Eine Region aufklären – Zum Tode des Gründers von Memorial Perm, Alexander Kalikh

Nachruf

Alexander Kalikh war in Russland ein bewundernswerter Kämpfer für Menschenrechte und Gedenkarbeit. Seiner Organisation Memorial Perm gelang es, den GULag-Opfern eine Stimme und sozialen Ort zu geben. Ein Nachruf für einen geschätzten Freund und Kollegen.

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Porträt Alexander Kalukh, ca. 1993
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Porträt von Alexander Kalikh, ca. 1993

Alexander Kalikh, Gründer und langjährigen Direktor von Memorial Perm, ist am 11. Mai nach langer Krankheit in Alufa, Israel, verstorben. Gemeinsam mit vielen anderen trauern wir um diesen mutigen und inspirierenden Kollegen und warmherzigen Freund. Wir wollen diesen traurigen Tag zum Anlass nehmen, den engagierten Weg von Kalikh nachzuzeichnen.



Alexander Kalikh hatte seit Ende der 80er Jahre dazu beigetragen, auf ihre Weise einer ganzen Region in eine andere Zeit zu verhelfen. 1988 von Kalikh und seinen Mitstreiter*innen gegründet, zählte die Organisation Memorial Perm in den 90er Jahren viele Tausend Mitglieder. Damals hatte die Sowjetunion bzw. später Russland noch den Willen, die Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung der eigenen Diktaturgeschichte zu leisten. Dahinter stand die Einsicht, dass dies ein schwieriger, aber unabdingbarer Bestandteil der allseits proklamierten Demokratisierung im Land war.

Eine vom GULag-System geschundene Stadt hofft auf Ausgleich

Gerade in der Millionenstadt Perm am Ural – 1940 bis 1957 trug sie den Namen„Molotow“ nach Stalins damaligem Regierungschef und Außenminister – gab es viel aufzuarbeiten. Perm war von den Fesseln des sowjetischen Regimes besonders betroffen gewesen: Als Rüstungsmetropole war sie bis zur Perestroika eine „geschlossene Stadt“, unzugänglich für nicht ortsansässige Menschen. Rings um die Stadt befanden sich zahlreiche Arbeits- und Straflager des GULag-Systems, darunter die berüchtigten Lager für politische Gefangene: Perm 35, 36 und 37.

Alexander Kalikh - 1993 bei einer Konferenz zur Aufarbeitung der Geschichte des Ortes im Straflager Perm35 im Kreis von anderen Teilnehmer*innen und den Mitarbeitern des noch bestehenden Straflagers.
Alexander Kalikh 1993 bei einer Konferenz zur Aufarbeitung der Geschichte des Ortes im Straflager Perm35 im Kreis von anderen Teilnehmer*innen und den Mitarbeitern des noch bestehenden Straflagers.

Viele der ehemaligen Häftlinge mit ihren Familien nach der Haft in der Region. Nach dem Ende des Systems von Straf- und Arbeitslagern hofften sie darauf, dass die Menschenrechtsverbrechen bekannt und dokumentiert würden, dass sie selbst Ausgleich und Anerkennung für das erlittene Unrecht erhalten sowie miteinander in Kontakt stehen würden. Eine ganze soziale Schicht ehemaliger Lagerinsassen samt ihrer Angehörigen war entstanden.

Memorial Perm gab den GULag-Opfern eine Stimme

Es waren schließlich der 1941 im ukrainischen Kherson geborene Alexander Kalikh und seine Frau Irina Kizilowa, die diese Menschen zusammenbrachten. Beide arbeiteten als Journalisten in Perm und schafften es, den Betroffenen einen sozialen Ort und eine politische Stimme zu geben – mit weithin sichtbarem Erfolg.



Bis in die 2000er Jahre hinein galt Perm für viele Menschen in Russland als die „zivilgesellschaftliche Hauptstadt“ des Landes. Mehrere große NGOs und Bündnisse von Menschen- und Bürgerrechtler:innen waren dort aktiv – und die damals eher liberale Führung verstand die Geschichte der Region als wichtig für das Selbstverständnis der eigenen Bevölkerung. Memorial Perm spielte dafür eine Schlüsselrolle.



Kalikh zufolge war das gelungen durch viel Kommunikation mit den Behörden vor Ort, Absprachen und stetige Bemühungen, gemeinsame Themen zu finden. Hinzu kam eine eher zurückhaltende, auf große Bevölkerungskreise ausgerichtete Gedenkarbeit, die zuweilen durchaus bewusst auf Konfrontation verzichtete. Sowohl die Stärken als auch die Anfechtbarkeit dieser Strategie sah er sehr klar und dachte viel darüber nach.

