Argentinien: Kehrtwende bei der Erinnerungskultur unter Javier Milei

Kommentar

Die seit November 2023 bestehende Regierung Argentiniens führt einen Kampf gegen die von vorherigen Bündnissen etablierte Leitlinie "Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit." Außerdem baut die rechte Allianz den argentinischen Wohlfahrtsstaat schrittweise ab. 

Lesedauer: 7 Minuten
Demonstration in Argentinien
Teaser Bild Untertitel
Massive Mobilisierung am nationalen Gedenktag, für Wahrheit und Gerechtigkeit. 24. März 2024

Dieser Artikel wurde von Autor*innen des CELS-Kollektivs verfasst.

Javier Milei und Victoria Villarruel, das Kandidatenduo der rechten Wahlallianz der La Libertad Avanza konnte dank der Unterstützung durch das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio nach dem Sieg bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen im November 2023 eine neue Regierung aufstellen. Ihre Politik markiert allerdings eine Zäsur auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Einerseits bedeutet sie eine Abkehr vom Leitmotiv „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ bei der Vergangenheitsbewältigung und andererseits einen massiven Angriff auf den argentinischen Wohlfahrtsstaat, der – trotz seines schrittweisen Abbaus – innerhalb der Region aufgrund seiner weitreichenden staatlichen Leistungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit noch immer eine herausragende Rolle einnimmt. 

Das Ende der integralen Vergangenheitsaufarbeitung

Nach 1983 sollten in Argentinien die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während der letzten Diktatur (1976–1983) begangen wurden, aufgearbeitet werden. Dieser Prozess entwickelte sich zu einem herausragenden Beispiel integraler Aufarbeitung. Dank einer ganzen Reihe von Maßnahmen wurden nicht nur die Verantwortlichen für die massiven Verbrechen während der Diktatur angeklagt und zur Rechenschaft gezogen, sondern auch Archive von Militär und Sicherheitsdiensten freigegeben und offengelegt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Staatsterrorismus wurde in die Lehrpläne integriert, Wiedergutmachungszahlungen an die Opfer geleistet, es wurde nach jenen Kleinkindern gesucht, die während der Diktatur ihren Eltern geraubt worden waren, und nicht zuletzt wurden auch ehemalige Repressionsstätten zu Orten der Erinnerung umgewidmet. 

Mit einer faktischen Kehrtwende vertritt nun die neue Regierung eine Kultur der Verachtung gegenüber dem Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie nimmt damit eine Position ein, die diametral gegenüber all dem das während der Demokratie von verschiedenen Regierungen und unter Mitwirkung aller staatlichen Organe aufgebaut worden war, steht. Die bisherigen Ansätze werden nun durch verschiedenen Maßnahmen beschnitten: die allgemeine Kürzung staatlicher Mittel, die gezielte Streichung bestehender Finanzierungen sowie eine politisch motivierte Aushöhlung der bestehenden Strukturen der Erinnerungsarbeit. 

Angeblicher Betrug durch Menschenrechtsorganisationen

Die aktuelle Vizepräsidentin Villarruel ist Tochter und Enkelin von Militärs. Ihr Vater war zu Diktaturzeiten im aktiven Dienst. Sie legt den Fokus ihrer politischen Arbeit auf die Verteidigung jener, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind. Dadurch, dass sie das Agieren des Militärs nach dem Putsch verteidigt, wertet sie den Kampf derjenigen ab, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Darüber hinaus prangern nicht nur Milei und seine Vizepräsidentin, sondern auch die Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, sowie weitere Regierungsmitglieder die Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Akt der Schikane und Demütigung gegenüber der Armee an. Die Erinnerungspolitik und die Menschenrechtserziehung werden als Indoktrinierung angesehen, die Wiedergutmachungszahlungen als „Betrug“ durch Menschenrechtsorganisationen und Opferverbände diffamiert. Die Offenlegung der militärischen Archive wird als „parastaatliches Handeln“ missbilligt. Je nach Situation ist diese politische Strömung bestrebt, das Agieren des Militärs während der Diktatur zu leugnen, zu rechtfertigen oder sogar zu verteidigen. Drohungen gegenüber Menschenrechtsverteidiger*innen werden dadurch befeuert und staatliche Gewalt in der Gegenwart legitimiert. Diese Botschaft entfaltet – ob in den sozialen Medien oder in offiziellen Staatsakten – eine Wirkung, die über die Regierungspolitik hinausgeht: So nimmt beispielsweise die Zahl geschändeter Erinnerungsstätten zu. Es fand sogar – mit Einverständnis des Verteidigungsministeriums – eine Veranstaltung von Militärs im Ruhestand in der berühmten Escuela de Mecánica de la Armada zur Würdigung statt. Die Schule diente während der Diktatur als geheimes Folterzentrum.

Die Bandbreite der Anliegen, die von der derzeitigen Regierung abgelehnt und verunglimpft werden, ist jedoch sehr viel größer. Die politischen Strömungen, aus denen die Regierung hervorgegangen ist, sind heterogen und verfolgen teils auch konträre Ziele. Doch in einem Punkt sind sie sich einig: sie lehnen die feministische Bewegung, soziale und gewerkschaftliche Gruppierungen, die LGBTIQ+-Community, Umweltschützer*innen, ebenso wie antirassistische und die Forderungen indigener Gemeinschaften auf argentinischem Staatsgebiet ab.

