Konfliktbezogene sexuelle Gewalt: „Wir brauchen Anerkennung, Sicherheit und Würde“

Interview

Ajna Jusićs Mutter überlebte konfliktbezogene sexuelle Gewalt während des Bosnienkrieges 1992–1995. Ajna ist eines der vielen Kinder, die infolge solcher Kriegsverbrechen geboren wurden. Ihre Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, das Leben und die rechtliche Situation der Betroffenen und ihrer Kinder zu verbessern.

Lesedauer: 15 Minuten
Foto: Eine lächelnde Person mit kurzen blonden Haaren und Brille, frontal abgebildet. Hintergrund unscharf und hell.
Teaser Bild Untertitel
Im März 2023 erhielt Ajna Jusić den „International Women of Courage Award", überreicht von Dr. Jill Biden und Antony Blinken.

Dank dem Engagement von Aktivisten und den Überlebenden gelang es Ajna Jusić und ihrem Verein, das Schweigen über konfliktbezogene sexuelle Gewalt in der Gesellschaft und in der Politik in Bosnien und Herzegowina zu brechen. Das Ergebnis war ein Durchbruch: 2006 formulierte Bosnien und Herzegowina als erstes Land ein Gesetz, das eine eigene Rechtskategorie für Überlebende von Kriegsvergewaltigungen schafft. "Auf dem Papier hat das Land gute Arbeit geleistet, was jedoch fehlt, ist die tatsächliche Umsetzung", sagt Ajna Jusić. 

Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern, Soldaten und Vergewaltigern hält ihre Organisation bis heute für nicht ausreichend. Denn: Die internationale Gemeinschaft habe bisher zwar die strafrechtliche Verfolgung von hochrangigen Militärs unterstützt, bei den Vergewaltigern, die reguläre Soldaten waren, gäbe es jedoch kaum Fortschritte. In verschiedenen Regionen sei zudem eine beunruhigende Leugnung der während des Krieges begangenen Verbrechen zu beobachten. Dies sei auf die widersprüchlichen privaten Interessen von Politikern zurückzuführen, die immer noch Kriegsthemen verwenden und falsche Narrative verbreiten, um ihre korrupten Aktivitäten zu vertuschen.

"Bislang haben nur 1.000 Frauen den Status eines zivilen Kriegsopfers erhalten, was eine äußerst geringe Zahl ist, wenn man bedenkt, dass zwischen 20.000 und 50.000 Frauen vergewaltigt wurden", erklärt Jusić weiter. Ziel ihrer Organisation ist es, den Rechtsstatus und die Rechte der Überlebenden verbessern. Problematisch ist, dass die internationale Gemeinschaft dazu neigt, nur auf eine politische Seite zu zeigen, nämlich auf die Serben, aber auch die kroatischen und bosniakischen Vertreter sind nicht offen für eine professionelle Vergangenheitsbewältigung.


Sie sind Vorsitzende der Organisation „Vergessene Kinder des Krieges“ (Zaboravljena djeca rata), die sich mit sexueller Gewalt während des Bosnienkriegs (1992–1995) befasst. Während dieser Zeit wurden mehr als 100.000 Menschen getötet und etwa 2 Millionen aus dem Land vertrieben – und etwa 20.000 bis 50.000 Menschen, meist Frauen, wurden vergewaltigt. Worin besteht Ihre tägliche Arbeit bei Ihrem Streben nach besseren Rechten für die Opfer?

Ajna Jusić: Unsere Organisation versucht, Daten über Kinder zu sammeln, die infolge sexueller Gewalt in Bosnien und Herzegowina geboren wurden. Es ist eine sehr heterogene Gruppe: Wir haben es mit Kindern von Soldaten der Friedenstruppen zu tun, Kindern, deren Väter während oder nach dem Krieg humanitäre Helfer waren, und wir sammeln auch Daten über Kinder, die infolge von Zwangsheirat und sexueller Ausbeutung geboren wurden. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Verbesserung ihrer rechtlichen und sozialen Sichtbarkeit und damit der Stärkung der Akzeptanz von Kindern, die aus Kriegsvergewaltigungen geboren wurden, mit dem Ziel, Stigmatisierung und Diskriminierung ein Ende zu setzen. 

