Überschreitungen

Kommentar

Wo Forderungen in der Migrationsdebatte nach Solingen Rechtstaatlichkeit untergraben und warum Lösungen jetzt sachlich und praxisnah debattiert werden sollten.

Foto: Menschenmenge bei der Andacht auf dem Neumarkt in Solingen, einige mit gesenkten Köpfen. Auf einer Bühne spricht eine Person, im Hintergrund ist ein Bild einer Kerze.
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Bürger*innen nehmen an einer Andacht auf dem Neumarkt in Gedenken an die Opfer der Messerattacke auf dem Solinger Stadtfest teil.

Nicht erst seit der schrecklichen Tat in Solingen vom 23. August 2024 breitet sich ein Diskurs zur Migrationspolitik aus, der Ängste schürt, Begriffe der Härte ins Zentrum stellt und eine Ordnungsmacht suggeriert, die wissentlich so nicht umsetzbar ist. Doch in den Vorstößen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und den vielfachen Flankierungen der letzten Tage liegt eine Zäsur, welche unsere Demokratie ins Mark trifft und auf das Schärfste zurückzuweisen ist.

„Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf“, schrieb Merz in seinem Online-Rundbrief am Sonntag (25. August) und kündigte darüber hinaus an, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zurückdrehen zu wollen. Nach dem Besuch im Kanzleramt suchte Merz auf der großen Bühne der Bundespressekonferenz die maximale Aufmerksamkeit. Nicht nur die Ampel wollte er aus den Angeln heben und mit der SPD gemeinsam und an den Koalitionspartnern vorbei die „Neuausrichtung der Migrationspolitik“ in die Hände nehmen; seine Vorschläge gehen an Rechtsstaatlichkeit vorbei und mit einer Notlage-Erklärung will er „im Zweifel“ auch europäisches Regelwerk aushebeln, um Deutschland abzuschotten. Jens Spahn sekundierte bei „Lanz“ und erklärte, „die Europäische Union“ sei „immer noch ein Verbund nationaler, souveräner Staaten und am Ende des Tages“ müsse „das auch in unserem Interesse funktionieren“. Er riet, „den Notknopf“ zu drücken „für dieses System und nochmal von vorne an(zu)fangen“.

Was im Grundgesetz steht

Das geht weit über das bisherige Zündeln in der Migrationsdebatte hinaus. Markige Sprüche sind das eine und die muss eine Demokratie wohl insbesondere von der Opposition aushalten. Aber in Zeiten, in denen die als verfassungsfeindlich eingestufte Rechte Umstürze und Massendeportationen plant, erscheint es mehr als verantwortungslos, Systemfragen zu stellen und mit der inneren Sicherheit zu verbinden. Das wird auch den Kanzler bewegt haben, als er am Tag nach dem Treffen mit Merz betonte, „das Individualrecht auf Asyl bleibt erhalten. Das steht im Grundgesetz. Und das wird niemand mit meiner Unterstützung infrage stellen.“ 

Das Ordnungshüter-Gebaren ist Gift für eine sachliche Debatte um Lösungen und Verbesserungen im nationalen wie im europäischen Rahmen. Und es spielt den Rechtspopulisten in die Hände.  

Themenstränge auseinanderhalten 

Für eine sachliche Debatte müssen zunächst einmal die verschiedenen Themenstränge auseinandergehalten werden. Geht es in der Debatte um die irreguläre Migration und wie Menschen nach Deutschland gelangen, um Grenzkontrollen und Aufenthaltsregelungen? Oder geht es um das individuelle Recht auf Asyl, die Prüfung und deren Kehrseite, nämlich die Aufforderung zur Ausreise bzw. Abschiebungen? Geht es um Gesetze oder um deren mangelhafte Umsetzung? Noch komplizierter wird es, wenn sich die Debatten auf Volksgruppen unter den Migrant*innen oder gleich den Islam einschießen und dabei die Integrationsfrage mit allem anderen vermengen.

Bekannt ist, dass der mutmaßliche Täter Issa al H. aus Syrien stammt und über die Türkei, Bulgarien und Österreich nach Deutschland Ende 2022 eingereist ist und infolge dessen einen Asylantrag gestellt hatte. Die Behörden erkannten, dass in seinem Fall die europäische Dublin-Regelung Geltung hat und Bulgarien für das Asylverfahren zuständig ist. Alles Weitere ist eine komplizierte Geschichte: Im Juni 2023 sollte der Zugriff in der Notunterkunft erfolgen, um Al H. nach Düsseldorf zu bringen, von wo der Abflug nach Sofia geplant war. Doch Al H. war zu nächtlicher Stunde nicht anzutreffen. Worauf eine Kette von Fehlern und Unterlassungen folgte, wie sie überall in Deutschland jahrein, jahraus geschehen. Wie schwierig Abschiebungen in andere europäische Länder oder gar in die Herkunftsländer sind, zeigt sich in allen Bundesländern - übrigens auch jenen, in denen die CDU Verantwortung trägt.   

