristin, die sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzt, zum ersten chilenischen Mitglied des Ausschusses der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau gewählt wurde. Das war so wichtig. Als Trump sein Amt antrat, gerieten das internationale Menschenrechtssystem und dessen Behörden in eine Finanzierungskrise, weil die Vereinigten Staaten viele Gelder gekürzt hatten. Dazu kommt, dass das Konzept der Menschenrechte vielen nicht ganz klar ist und dass es von konservativen und rechten Parteien auf eine linke Ideologie reduziert wird.
Wie blicken Sie auf die globalen Herausforderungen für Demokratie und Menschenrechte?
Ich glaube, dass wir uns heute in einer tiefen Krise des internationalen Systems der Menschenrechte befinden. Verursacht vor allem durch die Krise im Gazastreifen, aber auch durch den Krieg in der Ukraine. Meiner Meinung nach sind das zwei Dreh- und Angelpunkte. Diese Konflikte und wie sie gelöst werden, werden die nächsten Jahrzehnte prägen. Es ist das Menschenrechtssystem als Ganzes, das auf der Kippe steht. Seine Steuerung, seine Grenzen, das, was getan wird. Das wurde mir bei der Sitzung der UN-Frauenrechtskommission in New York auf beeindruckende Weise klar. Erstens wurden Länder, die die Menschenrechte von Frauen nicht respektieren, mit der Leitung der nächsten Kommission betraut. Zweitens gab es fast keine Debatte zu Palästina oder hier in Amerika, zu Haiti. Oder darüber, dass mehr venezolanische Frauen in der Diaspora leben als Syrerinnen. Diese Versäumnisse zeigen doch deutlich die Lücken des Systems, das die Menschenrechte schützen soll. Und diese spielen derzeit eine wichtige Rolle bei der Frage, welche Richtung die Welt einnimmt oder einschlägt. Ich denke, dass die europäischen und die amerikanischen Linken hier eine besondere Verantwortung haben. Denn offensichtlich sind sie diejenigen, die den internationalen Menschenrechtsschutz besonders im Blick haben. Die Progressiven jener Länder, die sich in der internationalen Politik bewegen, sollten jetzt sehr genau darüber nachdenken, wie es zu dieser tiefen Krise gekommen ist.
Menschen aus unterschiedlichen Lagern misstrauen sich gegenseitig und sprechen zu wenig miteinander. Aber nur die offenen Debatten helfen uns wirklich weiter.
Was würden Sie den folgenden Generationen, die sich für Politik interessieren? Was sollten sie wissen, wenn sie diesen Weg gehen wollen?
Ich denke, in der aktuellen Situation ist das Wichtigste, nicht anzunehmen, dass man gewinnt, nur weil man recht hat. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich kann sehr davon überzeugt sein, dass ich recht habe und trotzdem grandios scheitern – obwohl ich recht habe. Wegen des gegenseitigen Misstrauens zwischen unterschiedlichen Lagern sprechen Menschen häufig zu wenig miteinander. Die kognitiven Verzerrungen, die die Technologie hervorbringt, tun ihr Übriges. Für mich ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir Feministinnen dialogbereit sind.
Wie kann dieser Dialog aussehen?
Wir müssen Alternativen schaffen, um mit der anderen Hälfte der Bevölkerung zu kommunizieren. Denn wenn wir das nicht tun, werden wir, so wie sich die Welt entwickelt, Frauen haben, die zunehmend liberal denken, nicht progressiv links, sondern liberal, und Männer, die zunehmend reaktionär sind, nicht unbedingt konservativ, aber reaktionär. Das heißt, wenn wir keine Änderung in der feministischen und linken Strategie ansteuern, werden wir weiterhin nur von weiblichen Wählerinnen unterstützt. Und wir werden einen von Männern getragenen Rechtsextremismus haben.
Antonia Orellana ist Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichstellung in der chilenischen Regierung. Sie hat Journalismus studiert, war Mitglied des feministischen Netzwerks Red Chilena contra la violencia hacia las mujeres (Chilenisches Netzwerk gegen Gewalt an Frauen) und Mitglied des Gründungsteams der Partei Convergencia Social von Präsident Gabriel Boric.
Gitte Cullmann ist Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie hat an der Universität Münster studiert. Seit 2020 leitet sie das Internationale Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile (Regionalbüro für Bolivien, Chile and Peru).
Angela Erpel Jara arbeitet als Koordinatorin für Demokratie und Menschenrechte bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile.
* Mitarbeit: Rasmus Randig