Eine schwierige Aufgabe. Welche Ziele haben Sie?

Tatsächlich setzen wir uns nicht nur für die Rechte von Kindern ein, die infolge des Kriegs geboren wurden, sondern auch für bessere Rechte für Überlebende und bessere Bedingungen in deren täglichem Leben. Und natürlich drängen wir auf die strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrecher, auch wenn das nur ein kleiner Teil unserer Arbeit ist.

Wie geht die Politik mit der Vergangenheit um? 

Dank Aktivist*innen und dem Engagement von Überlebenden ist es uns gelungen, das Schweigen in der Gesellschaft und in der Politik zu brechen. Das Ergebnis war ein Durchbruch: 2006 erließ Bosnien und Herzegowina als erstes Land ein Gesetz, das eine eigene Rechtskategorie für Überlebende von Kriegsvergewaltigungen geschaffen hat. Auf dem Papier hat das Land gute Arbeit geleistet, wir haben wirklich überzeugende Gesetze in dieser Hinsicht. Was jedoch fehlt, ist die Umsetzung in der Praxis. Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem Überlebende nicht diskriminiert oder als mitschuldig angesehen werden, weil sie im Krieg vergewaltigt wurden.

Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem Überlebende nicht diskriminiert oder als mitschuldig angesehen werden, weil sie im Krieg vergewaltigt wurden.

Wie steht es um die Täter?

Das ist neben der Umsetzung des Gesetzes ein weiterer problematischer Punkt. Die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, Soldaten und Vergewaltigern ist unzureichend. Tatsächlich wurden wir von der Völkergemeinschaft bei der Verfolgung von hochrangigen Militärs unterstützt. Doch bei Vergewaltigern, die gewöhnliche Soldaten waren, ist es schwieriger. In manchen Regionen werden die Kriegsverbrechen geleugnet, was verstörend und hochproblematisch ist. Grund dafür sind miteinander in Konflikt stehende private Interessen verschiedener Politiker*innen. Zudem nutzen einige davon Themen rund um Kriegstraumata aus, um die Korruption zu verdecken, die sie tagtäglich betreiben. Ihnen ist daran gelegen, irreführende Erzählungen weiterzuverbreiten. Zugleich wird nur eine ethnische Gruppe politisch als Opfer dargestellt, obwohl es unter allen Volksgruppen Opfer gab. Diese Phänomene schaden den Interessen der Überlebenden sehr. 

Wie sehen Sie die Rolle der Völkergemeinschaft? 

Einerseits hat sie wirksam auf einen Wandel gedrängt. Der Druck der Völkergemeinschaft war entscheidend für die legislativen Verbesserungen auf Ebene der Institutionen.1Andererseits konnte sie Politiker*innen und Institutionen nicht dazu bringen, ein nationales Gesetz über zivile Opfer von Kriegsfolter zu schaffen. Dies wäre eine wichtige geschichtliche Lehre für alle ethnischen Gruppen in unserem Land gewesen. Bisher wurden nur 1.000 Frauen als zivile Opfer des Kriegs anerkannt – eine lächerlich niedrige Zahl, wenn man bedenkt, dass 20.000–50.000 Frauen vergewaltigt wurden. Hier gilt es, die rechtliche Stellung und die Rechte der Opfer zu stärken. Problematisch ist, dass die Völkergemeinschaft sich oft nur an eine politische Seite wendet, nämlich die Serb*innen, auch wenn ich nicht sagen würde, dass die anderen beteiligten Gruppen besser wären. Die Vertreter*innen von Kroat*innen und Bosnier*innen sind genauso wenig bereit, die Vergangenheit gründlich aufzuarbeiten. 