Die Ultrarechte (wie zuvor auch in Brasilien und in den USA) brandmarkt den Kampf für Menschenrechte und ihre Errungenschaften als Teil eines globalen Problems mit lokalen Auswüchsen. Ihre Regierung sei angetreten um die Dinge wieder in die richtigen Bahnen zu leiten. Entsprechend setzen sie auf einen Abbau sozialer Sicherungssysteme, da sie der Ansicht sind, der Markt könne die vorhandenen Ressourcen effizienter – und ihrer Meinung nach auch gerechter – verteilen. 

Mögliche Erklärungen für den Stimmenzuwachs rechter Kräfte

Es ist schwer, eine konkrete Ursache für den Zulauf derartiger Bewegungen in Argentinien und international auszumachen. Möglich ist, dass progressive oder Mitte-Links-Regierungen nicht mehr fähig sind nützliche Antworten auf Forderungen zu finden, die mit den Sorgen des Alltags und den Lebensentwürfen der Menschen verbunden sind. Diese Forderungen und der Unmut – von den pandemiebedingten sozialen und generationsübergreifenden Erfahrungen geschürt – führten zu der Reaktion rechte Parteien zu wählen. Eine neu aufkommende globale Bewegung äußerst reaktionärer Akteure schloss sich auf sehr pragmatische und effiziente Weise mit Vertreter*innen eines althergebrachten Konservatismus zusammen. Diese trauert den vergangenen Zeiten nach, als noch die alte militärische „Ordnung“ herrschte, das traditionelle Familienmodell nicht in Frage gestellt wurde und die „großen Verlierer“ der neokolonialen Modelle, die dieses Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten, zum Schweigen verdammt waren: Indigene, Arme, Arbeiter*innen und die Massen auf dem Land, die sich fernab der kosmopolitischen Elite in Buenos Aires befanden. Das sind die stets mit Macht an die Oberfläche drängenden Koordinaten von Mileis historischen Bezügen auf eine vorgeblich glorreiche Vergangenheit Argentiniens: unsere südamerikanische Variante der Trumpschen „Make America Great Again“-Vision.

Das rechtslibertäre Experiment und ihre Entwicklung in Argentinien wird aufmerksam durch die internationale Gemeinschaft beobachtet.   Ein Erfolg dieses Projekts könnte zu einer stärkeren Radikalisierung und Wiederwahl ultrarechter Regierung nach der ersten Legislatur führen. Die argentinische Rechte ist vermeintlich Teil einer transnationalen Allianz „zur Verteidigung des Westens“, in denen die Vereinigten Staaten und Israel wichtige Bezugspunkte sind, aber auch mit wichtigen Verbündeten in Europa, insbesondere der spanischen und ungarischen Rechten. 

spanische Schrift auf einer Wand. Übersetzung: "Es sind 30.000 und sie sind präsent."
Spanischer Schriftzug auf einer Wand: Es sind 30.000 und sie sind präsent.

Zunehmende Repression gegenüber Demonstrant*innen

Die Diktatur und damalige Staatsgewalt wird aktiv verteidigt um heutige Positionen in Sicherheits- und Verteidigungsfragen rechtfertigen zu können. Die Polizei ist neuerdings befugt hochgiftige Gase gegen jede Person, die im Rahmen von Demonstrationen Straßen blockiert, einzusetzen. Dadurch wird zum einen die Repression verstärkt und zum anderen aktiv der Zivilgesellschaft gedroht.  Die Regierung ging in den ersten sechs Monaten ihrer Amtszeit repressiv gegenüber sozialen Bewegungen, entlassenen Staatsangestellten, Rentner*innen, Mitgliedern linker oder peronistischer Parteien bis hin zu Menschen, die sich gegen die von der Regierung veranlassten Streichungen im Kulturbereich einsetzten, vor. Kürzlich sandte die Zentralregierung nationale polizeiliche Verstärkung in die Provinz Misiones, wo Lehrer*innen und Polizist*innen für höhere Gehälter demonstrierten, da ihr bisheriger Verdienst unter der Armutsgrenze lag.

Auf jeder einzelnen dieser Demonstrationen sind Mitglieder der Presse bzw. Journalist*innen, die über die Demonstrationen berichteten, durch die Polizei schwer verletzt worden. Dieses Vorgehen ist Teil einer umfangreicheren Strategie zur Einschränkung der Pressefreiheit und des Rechts der Bürger*innen auf Information. Die staatliche Nachrichtenagentur Télam, die vielen Themen aus den Provinzen landesweit Gehör verschaffte, wurde in diesem Zuge auch geschlossen. Über die Demonstration in der Provinz Misiones konnte daraufhin fast ausschließlich in unabhängigen Medien berichtet oder mittels Aufnahmen der Demonstrierenden publik werden.

Milei kommt nach Deutschland 

Im Juni ist nun ein Staatsbesuch des argentinischen Präsidenten in Deutschland geplant. Den Höhepunkt seiner Reise stellt die Verleihung einer Medaille durch die Hayek-Stiftung dar, die ihn damit als einen der treuesten Verfechter der Österreichischen Schule ehrt, da er einen extremen Individualismus mit einem blinden Vertrauen in die regulierende Macht des Marktes verbindet. Seit seinem Amtsantritt leben 55,5 % der argentinischen Bevölkerung in Armut, 17,5 % in extremer Armut. Während die soziale Absicherung Einschnitte erfährt und ihre Reichweite nicht mehr ausreicht, treibt die Regierung gleichzeitig Steuersenkungen für die reichsten Teile der Gesellschaft voran. So wie die Dinge stehen, ist die Anwendung der Doktrin von Mises und Hayek nichts weiter als blanke Grausamkeit. Es liegt nun an der internationalen Gemeinschaft, auf diesen Mangel an Empathie aufmerksam zu machen.


Übersetzung: Sebastian Landsberger und Bettina Hoyer (für lingua•trans•fair)