Komplexe Themen brauchen eine sachliche Debatte

Ob das eiligst geschnürte Maßnahmenpaket, das im Rekordtempo in der Ampel verhandelt und nur sechs Tage nach dem Anschlag vorgestellt wurde, terroristische Angriffe verhindert oder migrationspolitisch die Lösung ist, scheint zunächst zweifelhaft.  

Einiges sieht nach Verbesserungsmöglichkeit aus, wie das Messerverbot, anderes soll wohl der Abschreckung von Migrant*innen dienen, wie die Streichung von Sozialleistungen für sogenannte „Dublin-Fälle“. Das sind Asylantragsteller, die zuerst in ein anderes europäisches Land eingereist waren, welches daher zunächst für das Verfahren zuständig ist. Ob eine solche Leistungskürzung abschreckend wirkt, ist fraglich, denn die Dublin-Regel birgt eine Frist von sechs Monaten und ist schwer umzusetzen. Nach sechs Monaten nicht vollzogener Abschiebung nämlich geht der Fall an die deutschen Behörden und die Sozialleistungen setzen wieder ein. Mehr Härte gegen Einzelne also in einem nicht funktionierenden Regelwerk: Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres stellten die Behörden in 43.000 Fällen fest, dass ein anderes europäisches Land für das Asylverfahren zuständig wäre und stellten Überstellungsanträge. Lediglich 3.500 solcher Überstellungen wurden dann tatsächlich vollzogen. Auch ob die angekündigte „Dublin Task Force“ an den Gründen dafür rütteln kann, ist fraglich. Europäische Partner verweigern sich nämlich oftmals einer Rücküberführung. Und auch bei Einigung sorgen Auflagen zu Flugzeiten und -zielen für hohe Hürden. Überhaupt gibt es zu wenig Flüge und die Bundespolizei ist für Abschiebungen schlecht ausgebildet und wenig ausgerüstet, Ausländerbehörden sind unterbesetzt, es gibt zu wenig Unterbringungsplätze usw. usw.

Natürlich ist über verstärkte Abschiebungen von sogenannten Gefährdern nachzudenken. Zumindest solange dabei klar ist, dass Rechte gelten, die zugegebenermaßen oftmals enge Grenzen setzen. Zu einer sachlichen Diskussion um Lösungen gehört aber eine Bestandsaufnahme der Problemstellungen und letztlich auch die Frage, ob das Problem wirklich gelöst ist, wenn ein „Gefährder“ einem anderen Land überstellt wird (im Fall von Issa al H. Bulgarien). Ganz zu schweigen von den Problematiken der Abschiebung nach Syrien oder Afghanistan. All diese Punkte sind komplex und bedürfen einer weitaus sachlicheren Diskussion auch zwischen Bund und Ländern. 

Demokratische Werte und Rechte schützen

Was hilft gegen terroristische Gefahr? Kein Generalverdacht gegen Menschen aus bestimmten Ländern, kein Rassismus und schon gar keine Aushebelung der Rechtstaatlichkeit.

Der Standardsatz von Innenministern und Innenministerinnen, dass es „keine hundertprozentige Sicherheit geben“ könne, ist, so schrecklich das im Angesicht von Solingen klingt, leider wahr. Das gilt nicht nur in Deutschland. In Frankreich wurde kurz vor dem Anschlag in Solingen ein Anschlag auf Gläubige in einer Synagoge verübt. Wir diskutieren ein Terrorismus- oder Gewaltproblem und vermischen es populistisch mit der Debatte um Migration, die sich an anderer Stelle ganz praktisch etwa mit der Notwendigkeit von Fachkräfteeinwanderung beschäftigt. 

Ängste zu schüren mit politischen Parolen wie „Kontrollverlust“ oder medialen Behauptungen, dass die „innere Sicherheit implodiere“ oder Deutschland „unter mentalem Dauerstress“ stehe (NZZ), sind billiges Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und untergraben die liberale Gesellschaft. Die sollte mehr auf sich vertrauen und die Vielfalt, die in diesem Land herrscht, nutzen, um demokratische Werte zu stärken und vor allem Rechte gelten zu lassen.