An dieser Stelle möchten wir einige Hintergrundinformationen geben, da nicht alle Lesenden mit den historischen Ereignissen vertraut sind: In den 90er-Jahren versuchten Serbien und Kroatien jeweils, die Staaten Großkroatien und Großserbien zu schaffen. Der kroatische Präsident Tudjman und der serbische Präsident Milosevic trafen ein Abkommen über die Teilung von Bosnien und Herzegowina. In der Folge kam es in Bosnien zu einer ethnischen Säuberung und zur Folter, Tötung, Vertreibung und Vergewaltigung von Zivilist*innen. Vergewaltigung wurde dabei systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. In vielen Fällen ermöglichte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) erstmalig die strafrechtliche Verfolgung von sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen. Werden diese Ereignisse im Schulunterricht thematisiert?

Nicht wirklich. Als ich das erste Mal von der Geschichte der Region erfuhr, war ich wütend, dass ich nicht von den Vergewaltigungen und anderen Kriegsverbrechen gewusst hatte. Ich hatte noch nie etwas davon gehört. 

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Chance, zumindest die Mehrheit der Täter strafrechtlich zu belangen? 

Die grundlegende Strategie bei der Strafverfolgung ist von oben nach unten gerichtet. Das Wichtigste, was wir erreichen können, ist ein soziales Umfeld zu schaffen, in dem wir als Gesellschaft verstehen, dass 20.000 bis 50.000 Vergewaltiger unter uns leben. Ein gesundes Zusammenleben ist nicht möglich, solange sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb sprechen wir auch das Thema Sicherheit an. Denn Kinder des Krieges, die sich öffentlich äußern, sprechen nicht über gewöhnliche Menschen, sondern über Kriegsverbrecher, über Vergewaltiger, die weiter frei herumlaufen. Das ist ein Sicherheitsproblem, mit dem die staatlichen Institutionen sich beschäftigen müssen. 

Wie einfach ist es für die Überlebenden, über ihre Erfahrungen aus der Kriegszeit zu sprechen? 

Es ist für sie sehr schwierig. Deshalb will unser Verein helfen. Wir wollen sie unterstützen und stärken. Es ist wichtig, dieses Thema nicht nur in Bosnien sondern in der gesamten Region anzusprechen, denn es ist bekannt, dass jene, die in Bosnien Kriegsverbrechen begangen haben, heute teils in Serbien und Kroatien leben. Wenn die staatlichen Institutionen diese Verbrecher nicht verfolgen, müssen wir als Überlebende Druck machen. Für uns Kinder, die infolge von Kriegsvergewaltigung geboren wurden, heißt das, selbst wenn wir etwas über unsere biologischen Väter, die Vergewaltiger wissen, haben wir die Pflicht und das Recht, ihre strafrechtliche Verfolgung zu fordern.

Wenn die staatlichen Institutionen diese Verbrecher nicht verfolgen, müssen wir als Überlebende Druck machen.

Wie haben Sie reagiert, als sie von der Erfahrung Ihrer Mutter im Krieg erfahren haben?

Ich war damals 15 Jahre alt und in der Pubertät. Ich brauchte diese Informationen über meinen Ursprung nicht, weil ich einen wunderbaren Vater und eine wunderbare Mutter hatte – und habe. Ich hatte eine Familie, in der ich gesund aufwachsen konnte. Aber da es in den staatlichen Dokumenten an Schulen, Universitäten und im öffentlichen Sektor diese Kategorie gibt, in der man den Namen des Vaters angeben muss, beschloss ich, den Namen meines leiblichen Vaters herauszufinden. Es ging nicht um die Suche nach der Wahrheit, sondern nach einer Antwort hinsichtlich der Pflichtangabe in unseren Dokumenten, in denen die Vaterfigur so allgegenwärtig ist. 

Haben Sie Diskriminierung erlebt? 

Tatsächlich wurde ich nie als "Kind des Feindes" diskriminiert. Nein, ich wurde vielmehr diskriminiert, weil ich keinen Vater hatte. Und ich wurde diskriminiert durch die Diskriminierung und Stigmatisierung, der meine Mutter unablässig ausgesetzt war. Nur in sehr wenigen Fällen, in denen Andere von der Vergewaltigung meiner Mutter wussten, hörte ich die Kommentare vom "Kind des Feindes". Auch heute noch sage ich den Namen des Vergewaltigers nicht laut, aus Sicherheitsgründen und weil meine Mutter ihn nicht nennen wollte – und ich respektiere das, weil es ihre Geschichte ist.2

Sie sprachen von der Diskriminierung, die Ihre Mutter und andere Opfer erlebten. In welchen Bereichen kommt diese vor? Können Sie uns Beispiele nennen?