Ein neuer Raum für Menschenrechte und Geschichtsaufarbeitung

Fakt ist, dass es dieser Weg ermöglichte, in Perm einen Rat für Menschenrechte zu etablieren und Memorial-Themen und Geschichten erfolgreich zu verbreiten – durch große Festivals, die Nutzung städtischer Räume und Theater und die Zusammenarbeit mit Liedermachern und Schauspielern.

Den Kalikhs gelang es so, viele Menschen zu erreichen und die Stimmung in der Region merklich mitzuprägen. Im früheren politischen Straflager Perm36 konnten sie mit Kolleg:innen ein zivilgesellschaftliches GULag-Museum einrichten. Jeden Sommer fuhren Tausende aus ganz Russland dorthin zum Festival Pilorama, wie zu einem Wallfahrtsort, wo das Gewünschte schon – oder noch – möglich war. Dort berieten die Menschen über die Lage der Zivilgesellschaft, diskutierten kritisch über das sich ausbreitende autoritäre System Wladimir Putins, hörten Konzerte, trafen sich im Zeltlager, um wieder einmal die Kraft ihrer Gemeinsamkeit zu spüren.



Als es dafür noch gar kein Gesetz in Russland gab, setzte Memorial Perm in der Region sogar den Pilotversuch für einen alternativen Zivildienst anstelle des bis dahin fast unausweichlichen Wehrdienstes durch. Im Jahr 2004 – damals wurde die Remilitarisierung im Land noch nicht so totalitär wie heute betrieben –, beschloss die Staatsduma in Moskau sogar ein Zivildienstgesetz. Das war ein riesiger Fortschritt, selbst wenn es die Möglichkeiten für Kriegsdienstverweigerer und ihre Aufnahmestellen in engen Grenzen hielt.

Perm unter Putin: Das Ende von Russlands „zivilgesellschaftliche Hauptstadt“

Doch nach Putins konfrontativer Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 änderte sich die Lage in Perm. Putin tauschte den Gouverneur von Perm aus – und die politischen Koordinaten. Von nun an wurde Perm, ebenso wie der Nordkaukasus, zu einer Vorhut im Roll-back: Memorial Perm wurde verfolgt, das Museum Perm36 gewaltsam vom Sicherheitsapparat übernommen, eine Patriotismus-Kampagne folgte auf die nächste, an Theatern und Museen wurden liberale Direktor:innen entlassen. Was dem Land an inneren Repressionen drohte, war schon damals in

Perm erlebbar.



Alexander Kalikh verstand, dass es nun wichtiger denn je sein würde, die Erfahrungen aus Dissidentenbewegung und zivilem Widerstand zu vermitteln. Er arbeitete, soweit möglich, die Archive und Sammlungen auf und versuchte, sie zu schützen. Und er übergab die Arbeit von Memorial Perm an die nächste Generation: an ein Team um den Historiker und Aktivisten Robert Latypov. Dieser hatte zuvor schon über Jahre Geschichtsbildung für Jugendliche organisiert, darunter Kanuexpeditionen in den Ural für Student:innen aus dem In- und Ausland unter dem Titel „Auf den Flüssen der Erinnerung“. Dort pflegte das Team die ehemaligen GULag-Stätten, als kleine Gedenkorte, oft mitten in Wald und Sumpf.

Liquidiert, aber nicht vergessen

Anfang 2022, kurz vor Beginn des Großangriffs gegen die Ukraine, wurde Memorial Perm schließlich als Teil von Memorial International vom Obersten Gericht liquidiert. Da befanden sich der inzwischen schwer erkrankte Alexander Kalikh und seine Frau schon in Israel. Das dortige Gesundheitswesen ermöglichte Kalikh noch einige Jahre ein sinnerfülltes Leben – nach Jahrzehnten des Engagements für die Sinnfindung der eigenen Gesellschaft durch Geschichtsaufarbeitung und -verständnis.



Mit dem Abschied von Alexander Kalikh verlieren wir einen großherzigen Menschen, der leise war und doch Gehör bekam. Wir verlieren auch eine wichtige Brücke – in die Vergangenheit wie in die Zukunft in einer freieren Gesellschaft. Diese wird auf Menschen wie Kalikh beruhen, die Gewissen und Furchtlosigkeit besitzen und auch dann handeln, wenn die Umstände kaum kurzfristige Erfolge verheißen.



Alexander Kalikhs ukrainische Geburtsstadt Kherson liegt heute direkt an der Front, fast täglich beschossen. Noch vor drei Wochen schrieb sein Sohn Andrey über seinen Vater: Sobald die jetzige Diktatur und ihr Krieg gegen die Ukraine besiegt sind, würden sie zusammen in seine Heimatstadt fahren und feiern. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Doch die Aufgabe bleibt – die Freiheit in der Ukraine zu schützen und die in Russland zurückzugewinnen.