Zuerst einmal haben wir als Land und als Gesellschaft keinerlei Respekt vor Frauen. Wir respektieren den weiblichen Körper und die Freiheit der Frau nicht. Insgesamt existiert in der bosnischen Gesellschaft keine Gleichberechtigung. Das ist die Grundursache. Dazu kommt, dass es immer noch als beschämend angesehen wird, wenn jemand eine Vergewaltigung überlebt hat. Die Frau wird von ihrer Familie verurteilt und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Es heißt dann, sie hätte ihre Würde verloren. Vergewaltigung wird als Schande für die gesamte Familie angesehen. Das gilt auch im Jahr 2024 noch. Die Stimmung ist fast genauso toxisch wie während des Krieges, da immer noch manche Menschen die Glaubwürdigkeit der Aussagen und der Erfahrungen der Frauen anzweifeln. Die Gesellschaft findet immer einen Weg, den Frauen die Schuld zuzuschieben: "Warum war sie so gekleidet? Warum ist sie dorthin gegangen?" Im Falle meiner Mutter ist es sehr bezeichnend, dass die Leute nie nach dem Ursprung ihres Kindes fragen. Im Gegensatz zu breiteren Gesellschaft, die im Allgemeinen eine negative Rolle spielte, war ihre Familie eine große Unterstützung für sie. Und sie ist eine Kämpferin und hat die Herausforderungen in bewundernswerter Weise überstanden. 

Auch Sie sind offensichtlich eine Kämpferin, die fest von ihrer Sache überzeugt ist. In 2023 erhielten Sie den „Peace in Progress Award“ des Internationalen katalanischen Instituts für Frieden (ICIP). Kürzlich wurden Sie bei einer Zeremonie im Weißen Haus von der First Lady, Dr. Jill Biden, und dem Secretary of State, Antony Blinken, ausgezeichnet. Gemeinsam mit Aktivist*innen und Menschenrechtler*innen aus aller Welt wurde Ihnen der „International Women of Courage Award“ verliehen – eine große Ehrung Ihrer Arbeit! Was ist Ihre größte Errungenschaft? 

Das wäre für mich die Verabschiedung des Gesetzes über den Schutz ziviler Kriegsopfer in der Föderation Bosnien und Herzegowina (FBiH).3 Dieses Gesetz soll verhindern, dass die Verbrechen in Vergessenheit geraten. Zudem bedeutet das Gesetz auch für mich persönlich eine gewisse Anerkennung. Ich werde rechtlich als Folge der Kriegsvergewaltigung anerkannt, als eigene Kategorie. Dadurch können wir künftige Generationen besser über uns und unsere Geschichten informieren. Und durch die Anerkennung als rechtliche Kategorie sind wir vor Diskriminierung geschützt. Laut dem Gesetz haben wir nun das Recht auf Gesundheitsversorgung, kostenlose Rechtsberatung, kostenlose psychologische Behandlung sowie Unterstützung für Wohnungs- und Arbeitssuche. Das ist das Beste, was wir erreichen konnten. Jetzt setzen wir uns entschlossen für die Umsetzung des Gesetzes ein.

Was ist hierfür nötig? 

Wir als Organisation haben unsere eigene Strategie: Seit wir in 2018 mit der Umsetzung begonnen haben, setzen wir uns für die Bedürfnisse der Opfer ein. Wir haben einen Raum geschaffen, um über die Probleme, Rechte und Bedürfnisse von Kindern, die im Krieg geboren wurden, zu sprechen. Wir haben einen Dialog zwischen den Volksgruppen angestoßen, weil wir uns als interethnische Organisation begreifen. Wir haben multiethnische Mitglieder, da unsere Mütter Kriegsverbrechen überlebt haben, die von Soldaten unterschiedlicher ethnischer Herkunft begangen wurden. Von Anfang an haben wir Entscheidungsträger*innen, junge Politiker*innen, Bedienstete der Institutionen, Aktivist*innen und Bürger*innen mit einbezogen. Für uns ist klar, dass Bildung oberste Priorität haben muss. Ich bin überzeugt, dass wir bei diesem Thema viel erreichen können, gerade hier in Bosnien und Herzegowina. Wir haben international enormen Einfluss. Unsere Arbeit kann auch als positiver Beitrag für Bosniens Weg zum EU-Beitritt gesehen werden.

Wir haben einen Dialog zwischen den Volksgruppen angestoßen, weil wir uns als interethnische Organisation begreifen.

Auf welchen Grundsätzen beruht Ihre Lobbyarbeit?

Wichtig ist, dass wir mit Politiker*innen aus allen ethnischen Gruppen und Parteien zusammenarbeiten. Wir haben als Organisation keinen ethnischen Schwerpunkt. Für die Zusammenarbeit mit Politiker*innen ist nur ihre institutionelle Rolle relevant, nicht ihre politische Überzeugung, das möchte ich wirklich betonen. Wir sehen uns als ihre Partner*innen, weil wir durch sie unsere Geschichte verbreiten und unsere Ziele erreichen können.

Bosnien und Herzegowina hat ein recht kompliziertes Regierungssystem: Es gibt zwei Entitäten – die Föderation Bosnien und Herzegowina (FBiH) und die Republika Sprska (RS) – mit unterschiedlicher Gesetzgebung. Das Gesetz über den Schutz ziviler Kriegsopfer gilt in der bosniakisch-kroatisch dominierten FBiH und im Brčko-Distrikt, nicht jedoch in der RS, deren politische Führung Kriegsverbrechen vehement leugnet, insbesondere den Völkermord von Srebrenica. Wie passt das mit Ihrer Arbeit zusammen? Wie gehen Sie mit der bestehenden Kultur der Gewalt um? 

Wir haben je nach Region unterschiedliche Strategien. In der Föderation ist unser Ansatz von oben nach unten gerichtet. Zuerst haben wir die Unterstützung der Völkergemeinschaft gewonnen, wir haben uns bei den Vereinten Nationen für die Sache eingesetzt, dann bei der EU, als nächstes wurden wir von mehreren Botschaften unterstützt und schließlich haben wir die lokalen Institutionen erreicht. In der Republika Sprska funktioniert diese Methode jedoch nicht. Um dort Erfolg zu erzielen, müssen wir einen anderen Ansatz finden. Die meisten Überlebenden von Kriegsvergewaltigungen in der RS sind bosniakischer Herkunft, das ist Tatsache. Das machen wir aber nicht zum Schwerpunkt, denn es wäre kontraproduktiv. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die Opfer von Kriegsverbrechen, männlich wie weiblich, insbesondere infolge des Kriegs geborene Kinder, die Hilfe benötigen.

Aktuell wird das Gesetz in der RS blockiert. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt. Das älteste Gesetz ist jenes im Brčko-Distrikt. Es wurde im Juli 2022 verabschiedet, ist aber nicht gut. Es wurde aufgrund des Drucks, den die Völkergemeinschaft ausgeübt hat, beschlossen. Die Anerkennung der Überlebenden des Krieges im Brčko-Distrikt ist aber eher symbolisch und bringt keine gesonderten Rechte mit sich. Deshalb fordern wir weitere gesetzliche Verbesserungen im Brčko-Distrikt. Wir haben es tatsächlich mit vollkommen verschiedenen Systemen zu tun. Mein Rat für die Zukunft ist, dass wir uns intensiver mit dem positiven Einfluss der Überlebenden auf die Gesellschaft befassen und diesen nutzen sollten. Ihre Perspektive ist am wichtigsten für unsere Arbeit. 

Sie gehen sehr strategisch vor und erreichen mehr als andere politische Akteur*innen. Können Sie sich vorstellen, eines Tages in die Politik zu gehen?

Unsere Organisation gibt es jetzt seit neun Jahren. Im Moment ist das keine Option. Wir konzentrieren uns auf unsere Geschichte und unsere Botschaft. Wir Überlebende stehen in engem Kontakt und wollen in unserem Land die Bande zwischen den ethnischen Gruppen stärken. Wichtig ist, dass die Gesellschaft, die Politik und die Bürger*innen unser Trauma und unsere Erfahrungen gesetzlich anerkennen. Zudem brauchen wir Menschenrechte und Würde, Geld, Sicherheit und eine Kultur frei von Gewalt. Das sind unsere Hauptziele für BiH und wir geben alles, um sie zu erreichen.

Parallel dazu unterstützen Sie auch Überlebende aus Guatemala, Uganda und der Ukraine. Welche Rolle spielen Sie in diesem Kontext? 

Meistens tauschen wir uns mit Einzelpersonen und Organisationen aus, mal kommen sie zu uns, mal wir zu ihnen. Dabei geht es vor allem darum, aus guten wie schlechten Vorgehensweisen zu lernen. Wir vertreten unsere Arbeit und insbesondere unsere Errungenschaften. Die größte Herausforderung ist, zu verhindern, dass Überlebende drei Jahrzehnte lang unsichtbar bleiben, wie es hier nach dem Bosnienkrieg geschehen ist. 

Deshalb bestehen wir auf Dokumentation und professioneller Methodologie. Wir drängen die Politiker*innen, jemanden aus den eigenen Reihen öffentlich über die Verbrechen sprechen zu lassen. Dabei hilft es immer, wenn ein Mann sich zu diesem heiklen Thema äußert. 

Wie leisten Sie konkret Unterstützung? 

Wir bringen Aktivist*innen und Organisationen in Guatemala, Uganda und der Ukraine bei, wie sie die Verbrechen dokumentieren können. Das ist von größter Bedeutung, um die Probleme zu vermeiden, die viele Überlebende sexueller Gewalt und infolge des Kriegs geborene Kinder in Bosnien haben, weil die Dokumentation damals nicht korrekt gemacht wurde. Erst mehr als 20 Jahre nach Kriegsende haben wir uns gründlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Das war aber viel zu spät. Gegenüber den Partner*innen in Uganda und der Ukraine betonen wir, wie wichtig es ist, die Verbrechen schnell zu dokumentieren. Wir geben ihnen auch Ratschläge über wirksame und professionelle Ansätze zur Lobbyarbeit. Wir hatten schon ein Podiumsgespräch mit der First Lady der Ukraine, Olena Zelenska, in dem es um die größten Herausforderungen bei der Verbesserung der Situation der Betroffenen und ihrer rechtlichen Stellung ging.

Im Fall der Ukraine handelt es sich Kleinkinder, die infolge von Vergewaltigungen nach 2022 geboren wurden, und Kinder im Alter von 8–9 Jahren, die infolge von Vergewaltigungen nach der Besetzung der Krim 2014 geboren wurden. Unser internationales Engagement zielt im Wesentlichen darauf ab, die internationale Lücke in dieser Hinsicht zu schließen. Wir versammeln Unterstützer*innen und versuchen, die verschiedenen Regierungen dazu zu bringen, die Lage der Opfer zu verbessern. Das ist nicht nur ein bosnisches Problem, sondern ein Thema von großer Relevanz für die ganze Welt.


Dieses Interview wurde im August 2024 von der Politikwissenschaftlerin, Autorin und Analystin Marion Kraske geführt.

Fußnoten
  • 1

    Der Staat Bosnien und Herzegowina umfasst zwei Entitäten: die Föderation von Bosnien und Herzegowina (BiH) und die Republika Sprska (RS). Hinzu kommt der multiethnische Brčko-Distrikt, ein Sonderverwaltungsgebiet, das offiziell zu beiden Entitäten gehört. 

  • 2

    Er gehörte zur kroatischen HVO-Armee (Hrvatsko vijeće obrane)

  • 3

    Die Föderation BiH, eine der beiden Entitäten des Staats Bosnien und Herzegowina, besteht aus zehn Kantonen mit mehrheitlich bosniakischer oder kroatischer Bevölkerung.